BSG Beschluss v. - B 12 SF 7/11 S

Sozialgerichtliches Verfahren - örtliche Zuständigkeit - Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses - Durchbrechung bei einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - willkürliches Verhalten des abgebenden Arbeitsgerichts bei der Verweisung von Streitigkeiten aus einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung nach dem SGB 2

Gesetze: § 58 Abs 1 Nr 4 SGG, § 17a Abs 2 GVG, § 17a Abs 4 S 4 GVG, Art 19 Abs 4 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 2 Abs 1 Nr 3 Buchst a ArbGG, § 48 ArbGG, § 16 Abs 3 SGB 2 vom , § 16d Abs 3 SGB 2 vom

Instanzenzug: SG Magdeburg Az: S 16 SV 44/10 Beschluss

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten in dem zugrunde liegenden Rechtsstreit darüber, ob ein Arbeitsverhältnis der Klägerin fortbesteht. Die Klägerin war seit dem für die Beklagte aufgrund eines bis zum befristeten, schriftlichen Arbeitsvertrags als Reinigungskraft tätig. Nachdem ihr zum fristlos gekündigt worden war, hat sie, vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigte, am vor dem Arbeitsgericht (ArbG) Magdeburg Klage erhoben und ua beantragt, festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis über den hinaus ungekündigt fortbestehe. Zur Begründung hat sie unter Vorlage von Kopien des Arbeitsvertrags sowie des Kündigungsschreibens ua ausgeführt, sie lebe "von Hartz IV" und sei auf den "1,00 €-Job" bei der Beklagten angewiesen. Das ArbG hat die Beteiligten mit Schreiben vom darauf hingewiesen, dass die Zuständigkeit des SG Magdeburg gegeben sein könnte, weil die Klägerin nach ihrem bisherigen Vortrag bei der Beklagten in einem "1,00 €-Job" stehe und eine Tätigkeit im Rahmen einer solchen Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung kein Arbeitsverhältnis begründe, und hat Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen ab Datum des Schreibens gegeben. Mit einem am im Justizzentrum Magdeburg eingegangenen Schreiben vom , nach Aktenvermerken dem zuständigen Richter vorgelegt am und zur Übersendung an die Beklagte zur Post gegeben am , hat die Klägerin mitgeteilt, dass sie sich die Beschäftigung bei der Beklagten ohne Vermittlung durch die Bundesagentur für Arbeit bzw durch das Jobcenter selbst gesucht habe, keine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung vorliege und die Zuständigkeit des ArbG gegeben sein dürfte.

2Mit Beschluss vom hat das ArbG den "Rechtsweg zum Arbeitsgericht" für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das SG Magdeburg verwiesen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt, für Streitigkeiten, die - wie hier - nicht aus einem Arbeitsverhältnis, sondern aus einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung herrührten, seien nicht die ArbGe, sondern die SGe zuständig. Gegen diesen am selben Tag zur Post gegebenen Beschluss haben die Beteiligten nach dessen Zustellung trotz entsprechender Belehrung kein Rechtsmittel eingelegt.

3Das SG hat nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom den Rechtsweg zu den SGen für unzulässig erklärt und die Streitsache dem BSG zur Bestimmung des Rechtswegs vorgelegt. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, die Verweisung des ArbG sei nicht bindend, weil sie mangels Rechtsgrundlage willkürlich und unter Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beteiligten erfolgt sei.

4II. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung in entsprechender Anwendung von § 58 Abs 1 Nr 4 SGG durch das BSG liegen vor.

5Das zuständige Gericht wird in entsprechender Anwendung von § 58 Abs 1 Nr 4 SGG auch bei einem negativen rechtswegübergreifenden Kompetenzkonflikt vom BSG bestimmt, sofern sich - wie hier - die beiden beteiligten Gerichte jeweils rechtskräftig für unzuständig erklärt haben und das BSG als für einen der beteiligten Rechtszweige zuständiger oberster Gerichtshof zuerst um die Entscheidung angegangen wird (vgl BSG SozR 1500 § 58 Nr 4; BSG Beschlüsse vom - 1 S 14/88 - MDR 1989, 189 und vom - B 12 SF 7/09 S - juris).

6Zum zuständigen Gericht ist das SG Magdeburg zu bestimmen, weil dieses an den rechtskräftigen Verweisungsbeschluss des gebunden ist.

7Gemäß § 17a Abs 2 GVG ist ein Verweisungsbeschluss wegen Unzulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs für das Gericht, an das verwiesen wurde, hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Dies gilt im Interesse des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) und einer möglichst zügigen sachlichen Entscheidung grundsätzlich unabhängig von der Verletzung prozessualer oder materieller Vorschriften. Den Streit der beteiligten Gerichte über die Anwendung von Regelungen über den Rechtsweg zu entscheiden oder in jedem Einzelfall die Richtigkeit des dem Verweisungsbeschluss zugrunde liegenden Subsumtionsvorgangs zu überprüfen, ist gerade nicht Aufgabe des übergeordneten Gerichts im Verfahren nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG (vgl - juris).

8Danach ist der von den Beteiligten nicht angefochtene Verweisungsbeschluss des nach Ablauf der Rechtsmittelfrist für das SG bindend. Die Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise eine Durchbrechung der Bindungswirkung in Betracht kommt, liegen hier entgegen der Auffassung des SG nicht vor.

9Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung kommt eine Durchbrechung der gesetzlichen Bindungswirkung wegen der von § 17a GVG selbst eröffneten Überprüfungsmöglichkeiten (vgl - Buchholz 300 § 17a GVG Nr 29) allenfalls bei krassen Rechtsverletzungen in Betracht, etwa wenn der Beschluss dazu führt, dass sich die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen in einer nicht mehr hinnehmbaren, willkürlichen Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art 101 Abs 1 S 2 GG) entfernt, so dass sie schlechthin nicht mehr zu rechtfertigen ist, nämlich wenn sie unverständlich und offensichtlich unhaltbar ist (vgl zB - WM 2011, 1281; - BFH/NV 2006, 329 mwN; - aaO). Ein zur Durchbrechung der Bindungswirkung führender Rechtsverstoß wird verneint, wenn allein der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wurde und dieser Verstoß mit einem Rechtsmittel gegen den Verweisungsbeschluss hätte gerügt werden können, hiervon jedoch abgesehen wurde (vgl - NJW 2003, 2990; vgl aber auch - NJW 2006, 1371 mwN). Für die Durchbrechung der Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses wegen örtlicher Unzuständigkeit bei einer möglichen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör hat der Senat entschieden, dass nach Einführung der Anhörungsrüge (§ 178a SGG) eine fehlende Bindung allenfalls dann noch angenommen werden kann, wenn die Verletzung des rechtlichen Gehörs von einem der Beteiligten innerhalb angemessener Frist nach Zustellung des Beschlusses geltend gemacht wird. Eine mögliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch das verweisende Gericht ist deshalb nicht ohne Rüge von dem Gericht, an das verwiesen worden ist, zu prüfen und kann ohne vorhergehende Rüge im Rahmen einer Vorlage zur Entscheidung nach § 58 SGG keine vom Verweisungsbeschluss abweichende Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts rechtfertigen (vgl BSG SozR 4-1500 § 98 Nr 2 RdNr 7). Dies gilt auch bei einer Verweisung wegen der Unzulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs. Im Hinblick auf die Anfechtbarkeit des Verweisungsbeschlusses gemäß § 17a Abs 4 S 4 GVG kann auch hier eine Durchbrechung der gesetzlich angeordneten Bindungswirkung wegen einer möglichen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör allenfalls dann in Betracht kommen, wenn einer der Beteiligten sich auf diesen Verfahrensverstoß beruft. In seiner Entscheidung vom (B 12 SF 7/09 S - juris) hat der Senat im Übrigen offengelassen, ob in Verfahren zur Bestimmung des sachlich zuständigen Gerichts, in denen ein nach Maßgabe von § 17a Abs 4 S 4 GVG mit Rechtsmitteln angreifbarer Verweisungsbeschluss - wie hier - vorliegt, dieser überhaupt nach den Maßstäben überprüfbar ist, die von der Rechtsprechung für Verweisungsbeschlüsse wegen örtlicher Unzuständigkeit angewandt werden (vgl hierzu BSG SozR 3-1720 § 17a Nr 11 S 19 ff, SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 11, SozR 4-1500 § 58 Nr 6 RdNr 15 und SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4; zuletzt Beschlüsse des , vom - B 12 SF 2/10 S - und vom - B 12 SF 7/10 S). Dies kann auch hier offenbleiben, weil die Entscheidung des ArbG nicht willkürlich ist. Auch steht der Bindungswirkung eine mögliche Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht entgegen.

10Weder der Begründung des Verweisungsbeschlusses noch den sonstigen Umständen ist zu entnehmen, dass die Verweisung auf einem willkürlichen Verhalten des abgebenden Gerichts beruhte. Allein eine möglicherweise rechtsfehlerhafte Anwendung von § 48 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG), § 17a Abs 2 GVG, § 2 Abs 1 Nr 3 ArbGG sowie § 16 Abs 3 SGB II bzw § 16d SGB II aufgrund unzutreffender Tatsachengrundlagen führt hier nicht zur Durchbrechung der Bindungswirkung. Die Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen durch das ArbG stellt sich nicht als willkürlich, dh unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar, unverständlich und offensichtlich unhaltbar dar. Das ArbG ist aufgrund der Auslegung des § 2 Abs 1 Nr 3 Buchst a ArbGG zu dem Ergebnis gelangt, dass im vorliegenden Rechtsstreit nicht die Zuständigkeit eines ArbG, sondern der Rechtsweg zu den SGen gegeben sei. Dabei hat es darauf abgestellt, dass die Zuständigkeit des ArbG für Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern aus einem Arbeitsverhältnis begründet sei und dass nach § 16 Abs 3 SGB II in der vom bis zum geltenden Fassung bzw § 16d SGB II in der ab geltenden Fassung eine Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung im Sinne dieser Vorschriften kein Arbeitsverhältnis im Sinne des Arbeitsrechts begründe. Ergänzend hat es sich dazu auf die Rechtsprechung des - BAGE 120, 92 = NZA 2007, 53 und Urteil vom - 5 AZR 290/07 - DB 2008, 1159) gestützt. Aus den Angaben im letzten Absatz der Klageschrift vom hat es geschlossen, dass die Klägerin nicht aufgrund eines Arbeitsverhältnisses, sondern eines sog 1-Euro-Jobs tätig geworden sein könnte. Auch wenn zusätzlich ein Arbeitsvertrag in Kopie vorgelegt worden ist, war es nicht völlig unvertretbar, aufgrund des Vorbringens der durch eine Rechtsanwältin vertretenen Klägerin das Vorliegen eines sog 1-Euro-Jobs in Betracht zu ziehen. Nachdem die Beteiligten hierauf hingewiesen worden waren und innerhalb der gesetzten Frist keine Stellungnahme erfolgte, war der Schluss nicht unvertretbar, es habe tatsächlich eine Arbeitsgelegenheit nach § 16d SGB II bestanden. Es kann deshalb nicht als willkürliches Verhalten gewertet werden, dass die Kammer des ArbG unter Beteiligung der ehrenamtlichen Richter am den Rechtsweg nicht zu den ArbGen, sondern zu den SGen als gegeben angesehen und den Rechtsstreit durch Beschluss verwiesen hat. Zwar hat die Klägerin nach Ablauf der gesetzten Frist mit Schreiben vom , eingegangen beim Justizzentrum Magdeburg am , darauf hingewiesen, dass ein Arbeitsverhältnis vorliege, weil sie sich die Tätigkeit ohne Vermittlung selbst gesucht habe; dieses Schreiben wurde dem zuständigen Richter jedoch nach einem Aktenvermerk erst am und - wie die Abfolge der abgehefteten Schriftstücke in der Gerichtsakte nahelegt und wovon auch das SG ausgeht - erst nach Beschlussfassung und möglicherweise auch erst nach Aufgabe des Beschlusses zur Post vorgelegt. Es ist deshalb nicht ersichtlich, dass die Kammer des ArbG den Inhalt dieses Schriftsatzes bei ihrer Beschlussfassung kannte.

11Entgegen der Auffassung des SG entfällt die Bindungswirkung auch nicht deshalb, weil das ArbG bei der Beschlussfassung elementare Verfahrensgrundsätze missachtet haben könnte. Es kann dahinstehen, ob der Beschluss, wie das SG meint, unter Verletzung des Anspruchs der Beteiligten auf rechtliches Gehör ergangen ist, weil das ArbG den Inhalt des Schriftsatzes der Klägerin vom nicht zur Kenntnis genommen und bei seiner Kammerentscheidung nicht berücksichtigt hat. Denn eine Durchbrechung der Bindungswirkung durch diesen Verfahrensverstoß käme - wie oben ausgeführt - allenfalls in Betracht, wenn sich ein Beteiligter hierauf berufen hätte. Dies ist hier nicht erfolgt.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2012:210212BB12SF711S0

Fundstelle(n):
QAAAH-25601