Kindergeld | Anspruch bei Wohnsitz der Eltern in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten (BFH)
Ein Zusammentreffen von Leistungsansprüchen i.S. des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 ist nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil der im Inland lebende Elternteil nach Art. 11 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 dem deutschen Recht unterliegt, wenn der andere Elternteil unter die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats fällt, dort aber selbst keinen Familienleistungsanspruch hat. Nach der gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 anzuwendenden Familienbetrachtung ist nicht nur zu fingieren, dass der im Inland wohnende Elternteil auch im Wohnsitz-Mitgliedstaat des anderen Elternteils wohnt, sondern auch, dass er unter die Rechtsvorschriften des betreffenden anderen Mitgliedstaats fällt. Es ist daher auch zu prüfen, ob der im Inland lebende Elternteil die Anspruchsvoraussetzungen im anderen Mitgliedstaat erfüllt und deshalb eine Anspruchskonkurrenz besteht (; veröffentlicht am ).
Sachverhalt: Streitig ist, ob in Fällen einer sog. Wohnsitz-Wohnsitz-Konstellation ein Anspruch auf deutsches Kindergeld als Unterschiedsbetrag (ggf. in voller Höhe) besteht, wenn das Kind in dem anderen EU-Staat wohnt: Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige. Im Streitzeitraum (streitig ist der Kindergeldanspruch für die Monate Dezember 2010 bis August 2011 sowie September bis Oktober 2012) wohnte sie im Inland. Sie ist die Mutter der im Mai 1991 geborenen Tochter J. Der polnische Kindesvater wohnt in Polen. Von ihm ist die Klägerin seit Januar 2006 geschieden. Im Scheidungsurteil wurde das Sorgerecht der Klägerin zugeteilt.
Ab November 2005 war die Klägerin in Deutschland selbständig tätig. Wegen eines Arbeitsunfalls erhielt sie ab eine private Berufsunfähigkeitsrente, die im August 2017 enden sollte. Ab dem erhielt sie eine bis befristete staatliche Rente wegen voller Erwerbsminderung. Zeitweise bezog sie Arbeitslosengeld II.
J wurde von 2009 bis November 2010 vom Jobcenter mit dem Ziel "Aktivierung zur Arbeitssuche" betreut. Im November 2010 meldete sie sich in Polen bei einer Realschule an, bei der sie im März 2011 mit dem Unterrichtsbesuch begann und im September 2014 das Abitur ablegte.
Die Familienkasse B gewährte der Klägerin bis einschließlich November 2010 Kindergeld.
Aufgrund eines neuen Kindergeldantrags der Klägerin vom richtete die Familienkasse B zur Klärung ihrer Zuständigkeit am ein entsprechendes Auskunftsersuchen an die Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in Polen (DOPS). Hieraus ergab sich, dass der Vater der J seit dem nicht mehr in Polen arbeitet und dort seit dem keine Leistungen bezogen hat.
Die Familienkasse B bewilligte der Klägerin Kindergeld ab September 2011. Mit weiterem Bescheid vom lehnte die Familienkasse B eine Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Dezember 2010 bis August 2011 ab und hob die Kindergeldfestsetzung ab September 2012 auf.
Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse zurück: Nach den europäischen Koordinierungsregelungen sei ein Anspruch auf deutsches (Differenz-)Kindergeld ausgeschlossen, da beide Elternteile weder eine Erwerbstätigkeit ausübten noch eine Rente bezögen und deshalb ein Anspruch auf Familienleistungen nur im Wohnsitzland des Kindes, also Polen, bestehe.
Im Laufe des Klageverfahrens setzte die Familienkasse Kindergeld für die Monate November 2012 bis Juli 2014 fest. Mit seinem Urteil verpflichtete das FG die Familienkasse zur Zahlung von Kindergeld für den Streitzeitraum.
Auf die Revision der Familienkasse hoben die Richter des BFH das Urteil auf und wiesen die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück:
Das FG ist FG zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch in Deutschland erfüllt.
Ferner ist es zutreffend davon ausgegangen, dass bei der Anwendung der §§ 62 ff. EStG die Regeln des europäischen Sozialrechts zu beachten sind, weil der Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004 - Grundverordnung) eröffnet ist.
Zu Unrecht hat das FG jedoch angenommen, dass auf die Klägerin ausschließlich deutsches Recht Anwendung findet.
Art. 11 Abs. 1 VO Nr. 883/2004 bestimmt als Grundsatz, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Die Klägerin unterliegt gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. e VO Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Deutschland, da sie nach den Feststellungen des FG im Streitzeitraum weder eine Erwerbstätigkeit ausgeübt (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und b VO Nr. 883/2004) noch Leistungen bei Arbeitslosigkeit (Art. 11 Abs. 3 Buchst. c VO Nr. 883/2004) erhalten hat. Der Kindsvater unterlag nach den Feststellungen des FG jedenfalls aufgrund seines Wohnsitzes den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Polen, da er im Streitzeitraum ebenfalls keiner Erwerbstätigkeit nachging.
Allerdings gilt für den Bereich der Familienleistungen die Sonderregelung des Art. 67 Satz 1 VO Nr. 883/2004. Danach hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.
Der zur Anwendung dieser Bestimmung erlassene Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 987/2009 - Durchführungsverordnung) enthält zudem eine Familienbetrachtung.
Danach ist insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Diese Bestimmung ist nach dem "Moser", Leitsatz 1 und Rz 45 ff.) dahin auszulegen, dass sie sowohl in dem Fall Anwendung findet, dass die Leistung gemäß den als vorrangig bestimmten Rechtsvorschriften gewährt wird, als auch in jenem Fall, dass sie nach den Rechtsvorschriften eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats in Form eines Unterschiedsbetrags ausbezahlt wird (, BFH/NV 2021, 134, Rz 14). Es ist demnach entgegen der Annahme des FG nicht nur zu fingieren, dass die Klägerin in Polen wohnt, sondern auch dass sie - wie der Kindsvater - den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Polen unterfällt.
Es ist daher auch zu prüfen, ob der im Inland lebende Elternteil die Anspruchsvoraussetzungen im anderen Mitgliedstaat erfüllt und deshalb eine Anspruchskonkurrenz besteht.
Quelle: ; NWB Datenbank (il)
Fundstelle(n):
QAAAH-79266