BFH Beschluss v. - VI B 279/99

Gründe

Der Antragsteller und Beschwerdeführer (Antragsteller) ist der Vater der am geborenen Tochter X. Diese absolvierte in der Zeit von September 1996 bis Juni 1998 eine Lehre als Arzthelferin. Ihre Ausbildungsvergütung betrug von Januar bis Juni 1998 1 040 DM monatlich. Von Juli bis September 1998 war die Tochter als Arzthelferin tätig und verdiente brutto 2 400 DM monatlich. Ab dem begann sie eine weitere Ausbildung zur Krankenschwester/Krankenpflegerin mit einer Ausbildungsvergütung von 1 306,89 DM pro Monat; zudem erhielt sie im Jahr 1998 Weihnachtsgeld in Höhe von 300,30 DM.

Der Antragsteller erhielt für die Monate Januar bis Juli 1998 für seine Tochter Kindergeld in Höhe von 1 540 DM. Mit Bescheid vom hob der Antragsgegner und Beschwerdegegner (Antragsgegner) die Festsetzung des Kindergeldes auf und forderte das für diese Monate gezahlte Kindergeld zurück. Zur Begründung führte er an, die eigenen Einkünfte der Tochter überschritten im Jahr 1998 den maßgeblichen Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Höhe von 12 360 DM. Dies beruht auf folgender Berechnung:

Ausbildungsvergütung 01-06/98, 6 x 1 040,00 DM 6 240,00 DM

Arbeitslohn 07-09/98, 3 x 2 400,00 DM 7 200,00 DM

Ausbildungsvergütung 10-12/98 3 x 1 306,89 DM 3 920,67 DM

Weihnachtsgeld 1998 300,30 DM 17 660,97 DM

./. Werbungskosten-Pauschbetrag 2 000,00 DM

15 660,97 DM

Der Einspruch des Antragstellers blieb ohne Erfolg.

Einen Antrag des Antragstellers auf Aussetzung der Vollziehung des angegriffenen Bescheides beschied der Antragsgegner nicht. Nachdem der Antragsteller mit Schreiben vom erfolglos eine Entscheidung über seinen Aussetzungsantrag angemahnt hatte, forderte der Antragsgegner mit Schreiben vom erneut die Rückzahlung des Betrages in Höhe von 1 540 DM.

Mit Datum vom erhob der Antragsteller Klage und beantragte, den Bescheid des Antragsgegners vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom aufzuheben, soweit darin eine Rückzahlungsverpflichtung von mehr als 220 DM ausgesprochen worden war. Über die Klage ist noch nicht entschieden worden.

Gleichzeitig beantragte der Antragsteller die Aussetzung der Vollziehung des angefochtenen Bescheides. Zur Begründung trug er vor, seine Tochter sei in der Zeit von Juli bis September 1998 nicht für das Kindergeld berücksichtigungsfähig gewesen. Sie habe sich insbesondere während dieser Zeit nicht in einer Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten von höchstens vier Monaten i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 b EStG befunden. Seine Tochter habe ihre zweite Ausbildung völlig unabhängig von der ersten und aufgrund eines neuen Entschlusses begonnen. Sie habe im August 1998 festgestellt, dass wegen der allgemein problematischen Situation der Ärzteschaft unsicher sei, ob sie weiterhin als Arzthelferin würde arbeiten können. Die Zeit von Juli bis September 1998 stelle daher weder eine Unterbrechungs- noch eine Übergangszeit dar. Entsprechend seien die eigenen Einkünfte seiner Tochter in der Zeit von Juli bis September 1998 nicht zu berücksichtigen. Die Einkünfte der Tochter in der Zeit von Januar bis Juni und von Oktober bis Dezember 1998 überschritten jedoch den —mit ¾ des Jahresbetrages anteilig anzusetzenden— Grenzbetrag von 9 270 DM nicht.

Rechtmäßig sei danach allein die Rückforderung des für den Monat Juli 1998 gezahlten Kindergeldes in Höhe von 220 DM.

Während des Aussetzungsverfahrens zahlte der Antragsteller das umstrittene Kindergeld in voller Höhe an den Antragsgegner zurück und begehrt seither, die Vollziehung des angefochtenen Bescheides in Höhe von 1 320 DM aufzuheben.

Das Finanzgericht (FG) wies den Antrag als unbegründet ab. Es bestünden keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides, weil die Tochter des Antragstellers sich in der Zeit von Juli bis September 1998 in einer Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten von höchstens vier Monaten gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 b EStG befunden habe und folglich ihre eigenen Einkünfte unter Berücksichtigung ihres in dieser Zeit erzielten Gehalts als Arzthelferin zu ermitteln seien. Ausbildungsabschnitte seien nicht nur Teile einer auf einen bestimmten Beruf gerichteten Ausbildung, sondern auch volle, in sich abgeschlossene Ausbildungsgänge mit unterschiedlichem Berufsziel. Diese Auslegung liege im Interesse der Kinder und der Kindergeldberechtigten, die Berufswahl möglichst weitgehend selbst zu gestalten. Die Belastung der Kindergeldberechtigten durch die regelmäßig weiter zu erbringenden Unterhaltsleistungen werde durch die Weitergewährung des Kindergeldes bzw. Kinderfreibetrages wieder ausgeglichen. Zwar sei die Regelung in den Fällen für die Kindergeldberechtigten von Nachteil, in denen das Kind während der Übergangszeit einer Erwerbstätigkeit nachgehe. Diese Folge sei aber von dem Zweck des Gesetzes gedeckt, eine Entlastung durch das Kindergeld nur zu gewähren, wenn das Kind nicht über ausreichende Einkünfte und Bezüge verfüge, um seinen Lebensunterhalt selbst decken zu können. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden insoweit nicht, da die Berücksichtigung eigener Einkünfte und Bezüge eines Kindes bei der Entscheidung über die Gewährung von Kindergeld bereits unter der Geltung des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht beanstandet worden sei.

Mit der vom FG zugelassenen Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen Antrag auf Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Bescheides weiter.

Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen. Er ist der Auffassung, dass § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 b EStG nicht darauf abstelle, ob das Kind mit der ersten Ausbildung bereits einen Ausbildungsstand erreicht habe, der es befähige, einer Berufstätigkeit nachzugehen. Auch auf den Zeitpunkt des Entschlusses, eine weitere Ausbildung aufzunehmen, komme es nicht an. Entscheidend sei allein das Vorliegen einer Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Zutreffend hat das FG den Antrag für zulässig gehalten. Ein Antrag auf Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung bei dem Gericht ist gemäß § 69 Abs. 4 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) grundsätzlich nur zulässig, wenn die Behörde einen solchen Antrag zuvor ganz oder teilweise abgelehnt hat. Dies gilt jedoch gemäß § 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 FGO nicht, wenn die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat. Diese Voraussetzung hat das FG zu Recht bejaht. Sie ist regelmäßig gegeben, wenn die Behörde eine Einspruchsentscheidung erlässt, aber über den gleichzeitig gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nicht befindet (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl. 1997, § 69 Anm. 72). Im vorliegenden Fall, in dem der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nur wenige Tage nach der Einlegung des Einspruchs gestellt wurde, gilt nichts anderes.

Ebenfalls zutreffend ist das FG davon ausgegangen, dass der Antrag, nachdem der Antragsteller das umstrittene Kindergeld in voller Höhe zurückgezahlt hat, als Antrag auf Aufhebung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 Satz 3 FGO zu behandeln ist. Die Aufhebung der Vollziehung eines Verwaltungsaktes kommt in Betracht, wenn dieser zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits vollzogen ist. Vollzogen ist er, wenn sein Regelungsinhalt in irgendeiner Weise verwirklicht worden ist. Dazu ist es nicht erforderlich, dass die Behörde ihn zwangsweise durchgesetzt hat; auch eine freiwillige Leistung erfüllt die Voraussetzung (, BFH/NV 1994, 113).

Die Voraussetzungen der Aufhebung der Vollziehung des angefochtenen Bescheides liegen vor. Nach § 69 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Satz 3 FGO soll die Vollziehung ausgesetzt bzw. aufgehoben werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen. Solche Zweifel liegen hier vor. Es ist ernstlich zweifelhaft, ob ein Kind, das nacheinander zwei Ausbildungen absolviert und in der Zwischenzeit voll erwerbstätig ist, während der Zeit der Erwerbstätigkeit als ein Kind zu behandeln ist, das sich in einer Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 b EStG befindet. Wird dies bejaht, so hat das zur Folge, dass auch die eigenen Einkünfte und Bezüge, die das Kind in dieser Zeit erzielt, bei der Ermittlung des Grenzbetrages des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG berücksichtigt werden müssen.

In Rechtsprechung und Literatur bestehen unterschiedliche Auffassungen darüber, was unter einer ”Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten” i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 b EStG zu verstehen ist. Teilweise wird die Ansicht vertreten, Ausbildungsabschnitte im Sinne der Vorschrift seien auch volle, in sich geschlossene Ausbildungsgänge mit unterschiedlichem Berufsziel (so FG Baden-Württemberg, Außensenate Stuttgart, Urteil vom 12 K 87/98, Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 1999, 293, rkr.; ebenso Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 32 EStG Anm. 100; enger aber wohl Heuermann in Blümich, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, Stand September 2000, § 32 EStG Rz. 81 - in sich geschlossene Ausbildungsgänge, die Glieder zur Erreichung des selbstbestimmten Berufsziels bilden). Teilweise wird darüber hinaus für erforderlich gehalten, dass die weitere qualifizierende Ausbildung von vornherein geplant war. Es wird danach erwogen, eine Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten dann nicht anzunehmen, wenn das Kind nach Abschluss einer Ausbildung mit der Absicht in das Berufsleben eintritt, einen Dauerberuf auszuüben, und währenddessen den Entschluss fasst, eine weitere Ausbildung zu beginnen (, EFG 1998, 668, rkr.; ebenso , Rev. VI R 174/00). Entsprechend wird in der Literatur verschiedentlich gefordert, das Kind müsse während der Übergangszeit jedenfalls ausbildungswillig sein (Jachmann in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, Stand Januar 2001, § 32 Rdnr. C 22; Seewald/Felix, Kindergeldrecht, Stand September 2000, § 63 EStG Rdnr. 211).

Zudem wird in der Literatur die Frage aufgeworfen, ob § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 b EStG nach seinem Sinn und Zweck jedenfalls dann nicht anzuwenden sei, wenn das Kind während der Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten einer Erwerbstätigkeit nachgeht (Greite in Korn, Einkommensteuergesetz, § 32 Rz. 48).

Die hiernach bestehende Unsicherheit hinsichtlich des Anwendungsbereiches des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 b EStG begründet ernstliche Zweifel i.S. des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO. Es ist daher geboten, die Vollziehung des angefochtenen Bescheides —wie beantragt— aufzuheben. Der Antragsgegner wird danach das zurückgeforderte Kindergeld, soweit es den Betrag von 220 DM übersteigt, zunächst an den Antragsteller zurückzuzahlen haben.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2001 S. 1237 Nr. 10
FAAAA-67258