BFH Beschluss v. - V S 19/14

Vorsteuerabzug bei Vertrauen auf die Rechnungsangaben des Lieferanten (hier: im Verfahren der Aussetzung der Vollziehung); Vertrauensschutz bei innergemeinschaftlichen Lieferungen

Gesetze: FGO § 69 Abs. 2, FGO § 69 Abs. 3, FGO § 69 Abs. 4, UStG § 4 Nr. 1 Buchstabe, UStG § 6a Abs. 4, UStG § 14 Abs. 4, UStG § 14a, UStG § 15 Abs. 1 Nr. 1, UStDV § 17a, UStDV § 17c Abs. 2, RL 2006/112/EG Art. 131, RL 2006/112/EG Art. 138

Instanzenzug:

Gründe

1 I. Die Antragstellerin, Klägerin und Revisionsklägerin (Antragstellerin) —eine 1995 gegründete GmbH, deren alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer A ist— handelte in den Streitjahren 2007 und 2008 mit Kraftfahrzeugen.

2 Anlässlich einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung, die den Voranmeldungszeitraum 2007 und die Voranmeldungszeiträume Januar bis Juni 2008 umfasste, gelangte die Prüferin ausweislich des Umsatzsteuer-Sonderprüfungsberichtes vom zu folgenden Feststellungen:

3 Bisher als umsatzsteuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen an die Firma „.” (B) in Spanien behandelte Umsätze seien steuerpflichtig, was zu Mehrsteuern in Höhe von 84.475,71 € im Jahr 2007 und 605.377,24 € in den Voranmeldungszeiträumen Januar bis Juni 2008 führe. Nach den Feststellungen der Steuerfahndung X-Stadt seien die betroffenen Fahrzeuge tatsächlich nicht nach Spanien verbracht, sondern im Inland weiter vermarktet worden. Zudem seien Vorsteuerbeträge aus Rechnungen der D GmbH (D) in Höhe von 86.130,67 € (2007) und 311.159,33 € (Januar bis Juni 2008) nicht abziehbar, weil es sich bei dieser Firma um eine „Scheinfirma” gehandelt habe, die unter ihrer Rechnungsanschrift keinen Sitz gehabt habe.

4 Im Rahmen einer weiteren, nunmehr die Voranmeldungszeiträume Juli bis Dezember 2008 umfassenden Umsatzsteuer-Sonderprüfung stellte die Prüferin fest, dass die Antragstellerin in diesem Zeitraum Vorsteuerbeträge aus Rechnungen der D in Höhe von 397.690,83 € geltend gemacht hatte, die ebenfalls nicht abziehbar seien.

5 Das seinerseits zuständige Finanzamt . I (FA I) folgte in einem geänderten Umsatzsteuerbescheid für 2007 vom den Feststellungen der Umsatzsteuer-Sonderprüfungen. Am legte die Antragstellerin Einspruch „gegen den Umsatzsteuerbescheid vom ” ein. Ein Einspruchsbescheid erging nicht.

6 Am reichte die Antragstellerin die Umsatzsteuer-Jahreserklärung 2008 ein, ohne die Prüfungsfeststellungen zu berücksichtigen; am selben Tag erließ das FA I für die Voranmeldungszeiträume Juni und Dezember 2008 Vorauszahlungsbescheide. Hiergegen legte die Antragstellerin am Einspruch ein. Am stimmte das FA I der Umsatzsteuer-Jahreserklärung der Antragstellerin für 2008 zu, erließ aber am einen Umsatzsteuer-Jahresbescheid 2008 unter Berücksichtigung der Prüfungsfeststellungen. Diesen Bescheid behauptete die Antragstellerin nicht erhalten zu haben. Am verwarf das FA I den Einspruch gegen die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide Juni und Dezember 2008 als unzulässig und wies den Einspruch gegen den Umsatzsteuer-Jahressteuerbescheid 2008 als unbegründet zurück. Am erhob die Antragstellerin Klage wegen Umsatzsteuer 2007 und 2008.

7 Mit Verfügung vom setzte das FA I die Vollziehung der Umsatzsteuerbescheide 2007 und 2008 in Höhe von 170.606,38 € und in Höhe von 1.314.227,40 € bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung aus.

8 Zuständig für die Besteuerung der Antragstellerin ist seit April 2011 das Finanzamt Y-Stadt (Antragsgegner, Beklagter und Revisionsbeklagter —FA—). Am erließ das FA einen geänderten Umsatzsteuer-Jahresbescheid 2008 mit demselben Inhalt wie der Bescheid vom . Während des Klageverfahrens erließ das FA die streitgegenständlichen Umsatzsteuerbescheide 2007 und 2008 vom .

9 Das Finanzgericht (FG) sah die Klage sowohl für 2007 als auch für 2008 als zulässig an, wies sie jedoch als unbegründet zurück. Zur Begründung führte das FG aus, der Vorsteuerabzug aus den Rechnungen der D sei zu versagen, weil deren Rechnungen nicht die nach § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes in der für das Streitjahr geltenden Fassung (UStG) erforderliche zutreffende vollständige Anschrift des leistenden Unternehmers enthalten hätten. Bei der in den Rechnungen angegebenen Anschrift habe es sich um einen Briefkastensitz gehandelt, dessen Angabe die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG nicht erfülle. Unter der betreffenden Anschrift, unter der die D lediglich postalisch erreichbar gewesen sei, habe sich eine Beratungsstelle eines Lohnsteuerhilfevereins und ein Buchhaltungsbüro, das die Post der D entgegengenommen und für sie Buchhaltungsarbeiten erledigt habe, befunden. Eigene geschäftliche Aktivitäten der D hätten dort nicht stattgefunden. Es könne letztlich offenbleiben, ob ein Briefkastensitz als hinreichende Anschrift des leistenden Unternehmers in Ausnahmefällen in Betracht kommen könne. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) reiche die Angabe eines Briefkastensitzes jedenfalls bei einer GmbH, die —wie hier die D— im großen Umfang mit Fahrzeugen handele, nicht aus. Hinzu komme, dass die D ab dem zwei Büroräume, eine Einbauküche, zwei Toiletten und Lagerfläche unter einer anderen Anschrift angemietet habe, und einiges dafür spreche, dass sich dort auch die von der D gehandelten Fahrzeuge befunden hätten.

10 Es komme auch nicht darauf an, ob die Antragstellerin auf die Richtigkeit der in den Rechnungen der D angegebenen Anschrift habe vertrauen dürfen. Denn § 15 UStG sehe den Schutz des guten Glaubens an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nicht vor, weshalb Vertrauensschutzgesichtspunkte nicht bei der Steuerfestsetzung nach den gesetzlichen Vorschriften des UStG, sondern ggf. nur im Rahmen einer Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163, § 227 der Abgabenordnung berücksichtigt werden könnten. Der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) sei nicht zu entnehmen, dass im Steuerfestsetzungsverfahren ein Vorsteuerabzug auch bei Angabe eines Scheinsitzes des Leistenden in Betracht kommen könne. Das FG folgte ausdrücklich nicht der vom (Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 2014, 395) vertretenen Ansicht, wonach die Angabe eines Scheinsitzes in der Rechnung dem Vorsteuerabzug nicht entgegenstehe, wenn sich für den Leistungsempfänger nach den Gesamtumständen im Vorfeld der Lieferung keine Zweifel an der in der Rechnung angegebenen Anschrift hätten ergeben müssen.

11 Das FA I sei auch zu Recht davon ausgegangen, dass es sich bei den in den Rechnungen an die B abgerechneten Umsätzen um steuerpflichtige Lieferungen gehandelt habe. Die Antragstellerin habe die Voraussetzungen einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung nicht nachgewiesen. Die Angaben in den Verbringenserklärungen „Das Fahrzeug wird am…von mir in das Zielland Spanien verbracht” seien insoweit nicht ausreichend, da der Bestimmungsort nicht genannt sei und nicht ohne weiteres mit der Unternehmensanschrift der B gleichgesetzt werden könne. Zwar könne sich die erforderliche Angabe des Bestimmungsorts im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände aus der Rechnungsanschrift des Abnehmers ergeben. Dies gelte jedoch im Grundsatz nur, wenn davon auszugehen sei, dass —was nicht vorliege— der Gegenstand der Lieferung auch zum Unternehmenssitz des Abnehmers versendet oder befördert werde. An welchen Ort die streitgegenständlichen Fahrzeuge tatsächlich verbracht worden seien, sei völlig unklar. Daher stehe auch nicht objektiv zweifelsfrei fest, dass die Voraussetzungen der Steuerfreiheit erfüllt seien. Die Lieferungen seien schließlich auch nicht nach § 6a Abs. 4 Satz 1 UStG steuerfrei. Die Frage des Gutglaubensschutzes stelle sich nur, wenn der Unternehmer seinen Nachweispflichten nachgekommen sei. Vorliegend fehle es an einem belegmäßigen Nachweis des Bestimmungsortes der streitigen Lieferungen.

12 Das FG hat die Revision gegen sein Urteil zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen. Die Antragstellerin hat die Revision fristgerecht eingelegt und begründet. Die Revision, über die noch nicht entschieden worden ist, wird im Senat unter dem Aktenzeichen V R 23/14 geführt.

13 Im vorliegenden Verfahren begehrt die Antragstellerin die Aussetzung der Vollziehung (AdV) der Umsatzsteuerbescheide 2007 und 2008. Zur Begründung trägt sie vor, selbst wenn die Steuerforderung bestünde, wäre sie aus Billigkeitsgründen zu erlassen. Die Vollziehung sei ohne Sicherheitsleistung auszusetzen, weil die Vorentscheidung rechtsfehlerhaft sei und für sie, die Antragstellerin, ein günstiger Prozessausgang zu erwarten sei. Zudem sei sie wirtschaftlich nicht in der Lage, Sicherheiten zu stellen. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Umsatzsteuerbescheide seien nicht deshalb ausgeschlossen, weil das FG die Klage abgewiesen habe.

14 Das FA gehe unzutreffend davon aus, dass der EuGH mit Urteil Planzer Luxembourg, C-73/06, EU:C:2007:397 entschieden habe, dass an eine Anschrift i.S. des § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG dieselben Anforderungen wie an einen „Sitz” im Sinne der Achten Richtlinie 79/1072/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige zu stellen seien. Eine Anschrift erfordere nur die postalische Erreichbarkeit an der angegebenen Adresse. Die Angabe der Anschrift i.S. des Art. 226 Nr. 5 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) diene der Identifikation des Rechnungsausstellers. Es sei für einen vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmer unzumutbar, wenn er zu prüfen hätte, inwieweit an der Anschrift über die postalische Erreichbarkeit hinaus Aktivitäten des leistenden Unternehmers stattfänden. Die D habe existiert, sei leistender Unternehmer i.S. des § 2 UStG und unter der angegebenen Anschrift auch postalisch erreichbar gewesen. Zudem seien dort die Buchhaltungsarbeiten der D vorgenommen und ihre Steuererklärungen gefertigt worden. Die in der Rechnung angegebene Anschrift werde nicht deshalb unzutreffend, weil ein Unternehmer unter weiteren Adressen erreichbar sei oder betriebliche Aktivitäten entfalte.

15 Auf die Angabe des Zielorts in den Verbringungsnachweisen komme es nicht an, weil sich dieser bereits aus den Ausgangsrechnungen ergebe, die Teile des Buch- und Belegnachweises seien.

16 Die Steuerforderung sei jedenfalls aus Billigkeitsgründen zu erlassen, weil sie, die Antragstellerin, durch Erklärungen der Finanzämter dazu bestimmt worden sei, sowohl von der betreffenden Anschrift der D als auch davon auszugehen, dass die Angabe des Ziellandes im Verbringungsnachweis unter den gegebenen Umständen ausreichend sei. Durch den Vollzug von Bescheiden über Steuerforderungen, die im Billigkeitswege zu erlassen seien, würde sie, die Antragstellerin, in ihren verfassungsmäßigen Rechten verletzt.

17 Die Antragstellerin bringt zudem —unter Vorlage verschiedener Unterlagen— vor, dass sie keine Möglichkeit habe, einen Geldbetrag zu zahlen oder eine Bürgschaft zu stellen, und über keine Vermögenswerte verfüge, die als Sicherheit dem FA oder einer Bank zur Erlangung eines Kredites gestellt werden könnten. Es sei unverhältnismäßig und verstoße gegen die Garantie effektiven Rechtsschutzes i.S. des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes, dem Steuerpflichtigen die AdV eines angefochtenen Steuerbescheides zu versagen, wenn seine wirtschaftlichen Verhältnisse die Leistung einer Sicherheit nicht zuließen.

18 Die Antragstellerin beantragt,

die Vollziehung der Umsatzsteuerbescheide 2007 und 2008 sowie Zinsen zur Umsatzsteuer 2008 bis zur Zustellung einer das Revisionsverfahren V R 23/14 abschließenden Entscheidung auszusetzen.

19 Das FA beantragt,

den Antrag auf AdV der Umsatzsteuer 2008 abzulehnen, hilfsweise die AdV nur gegen Sicherheitsleistung zu gewähren.

20 Das angefochtene Urteil der Vorinstanz, das der Rechtsprechung des EuGH und BFH entspreche, enthalte keine Rechtsfehler. Ein Erlass der streitgegenständlichen Umsatzsteuerschulden sei vorliegend nicht zu prüfen, weil diesbezüglich ein eigenes Verfahren zu führen sei. Zudem bestünden für die Annahme eines Erlasses keine Anhaltspunkte.

21 Es sei nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin keine Sicherheitsleistung erbringen könne oder sie ihre Kreditlinie bereits ausgeschöpft habe. Die Vermögenslage der Antragstellerin verschlechtere sich jährlich. Es sei daher zu befürchten, dass nach Abschluss des Revisionsverfahrens die Steuerforderungen nicht mehr durchgesetzt werden könnten.

22 II. Der Antrag auf AdV der Umsatzsteuerbescheide für 2007 und 2008 ist teilweise begründet.

23 1. Der Antrag ist zulässig.

24 a) Da die Antragstellerin gegen das Urteil des FG wirksam Revision eingelegt und begründet hat, ist der BFH nach § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) als Gericht der Hauptsache für den Antrag auf AdV zuständig (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom I S 7/11, BFH/NV 2012, 583, Rz 8; vom X S 19/12, BFH/NV 2012, 2008, Rz 12; vom XI S 8/14, nicht veröffentlicht —n.v.—, juris, Rz 22).

25 b) Zudem hat das FA den erneuten Antrag auf AdV mit Verfügung vom abgelehnt und den hiergegen eingelegten Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom als unbegründet zurückgewiesen. Die Zugangsvoraussetzung des § 69 Abs. 4 Satz 1 FGO, die auch für Anträge auf AdV gilt, die —wie hier— beim BFH als Gericht der Hauptsache gestellt werden (vgl. dazu BFH-Beschlüsse vom XI S 7/98, n.v.; vom III S 6/99, BFH/NV 2000, 1129, jeweils m.w.N.), liegt damit vor.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2015 S. 866 Nr. 6
KÖSDI 2015 S. 19351 Nr. 6
UR 2015 S. 438 Nr. 11
XAAAE-87993