BSG Urteil v. - B 8 SO 14/14 R

Sozialgerichtliches Verfahren - Unzulässigkeit einer Klage auf höhere Leistungen - anderweitige Rechtshängigkeit - neuer Bescheid nach Klageerhebung - Abänderung des Ursprungsbescheides - Sozialhilfe - Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - Änderungsbescheid - Wegfall des Sperrwirkung - Abschluss des Klageverfahrens - Rücknahme der Berufung - entgegenstehende Rechtskraft der klageabweisenden Entscheidung des Sozialgerichts

Gesetze: § 94 SGG, § 95 SGG, § 96 Abs 1 SGG, § 48 Abs 1 SGB 10, § 44 Abs 1 S 1 SGB 12 vom

Instanzenzug: SG Freiburg (Breisgau) Az: S 9 SO 533/13 Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 2 SO 21/14 Urteil

Tatbestand

1Im Streit sind höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) für die Zeit vom 1.1. bis .

2Die 1988 geborene Klägerin ist behindert (Grad der Behinderung von 100; Merkzeichen aG). Sie bezog seit dem von der Beklagten Grundsicherungsleistungen; ua bewilligte die Beklagte solche Leistungen für die Zeit ab bis auf Weiteres (bestandskräftiger Bescheid vom ). Einen im Oktober 2011 gestellten Antrag auf höhere Leistungen unter Berücksichtigung eines Bedarfs wegen eines behinderungsbedingten besonderen Verschleißes bei Bekleidung und Schuhen lehnte sie ab (Bescheid vom ; Widerspruchbescheid vom ); die Klage (vom ) beim Sozialgericht (SG) Freiburg (S 9 SO 1075/12) wies das SG ab (Urteil vom ). Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt, die Klage sei dahin auszulegen, dass höhere Leistungen für die Zeit vom bis zum begehrt würden; dementsprechend sei ein Bescheid für die Zeit ab dem nicht Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Die Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg nahm die Klägerin zurück (Erklärung vom ).

3Für die Zeit ab hatte die Beklagte bis auf Weiteres unter Aufhebung früherer Bewilligungsbescheide höhere Grundsicherungsleistungen bewilligt; dem bewilligten Betrag in Höhe von 626,59 Euro monatlich (statt zuvor 617,85 Euro) legte sie einen Regelsatz in Höhe von 299 Euro, einen Mehrbedarfszuschlag in Höhe von 50,83 Euro sowie Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 250 Euro Kaltmiete und Nebenkosten mit Heizung inklusive Warmwasseranteile in Höhe von 50 Euro abzüglich einer Energiepauschale in Höhe von 23,24 Euro zugrunde (Bescheid vom ; der Klägerin bekannt gegeben am ). Die in Abzug gebrachte Energiepauschale senkte sie in der Folge auf 15,78 Euro; der Widerspruch im Übrigen blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom ).

4Klage und Berufung hiergegen blieben ohne Erfolg (; ). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, besondere Aufwendungen für Kleidung, Schuhe, Nacht- und Bettwäsche, die über dem lägen, was der Klägerin durch den im Regelsatz nach der Regelbedarfsstufe 3 und den im pauschalen Mehrbedarf nach § 30 Abs 1 SGB XII enthaltenen Anteilen für solche Anschaffungen monatlich zur Verfügung stehe, seien nicht konkretisiert worden; den insoweit gestellten Beweisanträgen habe der Senat nicht nachkommen müssen. Auch die Höhe der Bedarfe für Unterkunft und Heizung habe die Beklagte zutreffend bestimmt. Bei den Kosten für die Haushaltsenergie handele es sich von vornherein nicht um einen Bedarf, für den Leistungen für Unterkunft und Heizung gemäß § 35 SGB XII erbracht werden könnten. Soweit die Klägerin vortrage, dass die kostenlose Bereitstellung von Haushaltsstrom allenfalls als Einkommen berücksichtigt werden könne, stehe dem entgegen, dass sie nach den mietvertraglichen Vereinbarungen eine Betriebskostenvorauszahlung leiste, die den Haushaltsstrom enthalte.

5Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 27a Abs 4 Satz 1 SGB XII; denn ihr Regelbedarf, der sich entgegen der Auffassung des LSG nach der Regelbedarfsstufe 1 richte, sei nach § 27a Abs 4 Satz 1 SGB XII abweichend zu bemessen. Der geltend gemachte Bedarf sei mit dem Mehrbedarf nach § 30 Abs 1 SGB XII nicht abgedeckt, weil er nicht aus einer Gehbehinderung, sondern einer geistig-seelischen Behinderung resultiere. Daneben rügt sie eine Verletzung von § 35 SGB XII, weil die Auslegung der mietvertraglichen Vereinbarungen durch das LSG, auf der die Kürzungen wegen der Energiekosten beruhten, unzutreffend sei; von den Betriebskostenzahlungen sei der Haushaltsstrom (anders als der Strom für Treppenhausbeleuchtung usw) regelmäßig - und auch vorliegend - nicht erfasst.

6Die Klägerin beantragt,das Urteil des LSG und das Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 1.1. bis zum höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu zahlen.

7Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

8Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Gründe

9Die zulässige Revision ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Im Ergebnis zu Recht hat das LSG die Berufung zurückgewiesen; denn die Klage ist unzulässig. Der angefochtene Bescheid ist gemäß § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des früheren Klageverfahrens gegen den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom geworden. Auch nach Rücknahme der Berufung gegen das klageabweisende bleibt die vorliegende Klage unzulässig, weil sie denselben Streitgegenstand betrifft.

10Gegenstand der Klage ist der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom , den die Klägerin mit ihrer Anfechtungs- und Leistungsklage angreift, wobei sie in der Berufungsinstanz den Streitgegenstand auf die Zeit vom 1.1. bis zum beschränkt hat. In der Sache begehrt sie höhere Grundsicherungsleistungen, ohne ihr Begehren weiter zu begrenzen.

11Diese Klage war zunächst wegen anderweitiger Rechtshängigkeit (§ 94 SGG) unzulässig. Der Bescheid vom ist nämlich mit seiner Bekanntgabe am Gegenstand des zu diesem Zeitpunkt bereits anhängigen Klageverfahrens (S 9 SO 1075/12) gegen den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom geworden. Nach § 96 Abs 1 SGG (in der Fassung, die die Norm mit dem Gesetz zur Änderung des SGG und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom - BGBl I 444 - erhalten hat) wird nach Klageerhebung ein neuer Verwaltungsakt (nur) dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Geändert oder ersetzt wird ein Bescheid immer, wenn er denselben Streitgegenstand wie der Ursprungsbescheid betrifft, bzw wenn in dessen Regelung eingegriffen und damit die Beschwer des Betroffenen vermehrt oder vermindert wird (vgl nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 96 RdNr 4 ff mwN). Ergehen auf einen zeitlich nicht beschränkten Dauerverwaltungsakt hin Folgebescheide, werden diese damit bei entsprechender inhaltlicher Regelung in (direkter) Anwendung von § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Verfahrens; denn jeder dieser Bescheide ist dann ggf als den ursprünglichen Dauerverwaltungsakt abändernder Bescheid zu verstehen.

12So liegt es hier. Die Beklagte hat entgegen § 44 Abs 1 Satz 1 SGB XII die Grundsicherungsleistungen zeitlich unbegrenzt bewilligt. Streitgegenstand des zunächst anhängigen Klageverfahrens gegen den Bescheid vom war dabei die Höhe dieser Leistungen ab . Insofern hatte es die Beklagte mit Bescheid vom (gestützt auf § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - <SGB X>) zunächst abgelehnt, wegen der geltend gemachten Änderung der Verhältnisse vom an zeitlich unbegrenzt höhere Leistungen zu bewilligen. Hiergegen hat sich die Klägerin ohne Einschränkung gewandt; insbesondere war - anders als das SG meint - ihrer Klagebegründung in der Sache S 9 SO 1075/12 (Schriftsatz vom ) nicht zu entnehmen, dass sie selbst durch einen entsprechenden Antrag vor dem für die Beurteilung des § 96 Abs 1 SGG maßgeblichen Zeitpunkt () eine Beschränkung des Streitgegenstandes auf die Zeit bis zum vorgenommen hätte. Der Bescheid vom hat sodann den angegriffenen Bescheid vom mit dem Inhalt ersetzt, dass er für einen teilweise identischen Zeitraum (ab ) die streitigen Leistungen neu berechnet hat - ohne indes dem Begehren der Klägerin vollständig abzuhelfen -, und ist insoweit an die Stelle des angegriffenen Bescheids (Ablehnung höherer Leistungen für unbestimmte Zeit) getreten. Er konnte damit zulässigerweise unabhängig davon nicht erneut zum Gegenstand eines anderen Verfahrens gemacht werden, dass er in dem ersten Verfahren unter Verkennung der Rechtslage tatsächlich nicht einbezogen worden ist.

13Diese prozessuale Sperrwirkung endet zwar mit Abschluss des Verfahrens; die Klage bleibt aber unzulässig, weil nunmehr die (durch Rücknahme der Berufung am ) eingetretene Rechtskraft der Entscheidung des entgegensteht (vgl Urteil des Senats vom - B 8 SO 22/10 R -, RdNr 13 mwN). Ausnahmsweise anderes kann nur gelten, wenn eine erneute Klage zulässig gewesen wäre. Dies ist vorliegend nicht der Fall, weil im Zeitpunkt der Rücknahme der Berufung eine Anfechtung des Bescheids vom fristgerecht (§ 88 SGG) nicht mehr möglich war (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 102 RdNr 11).

14Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2015:171215UB8SO1414R0

Fundstelle(n):
VAAAF-71016