BMF - III C 4 - S 6400/21/10001 :001 BStBl 2021 I S. 325

Versicherungsteuer; Versicherungsteuerbarkeit gemäß § 1 Versicherungsteuergesetz (VersStG)

Bezug: BStBl 1990 I S. 645

Bezug:

A. Gemeinschaftsrechtliche Implikationen

1Die Versicherungsteuer und die Feuerschutzsteuer sind in der Europäischen Union nicht harmonisiert. Im Hinblick auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im europäischen Binnenmarkt existieren aber seit der Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaften (EG) betreffend die Zweite Richtlinie des Rates vom zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 73/239/EWG [1] gewisse europarechtliche Vorgaben, die bei der Besteuerung von Versicherungsentgelten zu berücksichtigen sind. Das einschlägige Richtlinienrecht wurde überarbeitet und zusammengefasst in der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) [2].

2Ausweislich des Erwägungsgrundes Nr. 11 stellt die Richtlinie 2009/138/EG ein wichtiges Instrument zur Vollendung des Binnenmarktes dar. Es soll Versicherungs- und Rückversicherungsunternehmen, die in ihrem Herkunftsmitgliedstaat zugelassen sind, gestattet werden, ihr Geschäft ganz oder teilweise durch die Gründung von Zweigniederlassungen oder die Erbringung von Dienstleistungen in der gesamten Gemeinschaft auszuüben.

3Darüber hinaus dürfen die von den Mitgliedstaaten erhobenen unterschiedlichen Steuern und Abgaben auf Versicherungsverträge nicht zu Wettbewerbsverzerrungen beim Angebot von Versicherungen zwischen den Mitgliedstaaten führen. Um derartige Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, ist das Steuersystem und sind andere Abgabensysteme desjenigen Mitgliedstaats anzuwenden, in dem die Risiken belegen sind oder in dem bei Lebensversicherungen die Verpflichtungen eingegangen werden. Es obliegt den Mitgliedstaaten, Regelungen festzulegen, durch die die Erhebung dieser Steuern und Abgaben sichergestellt wird.

4Das Kriterium der Risikobelegenheit ist ein Element des europäischen Richtlinienrechts, anhand dessen das Besteuerungsrecht demjenigen Mitgliedstaat zugewiesen wird, in dem das versicherte Risiko belegen ist. Es beansprucht daher nur Geltung in Fällen, in denen das versicherte Risiko in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Staat) belegen ist (nachfolgend: „Mitgliedsstaat“). Ist es außerhalb des EWR belegen, enthält das Richtlinienrecht keine Vorgaben hinsichtlich des Besteuerungsrechts, da es in keinem Mitgliedstaat belegen ist. Dementsprechend entscheiden die Mitgliedstaaten autonom, ob und unter welchen Voraussetzungen Versicherungsentgelte für die Versicherung von Risiken, die in einem Drittland (außerhalb des EWR) belegen sind, besteuert werden.

5Die Vorgaben des europäischen Richtlinienrechts hinsichtlich des Besteuerungsrechts beschränken sich auf Versicherungsverhältnisse

  • mit einem im EWR niedergelassenen Versicherer, die

    1. bei Nichtlebensversicherungen im EWR belegene Risiken betreffen (Mitgliedstaat der Risikobelegenheit) bzw.

    2. bei Lebensversicherungen im EWR begründet wurden (Mitgliedstaat der Verpflichtung).

B. § 1 VersStG

I. Systematik

6Im Hinblick auf die im nationalen Steuerrecht zu beachtenden Vorgaben des Richtlinienrechts unterscheidet § 1 VersStG zwischen Versicherungsverhältnissen mit sog. EWR-Versicherern (§ 1 Abs. 2 VersStG) und solchen mit sog. Drittlandversicherern (§ 1 Abs. 3 VersStG).

7§ 1 Abs. 2 VersStG dient - wie bisher schon - der Umsetzung der Vorgaben und Ziele des Richtlinienrechts, d. h., soweit es Versicherungsverhältnisse mit EWR-Versicherern betrifft und das Risiko im EWR belegen ist. Die Besteuerung von Versicherungsentgelten durch den deutschen Fiskus wird insoweit zurückgenommen, als das Besteuerungsrecht durch Richtlinienrecht einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union bzw. Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum zugewiesen wird, weil das versicherte Risiko dort belegen ist. Soweit versicherte Risiken außerhalb des EWR belegen sind, enthält § 1 Abs. 2 VersStG in den Sätzen 2 und 3 autonome Regelungen zur Steuerbarkeit.

8Die mit dem Gesetz zur Modernisierung des Versicherungsteuerrechts vom (BGBl 2020 I S. 2659) neu eingeführte Regelungssystematik verdeutlicht in § 1 Abs. 2 Satz 2, 1. Halbsatz VersStG, dass grundsätzlich auch die Versicherung von außerhalb des Geltungsbereichs des Gesetzes belegenen Risiken steuerbar ist, sofern das Risiko nicht in einem anderen EWR-Staat belegen ist. Dass Deutschland in Fällen der Risikobelegenheit in einem anderen EWR-Staat kein Besteuerungsrecht besitzt, ergab sich zwar bereits hinreichend deutlich aus § 1 Abs. 2 VersStG a.F., wird aber nunmehr durch die jetzt verwendete Regelungstechnik ausdrücklich herausgestellt.

9§ 1 Abs. 3 VersStG regelt die Besteuerung von Versicherungsentgelten, die auf Grund eines Versicherungsverhältnisses mit einem sog. Drittlandversicherer gezahlt werden. Auch hier greift das EU-Richtlinienrecht nicht.

10In § 1 Abs. 4 VersStG wird bestimmt, dass die deutsche ausschließliche Wirtschaftszone zum Geltungsbereich des Gesetzes gehört. Damit werden Versicherungen, die sich auf dort belegene Risiken, vor allem auf Anlagen, Betriebsstätten und entsprechende Einrichtungen beziehen, steuerlich erfasst.

II. § 1 Abs. 2 VersStG - Versicherungsverhältnis mit EWR-Versicherer

1. EWR-Versicherer

11„Versicherer, der im Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder anderer Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum niedergelassen ist“ im Sinne des § 1 Abs. 2 VersStG (EWR-Versicherer) ist ein Versicherer, der seinen Sitz oder Wohnsitz in dem genannten Gebiet hat (§ 1 Abs. 1 Verordnung zur Durchführung des Versicherungsteuergesetzes (Versicherungsteuer-Durchführungsverordnung - VersStDV).

12Für die Bestimmung des Versicherers im versicherungsteuerrechtlichen Sinn ist bei vertraglich zustande gekommenen Versicherungsverhältnissen maßgeblich auf den Vertragspartner des Versicherungsnehmers abzustellen, der zivilrechtlich Gläubiger des Versicherungsentgelts ist. Dies ist bei Unternehmen mit Sitz in einem Drittland, die in Deutschland über eine Niederlassung oder Zweigniederlassung verfügen, regelmäßig die Hauptniederlassung im Drittland. Etwas anderes gilt nur bei rechtlich selbständigen Tochterunternehmen, die über einen eigenen Sitz im EWR verfügen und durch den Abschluss von Versicherungsverträgen zivilrechtlich selbst berechtigt und verpflichtet werden.

2. Belegenheit des Risikos im Europäischen Wirtschaftsraum
a) Belegenheit des Risikos im Geltungsbereich des Gesetzes
aa) Drei Sondertatbestände (§ 1 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 VersStG)

13(1) In drei Sondertatbeständen definiert das Richtlinienrecht (Art. 13 Nr. 13 der RL 2009/138/EG - Solvabilität II) die Belegenheit des Risikos unabhängig vom Sitz/Wohnsitz/gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherungsnehmers.

Das Besteuerungsrecht steht in diesen Fällen demjenigen Mitgliedstaat zu, in dem

  1. die unbewegliche Sache belegen ist,

  2. das Fahrzeug zugelassen (registriert) ist,

  3. der Versicherungsnehmer den Vertrag für eine Versicherung von Reise- und Ferienrisiken mit einer Laufzeit von nicht mehr als vier Monaten abgeschlossen hat.

Dementsprechend sieht § 1 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 1 bis 3 VersStG vor, dass der jeweilige Sachverhalt im Geltungsbereich des VersStG verwirklicht worden sein muss.

14(2) Der Sondertatbestand des Satzes 1 Nr. 1 setzt eine Versicherung von Risiken mit Bezug auf Bauwerke, Anlagen und darin befindliche Sachen (mit Ausnahme von gewerblichem Durchfuhrgut) voraus. Die Gegenstände müssen sich im Geltungsbereich des Gesetzes befinden.

15Es kommt nicht darauf an, ob die Risiken in Bezug auf Bauwerke und die Risiken in Bezug auf darin befindliche Sachen durch dieselbe Versicherung gedeckt werden. Es ist für die Zuordnung des Risikos auch nicht von Bedeutung, ob sich die versicherten Sachen auf längere Zeit (z.B. Hausrat) oder nur vorübergehend (z. B. Handelsware) in dem Gebäude befinden.

16Der Begriff des von der Risikozuordnung ausgenommenen gewerblichen Durchfuhrguts ist beschränkt auf Güter in (Zoll-) Transitlagern, die noch nicht zum freien Verkehr im Sinne der zollrechtlichen Bestimmungen abgefertigt sind. Für dieses gewerbliche Durchfuhrgut gelten die allgemeinen Regeln.

17(3) Der Sondertatbestand des Satzes 1 Nr. 2 setzt eine Versicherung von Risiken mit Bezug auf im Geltungsbereich des VersStG in ein amtliches oder amtlich anerkanntes Register einzutragende oder eingetragene und mit einem Unterscheidungskennzeichen versehene Fahrzeuge aller Art voraus. Die entsprechenden Register für die verschiedenen Fahrzeugarten sind in § 1 Abs. 3 und 4 VersStDV beispielhaft aufgeführt.

18Der Sondertatbestand des Satzes 1 Nr. 2 betrifft neben (Land-)Fahrzeugen auch Flugzeuge und Schiffe. Bei den (Land-)Fahrzeugen werden von der Vorschrift auch Mofas, Motorroller etc. erfasst, da auch in diesen Fällen neben der Erteilung des Versicherungskennzeichens eine Eintragung des Fahrzeugs im Zentralen Fahrzeugregister erfolgt. Dem Begriff „Fahrzeuge aller Art“ unterfallen auch solche, die über keinen eigenen Antrieb verfügen (z. B. Anhänger, Waggons).

19Erfasst werden nicht nur Versicherungen des Fahrzeugs selbst (z. B. Kaskoversicherungen), sondern bei der Versicherung von Kraftfahrzeugen auch die Fahrzeughaftpflichtversicherung und die Insassenunfallversicherung.

20(4) Bei dem in Satz 1 Nr. 3 normierten Sondertatbestand, der den Abschluss einer Versicherung von Reise- und Ferienrisiken mit einer Laufzeit von nicht mehr als vier Monaten betrifft, ist auf den Ort der Abgabe der zur Entstehung des Versicherungsverhältnisses erforderlichen Willenserklärung des Versicherungsnehmers abzustellen.

bb) Allgemeiner Tatbestand (§ 1 Abs. 2 Satz 3 VersStG)

21Hinsichtlich der Versicherung anderer Risiken definiert das Richtlinienrecht als Mitgliedstaat, in dem das Risiko belegen ist, denjenigen Mitgliedstaat, in dem der Versicherungsnehmer als natürliche Person bei Zahlung des Versicherungsentgelts seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, beziehungsweise in Fällen, in denen der Versicherungsnehmer keine natürliche Person ist, denjenigen Mitgliedstaat, in dem sich bei Zahlung des Versicherungsentgelts der Sitz des Unternehmens, die Betriebsstätte oder die entsprechende Einrichtung befindet, auf die sich das Versicherungsverhältnis bezieht. Diese Vorgaben sind in § 1 Abs. 2 Satz 3 VersStG entsprechend umgesetzt.

22Der allgemeine Tatbestand erfasst mit dem Merkmal „andere Risiken“ ausdrücklich auch nicht registrierungspflichtige Fahrzeuge, da der Sondertatbestand des Satzes 1 Nr. 2 nur Fahrzeuge betrifft, die einer Registrierungspflicht unterliegen oder ohne eine bestehende Pflicht freiwillig registriert sind.

23„Keine natürliche Person“ i.S. des § 1 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 VersStG sind insbesondere: Offene Handelsgesellschaften, Kommanditgesellschaften (KG und GmbH & Co. KG), Gesellschaften des bürgerlichen Rechts, Erbengemeinschaften, Zweckverbände, Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen sowie Kapitalgesellschaften und juristische Personen des öffentlichen Rechts.

24Die Begriffe „Unternehmen“, „Betriebsstätte“ und „entsprechende Einrichtung“ in § 1 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 VersStG sind aus dem in Art. 13 Nr. 13 d der Richtlinie Solvabilität II verwendeten Begriff der „Niederlassung“ (des Versicherungsnehmers) abgeleitet. Dieser Begriff ist jedoch nicht in der durch §§ 13 ff., 29 Handelsgesetzbuch (HGB) vorgegebenen Inhaltsbestimmung zu verstehen. Für den Bereich der Versicherungsteuer gelten die im Steuerrecht verwendeten Begriffe „Unternehmen“ und „Betriebsstätte“ (vgl. § 12 Abgabenordnung, AO).

25Mit „Unternehmen“ ist die nicht natürliche Person als Versicherungsnehmer angesprochen.

26„Betriebsstätte“ ist jede feste Geschäftseinrichtung oder Anlage, die der Tätigkeit eines Unternehmens dient.

27Der Begriff der „entsprechenden Einrichtung“ bezieht sich auf nichtunternehmerische Bereiche. Hierunter fallen insbesondere Einrichtungen von Körperschaften des öffentlichen Rechts oder nichtunternehmerischen Zwecken dienende Einrichtungen von Vereinen oder Gesellschaften.

28Im gemeinschaftsrechtlichen Kontext verkörpern die gesetzlichen Merkmale „Sitz des Unternehmens“ und „Betriebsstätte oder die entsprechende Einrichtung, auf die sich das Versicherungsverhältnis bezieht“ die Risikobelegenheit und daraus folgend das Besteuerungsrecht. Befinden sich der Sitz eines Unternehmens und eine Betriebsstätte oder entsprechende Einrichtung desselben Unternehmens in unterschiedlichen Mitgliedstaaten, weist das Richtlinienrecht das Besteuerungsrecht demjenigen Mitgliedstaat zu, in dem sich der jeweils versicherte Teil der nicht natürlichen Person befindet. Wird z. B. ausschließlich eine Betriebsstätte versichert, steht die Besteuerung demjenigen Mitgliedstaat zu, in dem die Betriebsstätte belegen ist. Besteht eine Gesamtpolice für mehrere Teile eines Unternehmens in verschiedenen Mitgliedstaaten, so ist das gezahlte Versicherungsentgelt entsprechend auf die versicherten Risiken aufzuteilen.

29Beispiel:

Ein Unternehmen mit Sitz in Österreich, das über mehrere Betriebsstätten verfügt, darunter auch eine in Deutschland, schließt mit einem EWR-Versicherer eine Betriebsstättenhaftpflichtversicherung für alle seine Betriebsstätten ab.

Ergebnis: Das Versicherungsentgelt unterliegt gemäß § 1 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 VersStG (allgemeiner Tatbestand) der Besteuerung in Deutschland, soweit es zur Deckung der Risiken der in Deutschland belegenen Betriebsstätte gezahlt wird. Ist dieser Betrag im Versicherungsvertrag nicht gesondert festgelegt, sind die Versicherungsentgeltanteile, die auf die in den einzelnen Mitgliedstaaten belegenen Risiken entfallen, zum Zwecke der Besteuerung nach vernünftigen kaufmännischen Grundsätzen (ggf. im Schätzwege) zu ermitteln.

30Zur Besteuerung einer mit dem Versicherungsnehmer (nicht natürliche Person) konzernverbundenen Gesellschaft siehe nachstehend cc).

cc) Versicherung für fremde Rechnung - Versicherungsnehmer und versicherte Person in verschiedenen Mitgliedstaaten

31Der Wortlaut des Richtlinienrechts (Art. 13 Nr. 13 Buchst. d) Doppelbuchstab ii) der RL Solvabilität II) sowie des § 1 Abs. 2 Satz 3 VersStG geht hinsichtlich der Bestimmung der Belegenheit des Risikos erkennbar von der Versicherung eigener Risiken aus. So formuliert das Richtlinienrecht noch deutlicher als der - umsetzende - deutsche Gesetzestext, dass in Fällen, in denen der Versicherungsnehmer eine juristische Person ist, das Risiko in dem Mitgliedstaat belegen ist, in dem sich die Niederlassung dieses Versicherungsnehmers befindet, auf die sich der Versicherungsvertrag bezieht.

32Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil v. , C-191/99 (Kvaerner), Slg. 2002, I-4447, HFR 2001, 919 zwar entschieden, dass eine andere Gesellschaft (versicherte Gesellschaft) als Niederlassung des Versicherungsnehmers i. S. des einschlägigen Richtlinienrechts anzusehen ist, wenn zwischen den beiden Gesellschaften (Gesellschaft A als Versicherungsnehmer - Gesellschaft B als versicherte Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat) eine Konzernverbundenheit besteht. Es bedurfte hierzu aber einer extensiven Auslegung des Merkmals „Niederlassung“ (des Versicherungsnehmers), um zu begründen, dass das Richtlinienrecht eine Bestimmung des Mitgliedstaates enthält, dem das Besteuerungsrecht für eine derartige Versicherung zusteht, nämlich demjenigen Mitgliedstaat, in dem sich die versicherte Gesellschaft befindet. Im Ergebnis ist die Entscheidung des EuGH zutreffend, obgleich es sich bei objektiver Betrachtung um die Versicherung einer anderen Gesellschaft und damit um die Versicherung eines fremden Risikos handelt und nicht eines Risikos des Versicherungsnehmers.

33Im VersStG wird das Richtlinienmerkmal „Niederlassung dieses Versicherungsnehmers, auf das sich der Vertrag bezieht“ [3], durch die gesetzlichen Merkmale „Betriebsstätte oder die entsprechende Einrichtung, auf die sich das Versicherungsverhältnis bezieht“ in § 1 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 VersStG widergespiegelt, die einer dahingehenden Auslegung, dass hierunter auch eine selbständige Gesellschaft (als Teil des Versicherungsnehmers) verstanden werden kann, nicht zugänglich sind.

34Das Versicherungsteuerrecht gelangt gleichwohl zu demselben Ergebnis wie der EuGH in seinem Urteil v. , indem bei der Versicherung für fremde Rechnung hinsichtlich der Risikobelegenheit auf den materiellen Versicherungsnehmer (Person, deren Risiken durch die Versicherung gedeckt werden) abzustellen ist.

35Der Fall, dass eine juristische Person keine eigenen, sondern fremde Risiken versichert, ist im Richtlinienrecht nicht geregelt; gleiches gilt für natürliche Personen. Die extensive Auslegung des EuGHs zum Begriff der Niederlassung des Versicherungsnehmers (s. o. Rz. 32) findet dort ihre Grenze, wo es sich bei der versicherten fremden Gesellschaft um eine solche handelt, die keine Konzernverbundenheit mit dem Versicherungsnehmer aufweist. Diese Regelungslücke bei der Versicherung fremder Risiken ist durch richtlinienkonforme Auslegung dahingehend zu schließen, dass hinsichtlich der Belegenheit des versicherten Risikos auf die versicherte Person bzw. den Ort der versicherten Einrichtung abzustellen ist. Ziel des Richtlinienrechts ist, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Solche könnten aber gerade dann eintreten, wenn bei der Versicherung fremder Risiken nicht auf die tatsächliche Belegenheit des Risikos bei der versicherten Person (als materiellem Versicherungsnehmer) abgestellt, sondern die Belegenheit des Risikos beim (formellen) Versicherungsnehmer fingiert würde. Dementsprechend ist in § 1 Abs. 5 VersStDV geregelt, dass bei der Versicherung für fremde Rechnung unter Versicherungsnehmer i. S. d. § 1 Abs. 2 Satz 3 VersStG - der den Versicherungsnehmer nicht in seiner Funktion als Vertragspartner des Versicherers und Schuldner des Versicherungsentgelts (formeller Versicherungsnehmer) betrifft, sondern als Person, bei der das Risiko belegen ist - der materielle Versicherungsnehmer zu verstehen ist, also diejenige Person, deren Risiken durch die Versicherung gedeckt werden.

36Beispiel 1:

Die A-AG mit Sitz in Österreich schließt bei einem österreichischen Versicherungsunternehmen eine Haftpflichtversicherung für eine in Deutschland ansässige G-GmbH ab.

Ergebnis: Das Risiko ist - unabhängig von der Frage, ob zwischen der A-AG und der G-GmbH eine Konzernverbundenheit besteht - in Deutschland belegen. Das Besteuerungsrecht steht Deutschland zu.

37Beispiel 2:

Die in Paris wohnenden Eltern schließen bei einem französischen Versicherungsunternehmen für ihre in Berlin studierende Tochter eine Unfallversicherung ab.

Ergebnis: Solange die Tochter (als versicherte Person) ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, ist das versicherte Risiko dort belegen. Das Besteuerungsrecht steht Deutschland zu.

b) Belegenheit des Risikos in einem anderen EWR-Staat

38Ist das versicherte Risiko in einem anderen EWR-Staat belegen, hat Deutschland kein Besteuerungsrecht. Dementsprechend werden in § 1 Abs. 2 Satz 2 VersStG die in den Nummern 1 bis 4 genannten, außerhalb des Geltungsbereichs des VersStG belegenen Risiken (s.u. 3., Rz. 40 ff.) durch den 2. Halbsatz („es sei denn, ...“) ausdrücklich von der Steuerbarkeit ausgenommen, wenn sie in einem anderen EWR-Staat belegen sind.

39Für „andere Risiken“ ergibt sich dies aus dem allgemeinen Tatbestand des § 1 Abs. 2 Satz 3 VersStG, der insoweit darauf abstellt, dass die Merkmale, die die Risikobelegenheit im Richtlinienkontext verkörpern (s.o. 2 a) bb), Rz. 21 ff.), im Geltungsbereich des VersStG verwirklicht sein müssen.

3. Belegenheit des Risikos im Drittland
a) Verwirklichung der Sondertatbestände außerhalb des EWR

40Das europäische Richtlinienrecht enthält keine Vorgaben hinsichtlich des Besteuerungsrechts in Fällen, in denen die in den drei Sondertatbeständen geregelten Fallgestaltungen außerhalb des EWR und damit außerhalb der Regelungsbefugnis des Gemeinschaftsrechts verwirklicht werden. Die Verwirklichung der drei Sondertatbestände im Drittland wird von § 1 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 VersStG unter Anknüpfung an die Ansässigkeit des Versicherungsnehmers in Deutschland erfasst, die insoweit einen eigenständigen Bezugspunkt für die Besteuerung in Deutschland darstellt, ohne die Risikobelegenheit zu verkörpern, die erkennbar im Ausland zu verorten ist. Die Ausnahmeregelung in § 1 Abs. 2 Satz 2, 2. Halbsatz VersStG, wonach das Besteuerungsrecht Deutschlands in bestimmten Fällen - bei der Belegenheit des Risikos in einem anderen EWR-Staat - nicht gegeben ist, ist hier nicht einschlägig.

b) Versicherung von außerhalb des EWR belegenen Betriebsstätten oder sonstigen Einrichtungen einer nicht natürlichen Person

41Die Steuerbarkeit dieser Versicherungen ist in § 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 VersStG unter Anknüpfung an die Ansässigkeit des Versicherungsnehmers in Deutschland geregelt. Die Merkmale „Versicherung einer Betriebsstätte oder sonstigen Einrichtung“ spiegeln inhaltlich das im allgemeinen Tatbestand des § 1 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 VersStG beschriebene Versicherungsverhältnis, das sich auf eine Betriebsstätte oder eine entsprechende Einrichtung bezieht. Der Begriff „sonstige Einrichtung“ ist wie der in § 1 Abs. 2 Satz 3 VersStG verwendete Begriff der „entsprechenden Einrichtung“ zu verstehen und bezieht sich auf nichtunternehmerische Bereiche einer nicht natürlichen Person (s. o. II. 2. a) bb), Rz. 27). Der Unterschied zur Regelung des allgemeinen Tatbestands besteht darin, dass sich das Bezugsobjekt der Versicherung in einem Drittland befindet und der Versicherungsnehmer in Deutschland ansässig ist, wobei Versicherungsnehmer auch eine natürliche Person sein kann, da die Regelung auch die Versicherung fremder Risiken erfasst.

c) Versicherungen, die von natürlichen Personen für die Deckung von im Drittland belegenen Risiken genommen werden

42Solche Versicherungen sind nach § 1 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 VersStG (allgemeiner Tatbestand) steuerbar, wenn der Versicherungsnehmer bei Zahlung des Versicherungsentgelts seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des VersStG hat. Die so umschriebene Ansässigkeit des Versicherungsnehmers in Deutschland verkörpert dabei nicht die Risikobelegenheit im Sinne des europäischen Richtlinienrechts, sondern stellt den vom deutschen Gesetzgeber autonom bestimmten Anknüpfungspunkt für die Besteuerung dar.

43Beispiel:

Der in Deutschland wohnende Kunstfreund K verleiht für fünf Jahre ein wertvolles Gemälde an ein Museum in New York und versichert dieses bei einem EWR-Versicherer für diesen Zeitraum gegen Diebstahl und Beschädigung.

Ergebnis: Das versicherte Risiko ist in einem Drittland (USA) belegen. Das Versicherungsentgelt ist auf Grund der Ansässigkeit des Versicherungsnehmers in Deutschland steuerbar.

III. Versicherungsverhältnis mit Drittlandversicherer (§ 1 Abs. 3 VersStG)

1. Drittlandversicherer

44„Versicherer, der außerhalb des Gebietes der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraums niedergelassen ist“ i.S. des § 1 Abs. 3 VersStG (sog. Drittlandversicherer) ist ein Versicherer mit Sitz außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums. Hierzu gehören auch Versicherer, die dem Kapitel IX der Richtlinie 2009/138/EG - Solvabilität II („In der Gemeinschaft ansässige Zweigniederlassungen von Versicherungs- oder Rückversicherungsunternehmen mit Sitz außerhalb der Gemeinschaft“) unterfallen und über eine behördliche Erlaubnis nach den Vorschriften des Versicherungsaufsichtsgesetzes (VAG) für ihre Tätigkeit im Geltungsbereich des VersStG verfügen. (Siehe dazu auch die Ausführungen unter B. II. 1. zu „EWR-Versicherer“, Rz. 11 f.).

2. Die einzelnen Tatbestände des § 1 Abs. 3 VersStG
a) Ansässigkeit des Versicherungsnehmers in Deutschland

45Der Hauptanwendungsfall ist in Nr. 1 geregelt, der darauf abstellt, dass der Versicherungsnehmer bei Zahlung des Versicherungsentgelts seinen Sitz, Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes hat.

b) Ansässigkeit des Versicherungsnehmers außerhalb Deutschlands

46In den Fällen des § 1 Abs. 3 Nrn. 2 und 3 VersStG sind Versicherungsentgeltzahlungen steuerbar, auch wenn der Versicherungsnehmer nicht in Deutschland ansässig ist.

47aa)
Bei der Versicherung von Gegenständen reicht es nach Nr. 2 aus, dass sich der Gegenstand im Zeitpunkt der Begründung des Versicherungsverhältnisses im Geltungsbereich des Gesetzes befand.

48bb)
Nach Nr. 3 genügt für die Steuerbarkeit, dass sich die Versicherung unmittelbar oder mittelbar auf ein Unternehmen, eine Betriebsstätte oder eine sonstige Einrichtung im Geltungsbereich des Gesetzes bezieht.

49Die in den Nrn. 2 und 3 geregelten Tatbestände haben nur dann Relevanz, wenn der Versicherungsnehmer über keinen Sitz, Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes verfügt, anderenfalls ist bereits die Nr. 1 einschlägig.

c) Beispiele
50Beispiel 1:

Ein Unternehmen mit Sitz in Deutschland versichert die mit seiner Produktionsstätte verbundenen Umweltrisiken bei einem Versicherungsunternehmen in den USA.

Ergebnis: Die Steuerbarkeit in Deutschland ergibt sich aus § 1 Abs. 3 Nr. 1 VersStG, wobei es versicherungsteuerrechtlich nicht relevant ist, wo sich die Produktionsstätte befindet, d. h. in Deutschland, im EWR oder im Drittland.

51Beispiel 2:

Ein in Italien wohnhafter Versicherungsnehmer versichert bei einem im Vereinigten Königreich ansässigen Versicherer ein Bild, das sich im Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags leihweise in dem Museum einer deutschen Großstadt zu Ausstellungszwecken befindet.

Ergebnis: Die Steuerbarkeit in Deutschland ergibt sich aus § 1 Abs. 3 Nr. 2 VersStG.

52Beispiel 3:

Ein in den USA ansässiger, weltweit agierender Konzern, dem auch eine Tochtergesellschaft in Deutschland angehört, versichert bei einem US-Versicherer alle konzernangehörigen Gesellschaften weltweit.

Ergebnis: Die Steuerbarkeit in Deutschland ergibt sich aus § 1 Abs. 3 Nr. 3 VersStG (anteilig, soweit das Versicherungsentgelt für die Deckung der Risiken der in Deutschland ansässigen Tochtergesellschaft gezahlt wird).

IV. Geltungsbereich des Gesetzes

53Der Geltungsbereich des VersStG ist nicht auf das Inland beschränkt, sondern erstreckt sich nach § 1 Abs. 4 VersStG auch auf die ausschließliche deutsche Wirtschaftszone (AWZ). Die AWZ ist ein jenseits des Küstenmeers gelegenes und an dieses angrenzendes Gebiet bis zu einer Erstreckung von 200 Seemeilen ab der Basislinie (§§ 55 und 57 des UN-Seerechtsübereinkommens vom - BGBl 1982 I 1994, 3770).

54Die Regelung hat insbesondere Bedeutung für die Steuerbarkeit von Versicherungsentgelten, die für die Versicherung von Gegenständen und Anlagen gezahlt werden, die sich in der AWZ befinden, wie z. B. Windparkanlagen.

C.

Das /90 (BStBl 1990 S. 645) wird aufgehoben.

BMF v. - III C 4 - S 6400/21/10001 :001


Fundstelle(n):
BStBl 2021 I Seite 325
DStR 2021 S. 12 Nr. 10
UAAAH-73268

1ABl. 1988, L 172 vom

2ABl. 2009, L 335 vom

3Vgl. Artikel 13 Nr. 13 Buchstabe d ii der Richtlinie 2009/138/EG (Solvabilität II)