FinMin Nordrhein-Westfalen - S 0351

Begriff des groben Verschuldens

1. Die gesetzliche Regelung

Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.

Der Korrekturausschluss bei grobem Verschulden beruht darauf, dass die Tatsachen und Beweismittel aus dem Lebensbereich des Steuerpflichtigen stammen. Er muss sie deshalb zur Erfüllung seiner Erklärungs- und Mitwirkungspflicht rechtzeitig vorbringen. Einwendungen gegen den Steuerbescheid, die nicht auf neuen Tatsachen oder Beweismitteln beruhen, rechtfertigen die Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht.

2. Begriff des groben Verschuldens

„Grobes” Verschulden ist Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit. Vorsätzlich handelt der Steuerpflichtige, wenn er seine Erklärungs- und Mitwirkungspflicht kennt und ihre Verletzung will oder bewusst in Kauf nimmt. Grob fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt, zu der er nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist, in besonders schwerem Maße verletzt, wer nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss oder wer schon die einfachsten, ganz naheliegenden Überlegungen nicht anstellt (, BStBl 1983 II S. 324, und vom , X R 57/82, BStBl 1988 II S. 713). Bei der Beurteilung der Schwere der Verletzung dieser Sorgfaltspflicht sind die Gegebenheiten des Einzelfalls und die individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten des einzelnen Steuerpflichtigen zu berücksichtigen (, BStBl 1984 II S. 693).

Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung sind von der Finanzbehörde Anhaltspunkte für das Vorliegen eines groben Verschuldens darzulegen und ggf. zu beweisen, wobei verbleibende Zweifel zulasten des Finanzamts gehen (vgl. , BStBl 2017 II S. 7). Da sich die zur Beurteilung des groben Verschuldens erforderlichen Umstände überwiegend in der Sphäre des Steuerpflichtigen bzw. seines steuerlichen Beraters abspielen, ist dem Finanzamt ein konkreter Nachweis des groben Verschuldens regelmäßig nur schwer möglich. Der BFH hat jedoch in st. Rspr. entschieden, in welchen Fällen regelmäßig von einem groben Verschulden auszugehen ist (vgl. Tz. 2.1 ff.). In derartigen Fällen bestehen daher Anhaltspunkte dafür, dass ein grobes Verschulden vorliegt.

Bei elektronisch gefertigten Steuererklärungen ist der Begriff des Verschuldens in gleicher Weise auszulegen wie bei schriftlich gefertigten Erklärungen (, BStBl 2017 II S. 7).

Für die Beurteilung, ob der Steuerpflichtige seine Steuererklärung grob oder leicht fahrlässig unvollständig ausgefüllt hat, ist auf die Eindeutigkeit der Vordruckgestaltung und die Laienverständlichkeit vorhandener Erläuterungen abzustellen.

Das grobe Verschulden des Steuerpflichtigen am nachträglichen Bekanntwerden steuermindernder Tatsachen oder Beweismittel wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Finanzamt seinerseits seinen Fürsorge- oder Ermittlungspflichten nicht hinreichend nachgekommen ist (, BStBl 1992 II S. 65). Im Einzelfall kann jedoch ein grobes Verschulden des Steuerpflichtigen zu verneinen sein, wenn die Verletzung der Ermittlungs- und Fürsorgepflichten durch die Finanzbehörde ursächlich für die verspätete Geltendmachung der steuermindernden Tatsachen oder Beweismittel war, z.B. bei irreführender Auskunftserteilung.

2.1 Verletzung der Mitwirkungspflichten

Mit grobem Verschulden handelt, wer es in Kenntnis seiner Steuererklärungspflicht dazu kommen lässt, dass das Finanzamt die Besteuerungsgrundlagen schätzt. Grobes Verschulden liegt regelmäßig auch dann vor, wenn der Steuerpflichtiger trotz gesetzlicher Verpflichtung keine Buchführung einrichtet oder keine Bilanzen erstellt (, BFH/NV 1988 S. 348).

2.2 Fehler des Steuerpflichtigen bei der Ermittlung und Erklärung des Sachverhalts

Der Steuerpflichtige ist verpflichtet, bei der Ermittlung des Sachverhalts mitzuwirken, insb. die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß darzulegen (§ 90 Abs. 1 AO). Gibt er rechtserhebliche Tatsachen nicht rechtzeitig an, so muss er die Gründe darlegen, die ihn an der Erfüllung der Mitwirkungspflicht gehindert haben. Die bloße Behauptung, er habe die Tatsachen vergessen, reicht nicht aus.

Offensichtliche Versehen und alltägliche Irrtümer, die sich nie ganz vermeiden lassen, wie z.B. Verwechslungen, Schreib-, Rechen- oder Übertragungsfehler rechtfertigen den Vorwurf des groben Verschuldens nicht. Grobes Verschulden kann aber vorliegen, wenn das Versehen auf einer vorangegangenen Verletzung steuerlicher Pflichten beruht.

2.3 Unkenntnis steuerlicher Bestimmungen

Ein Steuerpflichtiger handelt regelmäßig grob schuldhaft, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen ganz bestimmten Vorgang bezogene Frage oder ausdrückliche Hinweise in Merkblättern, die das Finanzamt ihm zugesandt hat, nicht beachtet (, BStBl 1984 II S. 693 und vom , IX R 219/84, BStBl 1989 II S. 131). Jedoch muss dieser Hinweis für einen steuerlichen Laien ausreichend verständlich, klar und eindeutig abgefasst sein. Zudem dürfen in Bezug auf das Durchlesen von Merkblättern keine unzumutbaren Anforderungen an den Steuerpflichtigen gestellt werden (, BStBl 1993 II S. 80).

Die Unkenntnis steuerrechtlicher Bestimmungen allein kann bei einem Steuerpflichtigen ohne einschlägige Ausbildung den Vorwurf des groben Verschuldens nicht begründen. Der Mangel an Rechtskenntnissen entschuldigt den Steuerpflichtigen nur dann nicht, wenn dieser Zweifelsfragen, die sich ihm aufdrängen mussten, nicht nachgegangen ist (, BStBl 1993 II S. 80).

3. Verschulden eines Vertreters

Das grobe Verschulden eines Vertreters ist dem Steuerpflichtigen zuzurechnen. Bei der Beurteilung des Verschuldens muss sich daher ein Steuerpflichtiger, der die Hilfe eines Angehörigen der steuerberatenden Berufe in Anspruch nimmt, dessen Fähigkeiten und Sachkunde entgegenhalten lassen (, BStBl 1988 II S. 109). Ein eigenes grobes Verschulden des Steuerpflichtigen kann darin liegen, dass er die von seinem steuerlichen Berater gefertigte Steuererklärung unterschreibt, obwohl ihm bei Durchsicht der Steuererklärung ohne Weiteres hätte auffallen müssen, dass steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel nicht berücksichtigt worden sind (, BStBl 1984 II S. 2).

Bei Angehörigen der steuerberatenden Berufe stellt Unkenntnis einfacher steuerrechtlicher Vorschriften grobes Verschulden dar. Sie müssen sich laufend über die Entwicklung des Steuerrechts sowie über die einschlägige Literatur und Rechtsprechung unterrichten. Die Verkennung komplizierter rechtlicher Zusammenhänge oder die fehlerhafte Anwendung schwieriger neuer Vorschriften stellt jedoch kein grobes Verschulden dar. Die Angehörigen der steuerberatenden Berufe müssen im Rahmen ihres Mandats die tatsächlichen Umstände durch Rückfragen und Erörterungen mit dem Mandanten zu klären versuchen. Dabei dürfen sie sich auf die Richtigkeit der tatsächlichen Angaben des Mandanten und ferner darauf verlassen, dass die vom Mandanten übergebenen Unterlagen richtig und vollständig sind. Sie handeln daher nur dann grob fahrlässig i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, wenn sie besonders auffällige Lücken des Sachverhalts nicht rechtzeitig schließen.

Grobes Verschulden trifft den Steuerberater, wenn er dem steuerlich unerfahrenen Steuerpflichtigen lediglich eine komprimierte Steuererklärung zur Prüfung aushändigt, ohne den Sachverhalt zu ermitteln und dem Steuerpflichtigen damit die Möglichkeit nimmt, die darin enthaltenen Angaben auf Vollständigkeit und Richtigkeit zu prüfen (, BStBl 2016 II S. 512). Setzt ein steuerlicher Berater Mitarbeiter zur Vorbereitung des Jahresabschlusses und der Steuererklärung ein, so obliegen ihm Sorgfaltspflichten hinsichtlich der Auswahl seiner Mitarbeiter, der Organisation der Arbeiten in seinem Büro und der Kontrolle der Arbeitsergebnisse der Mitarbeiter (, BStBl 1988 II S. 109).

4. Zeitpunkt des groben Verschuldens

Grobes Verschulden des Steuerpflichtigen schließt die Korrektur der Steuerfestsetzungen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nur aus, wenn es ursächlich dafür ist, dass entscheidungserhebliche Tatsachen dem Finanzamt nachträglich, d.h. erst nach der Steuerfestsetzung bekannt werden. Bei der Prüfung des groben Verschuldens ist auch der Zeitraum bis zur Bestandskraft des Steuerbescheids einzubeziehen. Ein dem Steuerpflichtigen zuzurechnendes grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO kann daher auch darin bestehen, dass er es unterlassen hat, gegen einen Steuerbescheid Einspruch einzulegen, obwohl sich ihm innerhalb der Einspruchsfrist die Geltendmachung bisher nicht vorgetragener Tatsachen hätte aufdrängen müssen (, BStBl 1984 II S. 256 und vom , I R 1/84, BFH/NV 1988 S. 348). Entsprechendes gilt, wenn der Steuerpflichtige es unterlässt, die neuen Tatsachen im Einspruchsverfahren bis zur Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung geltend zu machen. Das nachträgliche Bekanntwerden kann daher grob verschuldet sein, wenn der Steuerpflichtige es in der Hand gehabt hätte, die steuermindernden Tatsachen geltend zu machen, solange eine Änderung der Steuerfestsetzung noch uneingeschränkt möglich war (vgl. , BFH/NV 1998 S. 682).

FinMin Nordrhein-Westfalen v. - S 0351

Fundstelle(n):
AO-StB 2019 S. 340 Nr. 11
DB 2019 S. 1822 Nr. 33
DStR 2019 S. 2086 Nr. 40
RAAAH-32224