BSG Beschluss v. - B 2 U 27/17 B

(Sozialgerichtliches Verfahren - Zurückverweisung wegen Verfahrensfehlers gem § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs iVm dem Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren und dem Grundsatz der Mündlichkeit - Nichtbescheidung eines Verlegungsantrag - Senatsvorsitzender)

Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 200 S 1 SGG, § 227 Abs 1 ZPO, § 227 Abs 4 ZPO, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 1 GG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: SG Gelsenkirchen Az: S 7 U 77/11vorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: L 17 U 729/11 Urteil

Gründe

1I. Streitig sind die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach Ziffer 1102 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (<BKV>, Erkrankungen durch Quecksilber oder seine Verbindungen) und der Ziffer 1302 BKV (Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe) sowie einer Wie-BK nach § 9 Abs 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Das SG Gelsenkirchen hat die Klage abgewiesen (Urteil vom ).

2Im Berufungsverfahren hat der Senatsvorsitzende des LSG Termin zur mündlichen Verhandlung auf Mittwoch, den , 10:00 Uhr bestimmt und das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet. Die Ladung ging diesem am zu. Bereits zuvor am hatte die Prozessbevollmächtigte des Klägers dem LSG angezeigt, dass sie das Mandat gegenüber dem Kläger mit Schreiben vom selben Tag niedergelegt habe und eine Wahrnehmung des Termins zur mündlichen Verhandlung von ihrer Seite nicht erfolgen werde.

3Der Kläger beantragte am , den anberaumten Termin im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand um sechs Monate zu verlegen. Dies lehnte der Vorsitzende des Senats am LSG mit Schreiben vom ab und hob gleichzeitig die Anordnung des persönlichen Erscheinens des Klägers auf.

4Daraufhin beantragte der Kläger am erneut, den Termin zur mündlichen Verhandlung am aufzuheben, zugleich lehnte er den Vorsitzenden des Senats wegen "unfairer Verhandlungsführung" als befangen ab. Diesem Schreiben beigefügt war ein ärztliches Attest des Dr. A. K. M. vom , in welchem dieser ausführt, dass aufgrund des sehr schlechten Gesundheitszustandes des Klägers er das LSG dringend bitte, den Verfahrenstermin am zu verschieben. Die Erkrankung werde es dem Kläger nicht ermöglichen, an dem Tag dem Verfahren beizuwohnen. Diesen Antrag beschied der Vorsitzende des Senats am LSG nicht mehr, nachdem das LSG am durch Beschluss den Befangenheitsantrag zurückgewiesen hatte. Das LSG hat vielmehr am in Abwesenheit des Klägers eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Durch Urteil vom selben Tag hat das LSG auf die mündliche Verhandlung hin die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen sowie die Revision nicht zugelassen. In den Urteilsgründen hat es ausgeführt, dass der Senat an einer Entscheidung nicht gehindert gewesen sei, obwohl der Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht erschienen sei. Dieser und seine damalige Bevollmächtigte seien bereits mit der Ladung am ordnungsgemäß darauf hingewiesen worden, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt werden könne. Dem Antrag auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung um mindestens sechs Monate habe der Senat nicht entsprochen. Eine kurzfristige Mandatskündigung der Bevollmächtigten, die unter Umständen eine Vertagung erfordern würde, habe nicht vorgelegen, weil diese bereits sieben Wochen vor dem Termin stattgefunden habe. Diese Zeitspanne erachte der Senat als ausreichend, einen Rechtsanwalt zu beauftragen, der sich in die Sache hätte einarbeiten können. Dass der Gesundheitszustand dem Kläger nicht erlaubt habe, seine Angelegenheiten zumindest durch Beauftragung anderer zu regeln, sei nicht belegt. Bei einer chronischen Erkrankung sei in der Regel Vorsorge für eine geeignete Vertretung zu treffen, zumal im Verfahren schon mehrfach gesundheitsbedingt eine mehrmonatige Fristverlängerung erbeten worden sei. Der Kläger, dessen persönliches Erscheinen nicht angeordnet gewesen sei, sei darauf hingewiesen worden, dass eine Vertretung zB auch durch seine Mutter, die bereits zuvor mehrfach in dem Verfahren für ihn aufgetreten sei, erfolgen könne. Die zulässige Berufung sei im Übrigen nicht begründet, weil die Anerkennungsvoraussetzungen der streitgegenständlichen BKen nicht vorlägen.

5Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs. Sein zweiter Verlegungsantrag sei verfahrensfehlerhaft abgelehnt worden. Er beruft sich dabei ua auf das Schreiben seines behandelnden Arztes vom , der im Hinblick auf seinen Gesundheitszustand um Vertagung des Verhandlungstermins gebeten habe.

6II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.

7Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) iVm dem Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG) und dem Grundsatz der Mündlichkeit (§ 124 Abs 1 SGG) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann. Ob diese zur Kennzeichnung des Verfahrensmangels überhaupt notwendig waren (s zuletzt - Juris RdNr 8; vgl - SozR 4-1750 § 227 Nr 1 RdNr 7 mwN), kann daher offenbleiben.

8Die Entscheidung des LSG beruht auf einem Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, weil der am vom Kläger gestellte (zweite) Aufhebungs- und Verlegungsantrag nicht vom insoweit allein zuständigen Vorsitzenden beschieden worden ist.

9Das Gericht entscheidet nach § 124 Abs 1 SGG, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Dieser Mündlichkeitsgrundsatz räumt den Beteiligten und ihren Prozessbevollmächtigten das Recht ein, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Gerade die in Art 6 Abs 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention grundsätzlich vorgeschriebene mündliche Verhandlung bietet eine besondere Gewähr zur Wahrung des rechtlichen Gehörs. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs in einer mündlichen Verhandlung umfasst auch das Recht auf Aufhebung oder Verlegung eines anberaumten oder auf Vertagung eines bereits begonnenen Termins, wenn dies aus erheblichen Gründen geboten ist (§ 227 Abs 1 ZPO iVm § 202 S 1 SGG). Über einen Aufhebungs- oder Verlegungsantrag hat der Vorsitzende ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 227 Abs 4 ZPO iVm § 202 S 1 SGG). Kommt er dieser Verpflichtung bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung nicht nach, leidet das Verfahren wegen der Versagung rechtlichen Gehörs an einem wesentlichen Mangel (vgl Senatsbeschluss vom - B 2 U 269/12 B - Juris RdNr 10; - Juris RdNr 10; - Juris RdNr 8; - Juris RdNr 9). Das ist hier der Fall. Der Vorsitzende des Senats am LSG hätte vor der mündlichen Verhandlung am Gelegenheit gehabt, über den Verlegungsantrag des Klägers vom zu entscheiden. Dies hat er nicht getan. Deshalb hat der Senat von dem ihm gemäß § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht und das Urteil des LSG durch Beschluss aufgehoben und die Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2017:270617BB2U2717B0

Fundstelle(n):
ZAAAG-53796