BGH Beschluss v. - 2 StR 431/20

Strafverfahren: Ausnahme vom Grundsatz der nachträglichen Gesamtstrafenbildung durch den Tatrichter

Gesetze: § 460 StPO, § 462 StPO, § 53 StGB, § 54 StGB, § 55 Abs 1 S 1 StGB

Instanzenzug: LG Frankfurt Az: 5/6 KLs 10/20

Gründe

1Das Landgericht hat nach Verbindung von zwei Sicherungsverfahren (Tatvorwürfe vom und ) und einem Strafverfahren (drei Tatvorwürfe vom ) gegen den Beschuldigten bzw. Angeklagten (im Folgenden Beschuldigten) sowohl im Sicherungs- wie auch im Strafverfahren verhandelt. Es hat den Beschuldigten im Sicherungsverfahren aufgrund des Tatvorwurfs vom in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht und ein sichergestelltes Küchenmesser sowie einen Rucksack mit Steinen eingezogen. Ferner hat es ihn - nach Übergang vom Sicherungs- in das Strafverfahren - hinsichtlich des Tatvorwurfs vom aufgrund dieses sowie der drei Tatgeschehen vom wegen „gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit sexueller Belästigung, tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamten gleichstehende Personen und Körperverletzung, diese in Tateinheit mit Diebstahl und vorsätzlicher Körperverletzung“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und die Einziehung eines Tierabwehrsprays angeordnet. Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet (§ 349 Abs. 2).

I.

2Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3Der bereits im Jahr 2016 wegen gefährlicher Körperverletzung vorverurteilte Beschuldigte erkrankte erstmals im Jahr 2018 an einer paranoiden Schizophrenie mit Bedrohungs- und Verfolgungserleben, akustischen Halluzinationen in Form von bewertenden und imperativen Stimmen, ausgeprägten formalen Denkstörungen sowie einer deutlichen Affektstörung. Daneben liegt bei ihm ein schädlicher Gebrauch von Cannabis, Kokain und Alkohol vor, wobei der Alkohol, den er seit 2018 in größeren Mengen konsumiert, keinen direkten Einfluss auf seine psychotische Psychopathologie hat. Ausgehend von diesem Krankheitsbild kam es zu folgenden Taten:

4a) Der Beschuldigte geriet am Abend des aus unbekanntem Anlass in der von ihm mitbewohnten Asylbewerberunterkunft nach dem Konsum größerer Mengen Alkohols in Streit mit einem somalischen Landsmann. Nachdem der Beschuldigte am Mittag des darauffolgenden Tages aufgestanden war, wurde er angesichts der am Vorabend erlebten Zurückweisung wütend und wollte diesen zur Rede stellen. Er bewaffnete sich mit einem Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 13 cm, das er zum Zwecke der Verteidigung stets mit sich führte, sowie mit einem Rucksack mit vier faustgroßen Steinen. Auf dem Weg dorthin traf er auf den unbeteiligten Zeugen C.   , von dem er annahm, er wolle Partei für den somalischen Mitbewohner ergreifen. Er ging auf C.   los, wobei er das Messer in der rechten Hand auf Kopfhöhe hielt und in Verletzungsabsicht zumindest zwei Stichbewegungen in Richtung des verängstigten Zeugen ausführte. Dieser konnte einen Besen ergreifen und den Beschuldigten auf Distanz halten.

5Dem hinzugekommenen Zeugen Y.    gelang es, den Beschuldigten zu entwaffnen und - gemeinsam mit einer weiteren Person − die Situation zu deeskalieren, wobei Y.    den Beschuldigten weiter festhielt. Dieser beruhigte sich zunächst. Als Y.    ihn losließ, holte der Beschuldigte einen Stein aus seinem Rucksack und warf ihn kraftvoll mit Verletzungsabsicht in Richtung des C.   . Er traf C.    am Unterarm, wodurch dieser ein Hämatom und Schmerzen erlitt. Von der herbeigerufenen Polizei ließ sich der Beschuldigte widerstandslos festnehmen. Er zeigte den Beamten das Messer, das er zwischenzeitlich wieder unter seinem Kopfkissen verstaut hatte. Das Messer und der Rucksack mit den Steinen wurden sichergestellt.

6Bei dem Beschuldigten bestand keine relevante Alkoholisierung. Er erschien dem herbeigerufenen Polizeibeamten jedoch aufgrund seines „wirren Blicks“ psychisch auffällig, weswegen der Beamte nach Abschluss der polizeilichen Maßnahme seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus wegen Fremdgefährdung veranlasste. Dort wurde der Beschuldigte vom bis zum aufgrund der damaligen Diagnose einer cannabisbedingten psychotischen Störung stationär behandelt (Fall II.1 der Urteilsgründe).

7b) Nachdem der Beschuldigte in der Zeit vom bis zum wegen seiner paranoiden Schizophrenie, wegen schädlichen Gebrauchs von Alkohol und psychischer Verhaltensstörungen, bedingt durch Alkohol- und Cannabiskonsum, neuerlich stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt worden war, kam es am Abend des in einer vollbesetzten Regionalbahn zu folgenden Taten:

8aa) Zunächst griff der erheblich alkoholisierte Beschuldigte der Zeugin Ch.   an deren bekleidetes Gesäß und hielt sie so lange fest, bis die Zeugin mit dem Arm nach seiner Hand schlug und ihn so zum Loslassen bewegen konnte. Die Zeugin fühlte sich durch den Griff an ihr Gesäß belästigt, empfand das Verhalten als respektlos und hatte Ekelgefühl (Fall II.2 der Urteilsgründe).

9bb) Der Beschuldigte ging weiter durch die Regionalbahn. Er geriet in einen verbalen Streit mit einem männlichen Fahrgast, nahm ein Tierabwehrspray aus seiner Tasche und sprühte in Richtung des Mannes. Dieser versetzte dem Beschuldigten einen heftigen Faustschlag ins Gesicht, wodurch er eine blutende Platzwunde erlitt. Der Beschuldigte erhob erneut das Tierabwehrspray und sprühte halbkreisförmig in Richtung des Mannes, aber auch in Richtung der in diesem Bereich des Zuges befindlichen übrigen Zuginsassen, wobei er deren körperliche Beeinträchtigung zumindest billigend in Kauf nahm. Infolge des Einsatzes des Tierabwehrsprays wurden vier Mitreisende sowie aufgrund einer Ausbreitung des Reizmittels bis in das Führerhaus auch der Triebwagenführer verletzt (Fall II.3 der Urteilsgründe).

10cc) Als ein herbeigerufener Rettungssanitäter kurze Zeit später den Beschuldigten auf dem Bahnsteig versorgen wollte, trat der Beschuldigte gezielt in dessen Richtung. Der Tritt verfehlte den Zeugen (Fall II.4 der Urteilsgründe).

11c) Nachdem der Angeklagte in der Zeit vom bis zum neuerlich in einer psychiatrischen Klinik behandelt und mit einer Depotmedikation entlassen worden war, steckte er am erheblich alkoholisiert in einem Bekleidungsgeschäft eine Hose zum Kaufpreis von 89,99 € in seinen mitgeführten Rucksack, um mit dieser das Geschäft ohne Bezahlung zu verlassen. Nachdem bei einer Überprüfung des Rucksacks die Hose gefunden worden war, forderte der Kaufhausdetektiv den Beschuldigten auf, ihn in das Büro zu begleiten. Währenddessen hielt er den Beschuldigten am Arm fest. Dieser versuchte, sich dem Griff zu entziehen und schlug mit der Faust in Richtung des Zeugen, wobei er ihn verfehlte. Auf dem Weg ins Büro trat der Beschuldigte gezielt einer Mitarbeiterin an den Oberschenkel, wodurch diese Prellungen und kurzzeitige Schmerzen erlitt (Fall II.5 der Urteilsgründe).

122. Die Strafkammer ist, dem Sachverständigen folgend, davon ausgegangen, bei dem Beschuldigten habe am eine akute, unbehandelte paranoide Schizophrenie vorgelegen. Diese stelle sich als krankhafte seelische Störung gemäß § 20 StGB dar. Der Beschuldigte habe an jenem Tag unter dem Einfluss akut psychotischen Erlebens gestanden. Insofern „könne sicher davon ausgegangen werden, dass das Gewaltdelikt psychotisch motiviert gewesen sei.“ Aufgrund dessen sei die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten zum Tatzeitpunkt nicht gegeben gewesen; er sei daher schuldunfähig.

13Die Strafkammer hat den Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht und dabei die hohe Wahrscheinlichkeit für die Begehung weiterer gefährlicher Körperverletzungen angenommen. Sie hat diese Gefährlichkeitsprognose - wiederum dem Sachverständigen folgend - unter Rückgriff auf eine Vorverurteilung damit begründet, der Beschuldigte habe am in der Flüchtlingsunterkunft ein Messer ergriffen, damit einen Mitbewohner angegriffen und diesem später mit einer Weinflasche auf den Arm geschlagen. Im Zuge der nunmehr zur Aburteilung stehenden Anlasstat habe er einen Mitbewohner mit einem Messer angegriffen und sei im August 2019 in alkoholisiertem Zustand in eine Prügelei verwickelt gewesen. Bei mehreren Gewalthandlungen, bei denen sich kein Hinweis auf Alkoholeinfluss ergeben habe, habe der Beschuldigte „mutmaßlich Mitbewohner angegriffen, weil er befürchtet oder wahrgenommen habe, dass er von diesen verfolgt oder in sonstiger Weise beeinträchtigt werde.“

143. Für die Taten vom hat die Strafkammer keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer akuten paranoiden Schizophrenie gesehen, da der Angeklagte erst am in remittiertem Zustand aus der stationären psychiatrischen Behandlung entlassen worden sei. Seine Einsichtsfähigkeit sei sicher erhalten gewesen. Der schädliche Gebrauch von Cannabis, Kokain und Alkohol erreiche vorliegend nicht den Schweregrad eines Eingangsmerkmals im Sinne des § 20 StGB. Aufgrund der akuten Alkoholisierung sei aber von einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt auszugehen. Auch bei der Tat am lägen keine Anhaltspunkte für das akute Vorliegen der diagnostizierten paranoiden Schizophrenie vor, da der Angeklagte erst am ohne wahnhafte Symptomatik und nach einer Depotspritze aus der stationären psychiatrischen Behandlung entlassen worden sei. Aufgrund seiner Alkoholisierung sei jedoch auch hier seine Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert gewesen.

154. Bei der von ihr vorgenommenen Gesamtstrafenbildung aus den Einzelstrafen für die Taten vom (Fälle II.2 bis II.4 der Urteilsgründe) und vom (Fall II.5 der Urteilsgründe) hat die Strafkammer davon abgesehen, mit mehreren, nach ihrer Auffassung mit den Einzelstrafen für die Taten vom gesamtstrafenfähigen Vorverurteilungen eine Gesamtstrafe zu bilden und daneben die Einzelstrafe für die Tat vom bestehen zu lassen. Sie hat stattdessen eine „etwaige nachträgliche Gesamtstrafenbildung“ dem Nachtragsverfahren gemäß § 460 StPO vorbehalten. Sie hat dieses Vorgehen damit begründet, sie habe erst am vorletzten Verhandlungstag aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen sicher davon ausgehen können, dass der Beschuldigte für die Taten vom und vom wegen seiner lediglich verminderten Schuldfähigkeit zu bestrafen sei. Hinreichend gesicherte Erkenntnisse über den Vollstreckungsstand der Vorverurteilungen seien nicht mehr zu erlangen gewesen.

II.

16Das Rechtsmittel des Beschuldigten ist teilweise begründet. Es führt zur Aufhebung der im Sicherungsverfahren angeordneten Maßregel sowie der dort getroffenen Einziehungsentscheidung. Im Strafverfahren erweist sich die Zumessung der Einzelstrafen lediglich insoweit als rechtsfehlerhaft, als die Strafkammer die Festsetzung der Tagessatzhöhe im Fall II.2 der Urteilsgründe unterlassen und von einer umfassenden Erörterung der Gesamtstrafenlage im Erkenntnisverfahren abgesehen hat. Im Übrigen hat die Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Beschuldigten ergeben.

171. Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus sowie die Einziehungsentscheidung im Sicherungsverfahren haben keinen Bestand.

18a) Die Anordnung der Maßregel erweist sich als rechtsfehlerhaft.

19aa) Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung auf diesem Zustand beruht. Der Defektzustand muss, um eine Gefährlichkeitsprognose tragen zu können, von längerer Dauer sein. Daneben ist eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades erforderlich, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird (§ 63 Satz 1 StGB). Der Tatrichter hat die der Unterbringungsanordnung zugrundeliegenden Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 78/16, juris Rn. 9; vom - 3 StR 171/14, NStZ-RR 2014, 243, 244, jeweils mwN).

20bb) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.

21(1) Bereits die von der Strafkammer angenommene Schuldunfähigkeit des Beschuldigten bei Begehung der Anlasstat vom wird nicht in einer für den Senat nachvollziehbaren Weise dargestellt und beweiswürdigend belegt.

22(a) Für die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit des Beschuldigten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, ist zunächst die Feststellung erforderlich, dass bei dem Beschuldigten eine psychische Störung vorliegt, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann ist der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 446/17, juris Rn. 7 und vom - 1 StR 285/16, juris Rn. 7). Dies gilt auch in den Fällen einer Psychose aus dem Formenkreis der Schizophrenie; die Diagnose einer solchen Erkrankung führt für sich genommen noch nicht zur Feststellung einer generellen oder längere Zeiträume überdauernden gesicherten erheblichen Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 48/20 juris Rn. 7; vom - 3 StR 171/14, aaO; vom - 1 StR 389/12, NStZ 2013, 98; vom - 5 StR 150/12, NStZ-RR 2012, 239).

23Erforderlich ist die Feststellung eines akuten Schubs der Erkrankung sowie die konkretisierende Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychotische Störung bei der Begehung der Tat auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in der konkreten Situation und damit auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat (BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 48/20, aaO; vom - 4 StR 171/14, aaO; Senat, vom - 2 StR 139/12, NStZ-RR 2012, 306, 307). Beurteilungsgrundlage ist das konkrete Tatgeschehen, wobei neben der Art und Weise der Tatausführung auch die Vorgeschichte, der Anlass zur Tat, die Motivlage des Beschuldigten und sein Verhalten nach der Tat von Bedeutung sein können (vgl. Senat, Beschluss vom - 2 StR 57/17, juris Rn. 8; , aaO; Urteil vom - 5 StR 122/91, BGHSt 37, 397, 402).

24(b) Hieran gemessen hat die Strafkammer − im Ausgangspunkt zutreffend − einen akuten Schub der paranoiden Schizophrenie des Beschuldigten am und dessen psychotisches Erleben in der sich an die Tatbegehung unmittelbar anschließenden Unterbringung geschildert. Es mangelt aber an der Darlegung, in welcher Weise sich die festgestellte psychische Störung bei der Begehung der Anlasstat auf die Handlungsmöglichkeiten des Beschuldigten in der konkreten Situation ausgewirkt hat. Die Strafkammer stützt sich allein auf die Darstellung des Sachverständigen „aufgrund dieser Befundlage könne sicher davon ausgegangen werden, dass das Gewaltdelikt am psychotisch motiviert gewesen sei“. Diese Wertung, die aus Sicht des Sachverständigen dazu führen soll, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten zum Tatzeitpunkt aufgehoben war, erfährt jedoch keinerlei konkrete Tatsachengrundlage. Zwar war dem vor Ort eingesetzten Polizeibeamten bei dem Beschuldigten ein „wirrer Blick“ aufgefallen, und er stufte diesen als „psychisch auffällig“ ein, was zu dessen Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik wegen akuter Fremdgefährdung führte. Damit ist indes nicht belegt, inwiefern sich die psychische Erkrankung des Beschuldigten in der konkreten Situation auf dessen Handlungsmöglichkeiten ausgewirkt hat.

25Die Vorgeschichte der Tat resultiert aus einem Streit mit einem somalischen Mitbewohner; der Anlass der Tat lag nach den Feststellungen in der Wut des Beschuldigten über die Zurückweisung durch diesen Landsmann, wobei sich der eigentliche Angriff gegen einen anderen Mitbewohner richtete, weil der Beschuldigte davon ausging, dieser solidarisiere sich mit seinem somalischen Landsmann. Warum sich in dieser Situation ein Bedrohungs- oder Verfolgungswahn des Beschuldigten in dem Angriff geäußert haben soll, erschließt sich nicht ohne weiteres. Dass der Beschuldigte - wahnbedingt - eine gegen ihn gerichtete feindselige Handlung des pakistanischen Mitbewohners erwartete, ist weder festgestellt noch aus der Gesamtheit der Urteilsgründe erkennbar.

26Die konkrete Tatausführung des Beschuldigten unterscheidet sich auch nicht wesentlich von anderen Taten, die er ohne Einfluss der psychiatrischen Grunderkrankung beging. Denn der Beschuldigte weist Sozialisationsdefizite auf und neigt, regelmäßig nach dem Genuss von Alkohol, unabhängig von der schizophrenen Erkrankung zu Gewalttaten.

27(2) Auch die Begründung für die Annahme der Gefährlichkeit des Beschuldigten hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

28(a) Wenn das Tatgericht seine Gefährlichkeitsprognose auch auf frühere Taten stützt, müssen die im Urteil hierzu getroffenen Feststellungen belegen, dass auch diese Taten auf der Erkrankung des Täters beruhten (st. Rspr.; vgl. nur , NStZ-RR 2020, 9, 10 mwN). Ein der Vorverurteilung vom zugrundeliegender Messerangriff kann bereits deshalb die Gefährlichkeitsprognose nicht tragen, weil der Beschuldigte nach den landgerichtlichen Feststellungen erst rund zwei Jahre nach dieser Tat an der paranoiden Schizophrenie erkrankte. Insofern lassen sich der dargestellten Vorverurteilung wegen des Tatgeschehens vom zwar eine erhebliche Alkoholisierung des Beschuldigten, jedoch keine Ansätze für ein wahnbedingtes Erleben entnehmen.

29(b) Soweit der Sachverständige und ihm folgend die Strafkammer darüber hinaus davon ausgehen, der Beschuldigte habe „mutmaßlich Mitbewohner angegriffen, weil er befürchtet oder wahrgenommen habe, dass er von diesen verfolgt oder in sonstiger Weise beeinträchtigt werde“, fehlt es hierfür an einem tragfähigen Beleg. Die Feststellungen zu der „körperlich[en] Auseinandersetzung in alkoholisiertem Zustand“ im August 2019, bei der sich der Beschuldigte mit einer zerbrochenen Flasche an der Hand verletzte, ambulant an der Universitätsklinik versorgt und sodann selbst in der psychiatrischen Klinik vorstellig wurde, lassen offen, ob der Auseinandersetzung ein psychotisches Erleben des Beschuldigten zugrunde lag.

30b) Die Einziehungsentscheidung im Sicherungsverfahren unterfällt der Aufhebung. Einziehungsentscheidungen kommen bei schuldunfähigen Tätern alleine im selbständigen Einziehungsverfahren gemäß § 435 StPO in Betracht, wenn die Voraussetzungen des § 76a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StGB vorliegen (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom - 2 StR 127/18, juris Rn. 3 mwN). Der Senat hat davon abgesehen, die Einziehung des Küchenmessers sowie des Rucksacks mit Steinen entfallen zu lassen. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass der nunmehr zur Entscheidung berufene Tatrichter auch wegen der Tat vom das Verfahren in das Strafverfahren überleitet und dadurch eine Einziehung im subjektiven Verfahren möglich wird.

312. Der im Strafverfahren erfolgte Schuldspruch, die dort zugemessenen Einzelstrafen, die Einziehung des Tierabwehrsprays sowie die unterbliebene Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt halten - mit Ausnahme der unterbliebenen Festsetzung der Tagessatzhöhe im Fall II.2 der Urteilsgründe - rechtlicher Prüfung stand. Hingegen hat die Gesamtstrafe keinen Bestand.

32a) Die Verurteilung des Beschuldigten wegen gefährlicher Körperverletzung, tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamten gleichstehenden Personen, sexueller Belästigung und Körperverletzung, diese in Tateinheit mit Diebstahl und versuchter Körperverletzung, lässt keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil erkennen. Die Annahme einer natürlichen Handlungseinheit (vgl. hierzu , NStZ-RR 2019, 211) bei den Tathandlungen vom (Fall II.5 der Urteilsgründe) beschwert den Beschuldigten nicht.

33b) Die Strafkammer hat es indes versäumt, die Tagessatzhöhe für die wegen sexueller Belästigung (Fall II.2 der Urteilsgründe) verhängte Einzelgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu bestimmen. Da deren Festsetzung trotz Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe erforderlich ist (vgl. Senat, Beschluss vom - 2 StR 414/20, juris Rn. 2 mwN), ist dies in der neuen Hauptverhandlung nachzuholen.

34c) Die Gesamtstrafe hat keinen Bestand.

35aa) Die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Er darf dies in der Regel nicht dem Beschlussverfahren nach §§ 460, 462 StPO überlassen (vgl. Senat, Beschluss vom - 2 StR 102/19, juris Rn. 4). Diese Möglichkeit ist ihm nur ausnahmsweise eröffnet, wenn er aufgrund der bislang gewonnenen Erkenntnisse keine sichere Entscheidung fällen kann, etwa weil die Unterlagen für eine möglicherweise gebotene Gesamtstrafenbildung nicht vollständig vorliegen (ohne dass dies auf unzureichender Terminvorbereitung beruht) und die Hauptverhandlung allein wegen deshalb noch notwendiger Erhebungen mit weiterem erheblichen Zeitaufwand belastet werden würde (vgl. , NStZ 2005, 32).

36bb) Hieran gemessen durfte die Strafkammer die umfassende Erörterung und Prüfung der Gesamtstrafenlage nicht dem Beschlussverfahren überlassen.

37(1) Zwar war über den Tatvorwurf vom bis zum vorletzten Hauptverhandlungstag im Sicherungsverfahren verhandelt worden, so dass für die Strafkammer bis dahin keine Notwendigkeit bestand, eine mögliche Gesamtstrafenlage für den Fall einer Verurteilung wegen dieses Tatvorwurfs aufzuklären. Anders verhält es sich jedoch wegen der Tatvorwürfe vom . Hinsichtlich dieser hat die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben und die Strafkammer die Anklage zur Hauptverhandlung im Strafverfahren zugelassen. Sie war daher − bei zureichender Terminvorbereitung − gehalten, angesichts der aus ihrer Sicht überwiegend wahrscheinlichen Verurteilung wegen dieser Tatvorwürfe die erforderliche Aufklärung einer möglichen Gesamtstrafenlage im Vorfeld der Hauptverhandlung zu betreiben.

38(2) Entgegen der Ansicht der Strafkammer wäre zunächst lediglich der Vollstreckungsstand des Gesamtstrafenbeschlusses des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom aufzuklären gewesen.

39(a) Grundgedanke des § 55 StGB ist, dass Taten, die bei gemeinsamer Aburteilung nach den §§ 53, 54 StGB behandelt worden wären, auch bei getrennter Aburteilung dieselbe Behandlung erfahren sollen, so dass der Täter im Endergebnis weder besser noch schlechter gestellt ist. Liegt eine neue, nunmehr abgeurteilte Tat vor mehreren unerledigten Vorverurteilungen, so kommt daher der frühesten Vorverurteilung eine Zäsurwirkung zu (vgl. Senat, Beschluss vom - 2 StR 180/09, juris Rn. 6 mwN).

40(b) Hiernach kommt eine Gesamtstrafenlage für die nunmehr zur Aburteilung stehenden Taten vom zunächst nur mit den dem Gesamtstrafenbeschluss vom zugrundeliegenden Einzelstrafen aus den Strafbefehlen des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom (Tatzeit ), rechtskräftig seit dem und vom (Tatzeit ), rechtskräftig seit dem in Betracht. Mit den weiteren Verurteilungen vom (Tatzeit ) bzw. (Tatzeit ) besteht entgegen der Ansicht der Strafkammer aufgrund der − bei unterbliebener Vollstreckung − eingetretenen Zäsurwirkung keine Gesamtstrafenlage. Dass die Tatzeiten dieser beiden Vorverurteilungen vor dem Gesamtstrafenbeschluss vom lagen, ändert hieran nichts (vgl. , juris Rn. 3 mwN). Die weitere Einzelstrafe für die Tat vom tritt nach den bisherigen Feststellungen isoliert daneben.

413. Nach alledem bedarf die Sache im Sicherungsverfahren - naheliegenderweise unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen - neuer Verhandlung und Entscheidung. Im Strafverfahren obliegt dem nunmehr zur Entscheidung berufenen Tatgericht die Festlegung der Tagessatzhöhe im Fall II.2 der Urteilsgründe sowie der neuen Gesamtstrafe.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:040321B2STR431.20.0

Fundstelle(n):
XAAAH-79216