EuGH Urteil v. - C-527/16

Gründe

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

35Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist.

36Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach einer Bestimmung des Titels II der Verordnung Nr. 883/2004, also auch aufgrund ihres Art. 12 Abs. 1, anzuwenden sind, auf Antrag der betreffenden Person oder ihres Arbeitgebers bescheinigt, dass und gegebenenfalls wie lange und unter welchen Umständen diese Rechtsvorschriften anzuwenden sind.

37Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 sieht vor, dass vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Verordnung Nr. 883/2004 und der Verordnung Nr. 987/2009 bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich sind, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden.

38Wie das vorlegende Gericht ausführt, heißt es in dieser Bestimmung zwar, dass die dort genannten Dokumente des Ausstellungsmitgliedstaats für die „Träger“ der anderen Mitgliedstaaten verbindlich sind, ohne ausdrückliche Bezugnahme auf deren Gerichte.

39Die genannte Bestimmung sieht aber auch vor, dass solche Dokumente „so lange verbindlich [sind], wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden“, was darauf hindeutet, dass grundsätzlich nur die Behörden und Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats die A1-Bescheinigungen gegebenenfalls widerrufen oder für ungültig erklären können.

40Diese Auslegung wird durch die Entstehungsgeschichte und den Kontext von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 gestützt.

41Insbesondere hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Bindungswirkung einer vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats gemäß Art. 12a Nr. 1a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. 1972, L 74, S. 1), ausgestellten Bescheinigung E 101, dem Vorläufer der A1-Bescheinigung, sowohl die Träger als auch die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, erfasst (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Herbosch Kiere, C-2/05, EU:C:2006:69, Rn. 30 bis 32, und vom , A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn. 51).

42Im zwölften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 987/2009 heißt es u. a., dass sich die Maßnahmen und Verfahren dieser Verordnung „aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs …, aus den Beschlüssen der Verwaltungskommission und aus über dreißig Jahren Praxis in der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im Rahmen der im Vertrag verankerten Grundfreiheiten“ ergeben.

43Desgleichen hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass mit der Verordnung Nr. 987/2009 die Rechtsprechung des Gerichtshofs kodifiziert worden ist, indem darin der bindende Charakter der Bescheinigung E 101 und die ausschließliche Zuständigkeit des ausstellenden Trägers für die Beurteilung ihrer Gültigkeit verankert wurden und ausdrücklich das Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten sowohl über die Richtigkeit der vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats ausgestellten Dokumente als auch über die Bestimmung der auf den betreffenden Arbeitnehmer anwendbaren Rechtsvorschriften übernommen wurde (Urteil vom , A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn. 59, und Beschluss vom , Belu Dienstleistung und Nikless, C-474/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:812, Rn. 19).

44Folglich hätte der Unionsgesetzgeber, wenn er beim Erlass der Verordnung Nr. 987/2009 von der früheren insoweit ergangenen Rechtsprechung hätte abweichen wollen, ausdrücklich vorsehen können, dass für die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten A1-Bescheinigungen nicht verbindlich sein sollen.

45Im Übrigen behalten, wie der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die der Rechtsprechung zur Bindungswirkung der Bescheinigungen E 101 zugrunde liegenden Erwägungen im Rahmen der Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 ihre volle Gültigkeit. Insbesondere wird u. a. im sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 987/2009 der Grundsatz der Rechtssicherheit angeführt, und im 15. Erwägungsgrund sowie in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 wird der Grundsatz der Eingliederung der Arbeitnehmer in ein einziges System der sozialen Sicherheit genannt, während die Bedeutung des Prinzips der vertrauensvollen Zusammenarbeit sowohl aus Art. 76 der Verordnung Nr. 883/2004 als auch aus dem zweiten Erwägungsgrund und aus Art. 20 der Verordnung Nr. 987/2009 hervorgeht.

46Könnte der zuständige nationale Träger, abgesehen von Fällen des Betrugs oder des Rechtsmissbrauchs, eine A1-Bescheinigung von einem Gericht des Aufnahmemitgliedstaats des betreffenden Arbeitnehmers für ungültig erklären lassen, wäre daher das auf der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der Mitgliedstaaten beruhende System gefährdet (vgl. in diesem Sinne, zu den Bescheinigungen E 101, Urteile vom , Herbosch Kiere, C-2/05, EU:C:2006:69, Rn. 30, vom , A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn. 47, sowie vom , Altun u. a., C-359/16, EU:C:2018:63, Rn. 54, 55, 60 und 61).

47Demnach ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist.

Zur zweiten Frage

Zum ersten Teil der zweiten Frage

48Mit dem ersten Teil seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung, solange sie von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurde, weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist, auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte verbindlich ist, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die Verwaltungskommission angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte.

– Zur Zulässigkeit

49Die ungarische Regierung trägt vor, der erste Teil der zweiten Vorlagefrage sei hypothetischer Natur, da die Verwaltungskommission im vorliegenden Fall eine Lösung gefunden habe, die sowohl von der Republik Österreich als auch von Ungarn akzeptiert worden sei, und die ungarischen Behörden infolgedessen ihre Bereitschaft zum Widerruf der fraglichen A1-Bescheinigungen zum Ausdruck gebracht hätten.

50Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es, wie der Gerichtshof vielfach entschieden hat, allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung oder die Gültigkeit einer Rechtsvorschrift der Union betreffen (Urteil vom , American Express, C-304/16, EU:C:2018:66, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine von einem nationalen Gericht vorgelegte Frage zu befinden, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer Unionsvorschrift offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom , American Express, C-304/16, EU:C:2018:66, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52Im vorliegenden Fall ist den dem Gerichtshof vorliegenden Akten zwar zu entnehmen, dass die Verwaltungskommission am eine Stellungnahme abgab, wonach Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen sei, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden A1-Bescheinigungen nie hätten ausgestellt werden dürfen und widerrufen werden sollten, und dass diese Stellungnahme anschließend von der Verwaltungskommission in ihrer 347. Sitzung am 20. und angenommen wurde.

53Fest steht jedoch, dass diese Bescheinigungen weder vom zuständigen Träger in Ungarn widerrufen noch von den ungarischen Gerichten für ungültig erklärt wurden.

54Ferner geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervor, dass die Republik Österreich und Ungarn keine Einigung über die Modalitäten eines etwaigen Widerrufs der Bescheinigungen oder zumindest einiger von ihnen erzielen konnten. Darüber hinaus enthalten die Akten Anhaltspunkte dafür, dass die Umsetzung der genannten Stellungnahme im Hinblick auf das vorliegende Vorabentscheidungsverfahren aufgeschoben wurde, in dem die ungarische Regierung u. a. vorbringt, dass der zuständige ungarische Träger die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden A1-Bescheinigungen aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 zu Recht ausgestellt habe.

55Daraus folgt, dass die den Ausgangsrechtsstreit kennzeichnenden Sachverhaltselemente, wie sie sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ergeben, den tatsächlichen Prämissen des ersten Teils der zweiten Vorlagefrage entsprechen. Unter diesen Voraussetzungen nimmt der Umstand, dass Ungarn zumindest grundsätzlich mit dem Ergebnis, zu dem die Verwaltungskommission kam, einverstanden war, dieser Frage keineswegs die Relevanz für die Lösung des Ausgangsrechtsstreits.

56Im Übrigen kann die Tatsache, dass die Verwaltungskommission zu dem Ergebnis kam, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden A1-Bescheinigungen widerrufen werden sollten, als solche nicht zur Unzulässigkeit dieser Vorlagefrage führen, da mit ihr gerade geklärt werden soll, ob dieses Ergebnis Auswirkungen auf die Bindungswirkung der Bescheinigungen für die Behörden und Gerichte des Mitgliedstaats haben kann, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird.

57Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der erste Teil der zweiten Vorlagefrage hypothetischer Natur ist, so dass die in Rn. 51 des vorliegenden Urteils angeführte Vermutung der Entscheidungserheblichkeit nicht außer Kraft gesetzt wird.

– Zur Beantwortung der Frage

58Nach Art. 72 der Verordnung Nr. 883/2004, in dem die Aufgaben der Verwaltungskommission aufgezählt werden, hat sie u. a. alle Verwaltungs- und Auslegungsfragen zu behandeln, die sich aus dieser Verordnung oder der Verordnung Nr. 987/2009 oder in deren Rahmen geschlossenen Abkommen oder getroffenen Vereinbarungen ergeben, wobei jedoch das Recht der betreffenden Behörden, Träger und Personen unberührt bleibt, die Verfahren und Gerichte in Anspruch zu nehmen, die nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, nach dieser Verordnung sowie nach dem Vertrag vorgesehen sind.

59Gemäß Art. 72 der Verordnung hat die Verwaltungskommission ferner die Aufgabe, die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und ihren Trägern im Bereich der sozialen Sicherheit zu fördern und zu stärken, um u. a. spezifische Fragen in Bezug auf bestimmte Personengruppen zu berücksichtigen, und die Durchführung von Maßnahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Koordinierung der sozialen Sicherheit zu erleichtern.

60Speziell für einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens, in dem eine Meinungsverschiedenheit zwischen den zuständigen Trägern von zwei Mitgliedstaaten über Dokumente oder Belege im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 aufgetreten ist, sehen die Abs. 2 bis 4 dieses Artikels ein Verfahren zur Lösung dieser Meinungsverschiedenheit vor. Insbesondere ist in Art. 5 Abs. 2 und 3 geregelt, welche Schritte die betreffenden Träger bei Zweifeln an der Gültigkeit solcher Dokumente bzw. Belege oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den darin enthaltenen Angaben zugrunde liegt, zu unternehmen haben. Erzielen die betreffenden Träger keine Einigung, so können die zuständigen Behörden nach Art. 5 Abs. 4 die Verwaltungskommission anrufen, die sich binnen sechs Monaten nach ihrer Befassung „um eine Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte“ bemüht.

61Wie der Gerichtshof bereits hinsichtlich der Verordnung Nr. 1408/71 entschieden hat, steht es in einem Fall, in dem es der Verwaltungskommission nicht gelingt, zwischen den Standpunkten der zuständigen Träger in Bezug auf das anwendbare Recht zu vermitteln, dem Mitgliedstaat, in dem der betreffende Arbeitnehmer eine Arbeit ausführt – unbeschadet einer im Mitgliedstaat des ausstellenden Trägers etwa möglichen Klage –, zumindest frei, gemäß Art. 259 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, damit der Gerichtshof die Frage des auf diesen Arbeitnehmer anwendbaren Rechts und damit die Richtigkeit der Angaben in der Bescheinigung E 101 prüfen kann (Urteil vom , A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn. 46).

62Somit beschränkt sich die Rolle der Verwaltungskommission im Rahmen des in Art. 5 Abs. 2 bis 4 der Verordnung Nr. 987/2009 vorgesehenen Verfahrens auf eine Annäherung der Standpunkte der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, die sie angerufen haben.

63Diese Feststellung wird nicht durch Art. 89 Abs. 3 der Verordnung Nr. 987/2009 in Frage gestellt, wonach die zuständigen Behörden sicherstellen, dass ihre Träger über sämtliche Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Union, einschließlich der Beschlüsse der Verwaltungskommission, informiert sind und diese in den Bereichen, die unter die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 fallen, unter Beachtung der dort festgelegten Bedingungen anwenden. Diese Bestimmung zielt keineswegs darauf ab, die Rolle der Verwaltungskommission im Rahmen des in der vorstehenden Randnummer genannten Verfahrens und somit den ihren Schlussfolgerungen im Rahmen dieses Verfahrens zukommenden Stellenwert als Stellungnahme zu ändern.

64Folglich ist auf den ersten Teil der zweiten Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung, solange sie von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurde, weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist, auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte verbindlich ist, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die Verwaltungskommission angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte.

Zum zweiten Teil der zweiten Frage

65Mit dem zweiten Teil seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte – gegebenenfalls rückwirkend – verbindlich ist, wenn die Bescheinigung erst ausgestellt wurde, nachdem der letztgenannte Mitgliedstaat festgestellt hat, dass der betreffende Arbeitnehmer nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist.

– Zur Zulässigkeit

66Die ungarische Regierung trägt vor, diese Frage sei hypothetischer Natur, da keine A1-Bescheinigung rückwirkend ausgestellt worden sei, nachdem die österreichischen Behörden festgestellt hätten, dass die betreffenden Arbeitnehmer nach den österreichischen Rechtsvorschriften pflichtversichert seien.

67Nach den Angaben im Vorlagebeschluss wurden einige der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden A1-Bescheinigungen rückwirkend ausgestellt. Ferner ist diesem Beschluss zu entnehmen, dass der österreichische Träger für einige der betreffenden Arbeitnehmer bereits festgestellt hatte, dass sie nach den österreichischen Rechtsvorschriften pflichtversichert sind, bevor die zuständige ungarische Behörde A1-Bescheinigungen für diese Arbeitnehmer ausstellte.

68Nach ständiger Rechtsprechung obliegt es dem nationalen Gericht, den Sachverhalt festzustellen und die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es vorlegen möchte (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Hoogstad, C-269/15, EU:C:2016:802, Rn. 19, und vom , A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn. 35).

69Folglich ist der zweite Teil der zweiten Vorlagefrage als zulässig anzusehen, da die Antwort des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht nach dessen Angaben bei der Beurteilung der Bindungswirkung zumindest eines Teils der in Rede stehenden A1-Bescheinigungen dienlich sein kann.

– Zur Beantwortung der Frage

70Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die im Einklang mit Art. 11a der Verordnung Nr. 574/72 ausgestellte Bescheinigung E 101 Rückwirkung haben kann. Insbesondere kann eine solche Bescheinigung, auch wenn ihre Ausstellung besser vor Beginn des betreffenden Zeitraums erfolgt, auch während dieses Zeitraums und sogar nach dessen Ablauf ausgestellt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Banks u. a., C-178/97, EU:C:2000:169, Rn. 52 bis 57).

71Der aus den Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 bestehenden Unionsregelung lässt sich kein Hinderungsgrund für eine entsprechende Handhabung auch bei den A1-Bescheinigungen entnehmen.

72Insbesondere hieß es zwar in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in seiner zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums anwendbaren Fassung, dass „der Arbeitgeber einer Person, die ihre Tätigkeit in einem anderen als dem nach Titel II der [Verordnung Nr. 883/2004] zuständigen Mitgliedstaat ausübt, oder die betreffende Person selbst, wenn diese keine Beschäftigung als Arbeitnehmer ausübt, den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften die Person unterliegt, darüber [unterrichtet]; diese Unterrichtung erfolgt im Voraus, wann immer dies möglich ist“; weiter hieß es dort: „Dieser Träger macht der betroffenen Person und dem von der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, bezeichneten Träger unverzüglich Informationen über die Rechtsvorschriften zugänglich, denen die betreffende Person … unterliegt.“ Die Ausstellung einer A1-Bescheinigung während des betreffenden Beschäftigungszeitraums oder sogar nach dessen Ablauf bleibt jedoch möglich.

73Daher ist sodann zu prüfen, ob eine A1-Bescheinigung rückwirkend anwendbar sein kann, obwohl der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, zum Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung bereits einen Bescheid erlassen hatte, wonach der betreffende Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt.

74Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach den Ausführungen zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage in den Rn. 36 bis 47 des vorliegenden Urteils eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung – ebenso wie ihr Vorläufer, die Bescheinigung E 101 – sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist, solange sie nicht widerrufen oder für ungültig erklärt wird.

75Folglich kann unter diesen besonderen Umständen nicht davon ausgegangen werden, dass ein Bescheid wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehende, mit dem der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, entscheidet, dass die betreffenden Arbeitnehmer nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert sind, ein Dokument darstellt, in dem der Status der betreffenden Person im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 „bescheinigt“ wird.

76Schließlich ist hinzuzufügen, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 66 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die Frage, ob die im Ausgangsverfahren tätig gewordenen Behörden zwingend auf die vorläufige Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gemäß Art. 6 der Verordnung Nr. 987/2009 in der dort vorgesehenen Rangfolge der anwendbaren Rechtsvorschriften hätten zurückgreifen müssen, keine Auswirkung auf die Bindungswirkung der gegenständlichen A1-Bescheinigungen hat. Insbesondere gelten nach Art. 6 Abs. 1 die dort aufgestellten vorläufig anzuwendenden Kollisionsregeln, „sofern in [dieser Verordnung] nichts anderes bestimmt ist“.

77Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf den zweiten Teil der zweiten Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in Verbindung mit deren Art. 19 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte – gegebenenfalls rückwirkend – verbindlich ist, wenn die Bescheinigung erst ausgestellt wurde, nachdem der letztgenannte Mitgliedstaat festgestellt hat, dass der betreffende Arbeitnehmer nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist.

Zur dritten Frage

78Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass ein von einem Arbeitgeber zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandter Arbeitnehmer, der dort einen anderen, von einem anderen Arbeitgeber entsandten Arbeitnehmer ablöst, im Sinne dieser Bestimmung „eine andere Person ablöst“, so dass er nicht die darin vorgesehene Sonderregel in Anspruch nehmen kann, um weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu unterliegen, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist. Ferner möchte es wissen, ob dabei eine Rolle spielt, dass die Arbeitgeber der beiden Arbeitnehmer ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder dass zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen.

– Zur Zulässigkeit

79Die belgische Regierung trägt vor, die dritte Frage sei insofern hypothetischer Natur, als sie darauf gerichtet sei, ob es für ihre Beantwortung eine Rolle spiele, dass der zweite Arbeitgeber seinen Sitz in einem anderen Mitgliedstaat habe als der erste Arbeitgeber, denn die beiden Arbeitgeber, um die es im Ausgangsverfahren gehe, seien im selben Mitgliedstaat ansässig.

80Insoweit genügt die Feststellung, dass die dritte Frage aus dem in der vorstehenden Randnummer dargelegten Grund nicht hypothetischer Natur ist, da sich ein Teil dieser Frage schon nach ihrem Wortlaut darauf bezieht, dass die fraglichen Arbeitgeber ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben; dies ist im Ausgangsverfahren der Fall, da nach den Angaben in der Vorlageentscheidung sowohl Martin-Meat als auch Martimpex in Ungarn ansässig sind.

– Zur Beantwortung der Frage

81Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die dritte Frage nur für den Fall gestellt wurde, dass der Gerichtshof auf die zweite Frage antwortet, dass die nach der Antwort auf die erste Frage bestehende Bindungswirkung der A1-Bescheinigung in einer der in der zweiten Frage beschriebenen Fallkonstellationen beschränkt werden kann.

82Nach ständiger Rechtsprechung ist das in Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen und die es dem Gerichtshof ermöglichen, zu einer dem nationalen Gericht dienlichen Auslegung des Unionsrechts zu gelangen (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom , Alandžak u. a., C-187/17, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:662, Rn. 9 und 10).

83Wie die österreichische und die deutsche Regierung sowie die Kommission im Wesentlichen geltend machen, betrifft die dritte Frage, da sie auf die Tragweite der in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Bedingung abzielt, wonach die entsandte Person nur dann weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, unterliegen kann, wenn sie „nicht eine andere Person ablöst“ (im Folgenden: Ablöseverbot), den eigentlichen Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht nämlich wissen, welcher der von den beiden Mitgliedstaaten, die ihre Meinungsverschiedenheit der Verwaltungskommission unterbreitet haben, vertretenen Auslegungen der Vorzug zu geben ist, wobei ihre unterschiedlichen Auslegungen der Tragweite des Ablöseverbots nach den Angaben in der dem Gerichtshof vorgelegten Akte zu der Unstimmigkeit zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens hinsichtlich der auf die betreffenden Arbeitnehmer anwendbaren Rechtsvorschriften geführt haben.

84Außerdem macht die österreichische Regierung geltend, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der zuständige ungarische Träger für einige der zahlreichen betroffenen Arbeitnehmer kein Formular E 101 oder A1 ausgestellt habe, so dass die Auslegung des Ablöseverbots für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits im Fall dieser Arbeitnehmer unmittelbar relevant sei.

85Unter diesen Umständen ist die dritte Vorlagefrage zu beantworten, auch wenn nach den Antworten auf die erste und die zweite Frage das vorlegende Gericht an die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden A1-Bescheinigungen gebunden ist, solange sie nicht vom zuständigen ungarischen Träger widerrufen oder von den ungarischen Gerichten für ungültig erklärt wurden.

86Im Ausgangsverfahren wurden die Arbeitnehmer von Martin-Meat offenbar in den Jahren 2007 bis 2012 nach Österreich entsandt, um in den Räumlichkeiten von Alpenrind Fleischzerlegungsarbeiten auszuführen. Vom bis zum , also auch im streitgegenständlichen Zeitraum, wurden Arbeitnehmer von Martimpex zur Ausführung derselben Arbeiten nach Österreich entsandt. Ab wurden diese Arbeiten erneut von Arbeitnehmern von Martin-Meat in denselben Räumlichkeiten ausgeführt.

87Somit ist zu prüfen, ob das Ablöseverbot in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens während des streitgegenständlichen Zeitraums eingehalten wird sowie ob und inwieweit es dabei eine Rolle spielt, wo sich der Sitz der betreffenden Arbeitgeber befindet und ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen.

88Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom , Kommission/Deutschland, C-616/15, EU:C:2017:721, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

89Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 hatte zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums folgenden Wortlaut: „Eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit vierundzwanzig Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere Person ablöst.“

90Aus dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 und insbesondere aus dem Wort „sofern“ geht dabei hervor, dass ein entsandter Arbeitnehmer schon deshalb, weil er eine andere Person ablöst, nicht weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, unterliegen kann und dass das Ablöseverbot kumulativ neben der ebenfalls in dieser Bestimmung enthaltenen Voraussetzung in Bezug auf die Höchstdauer der betreffenden Arbeit anwendbar ist.

91Darüber hinaus deutet das Fehlen einer ausdrücklichen Bezugnahme auf den Sitz der jeweiligen Arbeitgeber oder auf etwaige personelle oder organisatorische Verflechtungen zwischen ihnen im Wortlaut dieser Bestimmung darauf hin, dass solche Umstände für ihre Auslegung nicht relevant sind.

92Sodann ist zum Kontext von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 festzustellen, dass schon nach der Überschrift dieses Artikels die dort vorgesehenen Regeln einschließlich der in Abs. 1 enthaltenen eine „Sonderregelung“ für die Bestimmung der Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit darstellen, die auf die in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallenden Personen anwendbar sind.

93Wie sich nämlich aus Abs. 3 Buchst. a von Art. 11 („Allgemeine Regelung“) der Verordnung ergibt, unterliegen Personen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Arbeitnehmer, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats.

94Desgleichen geht aus den Erwägungsgründen 17 und 18 der Verordnung Nr. 883/2004 hervor, dass auf Personen, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, „als allgemeine Regel“ die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats anzuwenden sind und dass in besonderen Fällen, die andere Zugehörigkeitskriterien rechtfertigen, „[v]on dieser allgemeinen Regel … abzuweichen“ ist.

95Daraus folgt, dass Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004, da er eine Ausnahme von der allgemeinen Regel für die Bestimmung der Rechtsvorschriften darstellt, denen Personen unterliegen, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, eng auszulegen ist.

96Schließlich ist hinsichtlich der mit Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 sowie, allgemeiner, mit dem rechtlichen Rahmen, in den sich diese Bestimmung einfügt, verfolgten Ziele festzustellen, dass in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 zwar eine Sonderregel für die Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften im Fall der Entsendung von Arbeitnehmern aufgestellt wird, da diese spezielle Situation grundsätzlich ein anderes Zugehörigkeitskriterium rechtfertigt; gleichwohl wollte der Unionsgesetzgeber auch vermeiden, dass von dieser Sonderregel Arbeitnehmer profitieren können, die nacheinander zur Ausführung derselben Arbeiten entsandt werden.

97Zudem könnte eine je nach dem jeweiligen Sitz der betreffenden Arbeitgeber oder dem Vorliegen personeller oder organisatorischer Verflechtungen zwischen ihnen differierende Auslegung von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 das vom Unionsgesetzgeber verfolgte Ziel gefährden, dass ein Arbeitnehmer grundsätzlich den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegen soll, in dem er seine Tätigkeit ausübt.

98Insbesondere wurde, wie aus dem 17. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004 hervorgeht, die Anwendung der Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem die betreffende Person eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, als allgemeine Regel deshalb als zweckmäßig erachtet, um die Gleichbehandlung aller im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats erwerbstätigen Personen am besten zu gewährleisten. Überdies ist nach den Erwägungsgründen 5 und 8 der Verordnung bei der Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit die Gleichbehandlung der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats beschäftigten Personen in bestmöglicher Weise sicherzustellen.

99Aus den in den Rn. 89 bis 98 des vorliegenden Urteils dargestellten Erwägungen folgt, dass der wiederholte Rückgriff auf entsandte Arbeitnehmer zur Besetzung desselben Arbeitsplatzes, auch wenn verschiedene Arbeitgeber die Entsendungen vornehmen, weder mit dem Wortlaut noch mit den Zielen von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 vereinbar ist und auch nicht mit dem Kontext dieser Bestimmung im Einklang steht, so dass eine entsandte Person die dort vorgesehene Sonderregel nicht in Anspruch nehmen kann, wenn sie einen anderen Arbeitnehmer ablöst.

100Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass ein von einem Arbeitgeber zur Ausführung einer Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat entsandter Arbeitnehmer, der dort einen anderen, von einem anderen Arbeitgeber entsandten Arbeitnehmer ablöst, im Sinne dieser Bestimmung „eine andere Person ablöst“, so dass er nicht die darin vorgesehene Sonderregel in Anspruch nehmen kann, um weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu unterliegen, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Arbeitgeber der beiden betreffenden Arbeitnehmer ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen.

Kosten

101Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1244/2010 der Kommission vom geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ausgestellte A1-Bescheinigung nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist.

2. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ausgestellte A1-Bescheinigung, solange sie von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurde, weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist, auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte verbindlich ist, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die Verwaltungskommission angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte.

Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ausgestellte A1-Bescheinigung auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte – gegebenenfalls rückwirkend – verbindlich ist, wenn die Bescheinigung erst ausgestellt wurde, nachdem der letztgenannte Mitgliedstaat festgestellt hat, dass der betreffende Arbeitnehmer nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist.

3. Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein von einem Arbeitgeber zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandter Arbeitnehmer, der dort einen anderen, von einem anderen Arbeitgeber entsandten Arbeitnehmer ablöst, im Sinne dieser Bestimmung „eine andere Person ablöst“, so dass er nicht die darin vorgesehene Sonderregel in Anspruch nehmen kann, um weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu unterliegen, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist.

Dabei spielt es keine Rolle, ob die Arbeitgeber der beiden betreffenden Arbeitnehmer ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen.

Fundstelle(n):
VAAAH-10146