BSG Beschluss v. - B 12 R 38/12 B

Nichtzulassungsbeschwerde - Bezeichnung des Verfahrensmangels - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - ordnungsgemäße Bescheidung eines Antrags auf Terminverlegung - Beurteilbarkeit der Verhandlungs- bzw Reisefähigkeit durch das Gericht bei kurz vor dem Termin gestellten Anträgen

Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 202 SGG, § 227 Abs 1 ZPO, § 227 Abs 2 ZPO, § 227 Abs 4 S 1 Halbs 1 ZPO

Instanzenzug: SG Frankfurt Az: S 31 R 473/11 Gerichtsbescheidvorgehend Hessisches Landessozialgericht Az: L 2 R 83/12 Urteil

Gründe

1I. In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrundeliegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten - so das LSG - über die Rechtmäßigkeit der Rückforderung eines Zuschusses zu den Aufwendungen des beklagten Rentenversicherungsträgers für die Krankenversicherung.

2Der Kläger ist Rechtsanwalt und vertritt sich in eigener Sache selbst. Durch Gerichtsbescheid vom hat das SG die gegen die Bescheide der Beklagten gerichtete Klage abgewiesen. Der Gerichtsbescheid ist dem Kläger am zugestellt worden. Mit einem per Telefax an das SG am (Dienstag) übermittelten Schreiben vom hat der Kläger hiergegen Berufung eingelegt. Das Telefax ist mit Schreiben vom an das LSG weitergeleitet worden. Auf den Hinweis des LSG auf die mögliche Nichteinhaltung der Berufungsfrist hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt: Aufgrund seiner gesundheitlichen Situation sei er wiederholt in stationärer Behandlung gewesen. Als er am in seiner Kanzlei gewesen sei, habe er den Gerichtsbescheid des SG vorgefunden und das auf dem Umschlag handschriftlich vermerkte Datum der Zustellung als "" gelesen. Es sei eindeutig, dass es sich bei der Tagesangabe um die Ziffern 26 und nicht um die Ziffern 20 handele, da sich der Schriftzug an der zweiten Stelle der Tagesangabe von dem Schriftzug der Ziffer 0 in der Monatsangabe unterscheide, weil er keinen geschlossenen Kreis bilde, sondern rechts offen sei.

3Das LSG hat einen Termin zur mündlichen Verhandlung am um 9.30 Uhr bestimmt und die Beteiligten hierüber durch Schreiben vom , das dem Kläger am zugestellt worden ist, informiert. Der Kläger ist darin darauf hingewiesen worden, dass es ihm frei stehe, zur Verhandlung zu erscheinen.

4Mit Schreiben vom hat der Kläger beantragt, den Termin am "" aufzuheben. Unter der Datumsangabe enthält es den Zusatz "Bitte sofort vorlegen! Termin: 26-06-2012!". Zur Begründung hat er angeführt, derzeit aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage zu sein, einen so frühen Termin wahrzunehmen. Die Erledigung der vor Verlassen der Wohnung anstehenden "Notwendigkeiten etc." nehme mehrere Stunden in Anspruch. Erforderliche fremde Hilfe sei so früh am Tage nicht verfügbar. Vor allem sei es ihm aufgrund der Wirkungen der "notwendigen starken Schmerzmittel (Schläfrigkeit)" nicht möglich, so früh eine Reise zu unternehmen und einen Gerichtstermin wahrzunehmen. Dies sei allenfalls für einen Termin am späten Vormittag einrichtbar. Die persönliche Wahrnehmung des Termins halte er für notwendig, auch deshalb, um den Umschlag im Original vorzulegen, mit dem der Gerichtsbescheid des SG übersandt und auf dem handschriftlich das Datum der Zustellung vermerkt worden sei.

5Nach den Feststellungen des LSG ist das Schreiben des Klägers vom per Telefax am (Freitag) um 20.38 Uhr beim LSG eingegangen. Das in den Akten befindliche Originalschreiben trägt den Eingangsstempel des (Montag). Am (Dienstag) hat das LSG in Abwesenheit des Klägers eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Dem Sitzungsvertreter der Beklagten ist eine Kopie des Schriftsatzes des Klägers vom überreicht worden.

6Durch Urteil vom hat das LSG die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Es habe trotz des Vertagungsantrags des Klägers in dessen Abwesenheit verhandeln und entscheiden können, weil dem Antrag nicht zu entsprechen gewesen sei, da er die geltend gemachten Vertagungsgründe schon nicht glaubhaft gemacht habe. Die Berufung sei wegen Versäumung der Berufungsfrist unzulässig. Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lägen nicht vor. Insbesondere hätte der Kläger bei einer nicht sicheren Lesbarkeit des Zustellungsvermerks zB beim SG nachfragen müssen, welches Datum richtig sei.

7Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde. Er rügt ua die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör.

8II. 1. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig. Ihre Begründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Insbesondere bezeichnet sie die Tatsachen, aus denen sich der geltend gemachte Verfahrensmangel (Zulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG) einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) ergibt. Weitergehender Ausführungen zum Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler bedarf es nicht, wenn - wie hier - ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein (vgl - Juris RdNr 10; BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62).

92. Die Beschwerde ist auch begründet. Das LSG-Urteil ist schon deshalb verfahrensfehlerhaft, weil das LSG den Antrag des Klägers auf Terminsaufhebung vom nicht ordnungsgemäß beschieden hat.

10Gemäß § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Dieser Mündlichkeitsgrundsatz räumt den Beteiligten und ihren Prozessbevollmächtigten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Dem Grundsatz kommt im Berufungsverfahren besondere Bedeutung zu, wenn - wie vorliegend - erstinstanzlich ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden wurde (zum Ausschluss der Möglichkeit der Zurückweisung der Berufung durch Beschluss in einem solchen Fall vgl § 153 Abs 4 S 1 SGG). Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in einer mündlichen Verhandlung umfasst auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten oder auf Vertagung eines bereits begonnenen Termins, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist (§ 227 Abs 1 ZPO iVm § 202 SGG). Die erheblichen Gründe sind auf Verlangen des Vorsitzenden, für eine Vertagung auf Verlangen des Gerichts glaubhaft zu machen (§ 227 Abs 2 ZPO iVm § 202 SGG). Über einen Aufhebungs- oder Verlegungsantrag hat der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 227 Abs 4 S 1 Halbs 1 ZPO iVm § 202 SGG). Ein Antrag auf Terminsaufhebung bzw -verlegung ist förmlich (kurz) zu bescheiden, sofern dies noch technisch durchführbar und zeitlich zumutbar ist (zB OLG Karlsruhe MDR 1991, 1195; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 71. Aufl 2013, § 227 RdNr 56 mwN). Über die Entscheidung sind die Beteiligten (formlos) in Kenntnis zu setzen (vgl § 329 Abs 2 S 1 ZPO iVm § 202 SGG). Kommt der Vorsitzende seiner Verpflichtung zur Bescheidung eines Terminsaufhebungs- bzw -verlegungsantrags bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung nicht nach, leidet das Verfahren wegen der Versagung rechtlichen Gehörs an einem wesentlichen Mangel (vgl - Juris RdNr 8; Beschluss vom - B 2 U 269/12 B - Juris RdNr 10 jeweils mwN). Dies ist hier anzunehmen.

11a) Der Antrag auf Terminsaufhebung ist per Telefax am Freitag, den , und per Post am Montag, den , beim LSG eingegangen. Ob er dem Senatsvorsitzenden zeitnah vorgelegt oder dem erkennenden Senat des LSG erst nach Beginn der mündlichen Verhandlung von der Geschäftsstelle zugeleitet wurde, wofür seine Qualifizierung als "Vertagungsantrag" in den Entscheidungsgründen des LSG-Urteils spricht, kann offenbleiben: Zum einen ist davon auszugehen, dass der Kläger durch die Zuleitung des Antrags per Telefax am Freitagabend vor der für Dienstagvormittag anberaumten Sitzung das seinerseits Erforderliche getan hatte, um eine rechtzeitige Entscheidung über seinen Terminsaufhebungsantrag noch vor dem Termin zu ermöglichen. Zum anderen lag das Schreiben jedenfalls spätestens in der mündlichen Verhandlung vor, da ausweislich der Sitzungsniederschrift dem Sitzungsvertreter der Beklagten eine Abschrift ausgehändigt wurde.

12b) Es sind keine Gründe ersichtlich, die einer Entscheidung über den Antrag auf Terminsaufhebung vor Durchführung der mündlichen Verhandlung und dem Versuch einer Kontaktaufnahme mit dem Kläger am Vortag der mündlichen Verhandlung entgegengestanden hätten. Eine entsprechende Entscheidung des Vorsitzenden war möglich und zumutbar. Sie war auch nicht entbehrlich: Der Kläger hatte einen Antrag auf Terminsaufhebung ausdrücklich gestellt und hierfür ua gesundheitliche Gründe - unbeachtlich ihrer Qualität - angegeben. In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob dem Antrag zu folgen gewesen wäre. Es ist durchaus zweifelhaft, ob der Kläger den oben genannten gesetzlichen Anforderungen entsprechend erhebliche Gründe für eine Terminsaufhebung glaubhaft gemacht hat. Wird eine Terminsaufhebung bzw -verlegung erst einen Tag vor der anberaumten mündlichen Verhandlung beantragt und mit einer Erkrankung begründet, so muss der Verhinderungsgrund so dargelegt und untermauert sein, dass das Gericht ohne weitere Nachforschungen selbst beurteilen kann, ob Verhandlungs- bzw Reisefähigkeit besteht. Im Falle eines erst kurz vor dem Termin gestellten Aufhebungs- bzw Verlegungsantrags ist das Gericht - jedenfalls bei einem anwaltlich vertretenen Kläger - grundsätzlich weder verpflichtet, dem Betroffenen einen Hinweis zu geben, noch, ihn zur Ergänzung seines Vortrags aufzufordern oder selbst Nachforschungen anzustellen (BSG SozR 4-1500 § 110 Nr 1 RdNr 12 f mwN). Der Fall einer solchen fehlenden Handlungsnotwendigkeit des Gerichts liegt hier nach den Umständen nicht vor, denn die vom Kläger vorgetragenen Umstände schlossen jedenfalls nicht von vornherein aus, dass seine Verhandlungsunfähigkeit bestand. Demzufolge durfte das LSG den Terminsaufhebungsantrag auch nicht erst in seinem Urteil vom abhandeln.

13c) Nach Aktenlage ist auf den Terminsaufhebungsantrag des Klägers vom vor Durchführung der mündlichen Verhandlung seitens des LSG keine Entscheidung und keine Reaktion gegenüber dem Kläger erfolgt. In diesem Zusammenhang stehende verfahrensleitende Verfügungen oder Vermerke sind der Gerichtsakte nicht zu entnehmen. Selbst wenn der Antrag des Klägers dem erkennenden Senat des LSG von der Geschäftsstelle erst im Rahmen der mündlichen Verhandlung zugeleitet worden wäre, hätte das LSG angesichts der spätestens dann erkennbaren zeitlichen Abläufe zur Vermeidung eines Verfahrensfehlers den Rechtsstreit vertagen können und müssen.

143. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

154. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2013:030713BB12R3812B0

Fundstelle(n):
UAAAH-25925