BSG Beschluss v. - B 11 SF 5/23 S

Sozialgerichtliches Verfahren - Zuständigkeitsbestimmung - örtliche Zuständigkeit - Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses - Ausnahme - willkürliche Entscheidung - Nichtanwendung einer einschlägigen Norm - Übersehen einer neuen Regelung

Gesetze: § 58 Abs 1 Nr 4 SGG, § 57 Abs 3 SGG, § 98 S 1 SGG, § 17a Abs 2 S 3 GVG, § 369 SGB 3

Instanzenzug: Az: S 17 AL 85/23 Beschluss

Gründe

1Die Voraussetzungen einer Zuständigkeitsbestimmung nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG ("negativer Kompetenzkonflikt") durch das BSG liegen vor. Zwar sind nach § 98 Satz 1 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 3 GVG rechtskräftige Verweisungsbeschlüsse für das Gericht, an das der Rechtsstreit verwiesen worden ist, grundsätzlich bindend. Die Bestimmung des zuständigen Gerichts hat aber zu erfolgen, wenn dies zur Wahrung einer funktionierenden Rechtspflege und der Rechtssicherheit notwendig ist. Dies ist der Fall, wenn es innerhalb eines Verfahrens zu Zweifeln über die Bindungswirkung eines rechtskräftigen Verweisungsbeschlusses kommt und keines der infrage kommenden Gerichte bereit ist, die Sache zu bearbeiten. Dies ist vorliegend der Fall. Das SG Nürnberg konnte von einem eigenen Verweisungsbeschluss absehen und von seiner Unzuständigkeit ausgehend unmittelbar das BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts anrufen (vgl - SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 8).

2Zuständig ist das SG Gotha. Die Verweisung an das SG Nürnberg ist für dieses nicht bindend, weil der Verweisungsbeschluss willkürlich ist. Das Gesetz schreibt in § 98 Satz 1 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 3 GVG vor, dass eine Verweisung wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wird, bindend ist. Nur in seltenen Ausnahmefällen kommt eine Durchbrechung der Bindungswirkung in Betracht, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder auf willkürlichen Erwägungen beruht ( - juris RdNr 4 mwN; - juris RdNr 5). Eine - aus Sicht des übergeordneten Gerichts - fehlerhafte Auslegung des Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Es kommt daher nicht darauf an, ob das übergeordnete Gericht die gleiche Rechtsauffassung vertreten würde, sondern ob die vom untergeordneten Gericht vertretene Rechtsauffassung noch vertretbar ist. Unvertretbarkeit und damit Willkür im hiesigen Sinne liegt erst vor, wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird und die vertretene Auffassung jeden sachlichen Grunds entbehrt, sodass sich die Verweisung bei Auslegung und Anwendung der maßgeblichen Normen in einer nicht mehr hinnehmbaren Weise von dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt (stRspr; vgl nur - juris RdNr 9; - juris RdNr 7; - juris RdNr 6; - juris RdNr 5). Ist eine Entscheidung derart unverständlich, dass sie sachlich schlechthin unhaltbar ist, ist sie objektiv willkürlich ( - BVerfGE 57, 39 [42]; BVerfG [K] vom - 2 BvR 103/20 - juris RdNr 64). Maßgeblich ist, ob die Entscheidung im Ergebnis objektiv vertretbar ist (vgl BVerfG [K] vom - 1 BvR 3271/14 - juris RdNr 13 f; BVerfG [K] vom - 1 BvR 484/22 - juris RdNr 10). Auf subjektive Umstände oder ein Verschulden des Gerichts kommt es dabei nicht an ( - BVerfGE 57, 39 [42]; BVerfG [K] vom - 2 BvR 103/20 - juris RdNr 64 mwN).

3Objektiv willkürlich ist eine Entscheidung etwa dann, wenn das Gericht eine einschlägige Norm nicht angewendet hat (stRspr; vgl etwa - BVerfGE 96, 189 [203]; BVerfG [K] vom - 2 BvR 2222/21 - juris RdNr 43 mwN). Soweit der 4. Senat des BSG entschieden hat, dass das Übersehen einer neuen Sonderregelung eine Entscheidung nicht willkürlich macht ( - juris RdNr 4), hält der nunmehr allein für Verfahren nach § 58 SGG zuständige 11. Senat hieran nicht fest, da objektiver Willkür gerade nicht entgegensteht, falls dem Gericht lediglich versehentlich ein nachvollziehbarer Fehler unterlaufen ist.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2023:140623BB11SF523S0

Fundstelle(n):
OAAAJ-46197