BFH Beschluss v. - VIII R 40/10

Antrag auf Wiedereinsetzung durch das Finanzamt

Leitsatz

1. Bei der Beurteilung, ob eine Behörde sich die Versäumung einer gesetzlichen Frist als schuldhaft anrechnen lassen muss, gelten grundsätzlich die gleichen Maßstäbe, wie sie die Rechtsprechung für das Verschulden von Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe entwickelt hat; d.h., das Verschulden eines gesetzlichen Vertreters oder Bevollmächtigten steht dem eigenen Verschulden des Finanzamts gleich.
2. Das Finanzamt muss vortragen, wie und durch welche Beschäftigten in seinem Amt Fristsachen gehandhabt werden, zumal wenn ihre Erledigung an Fristen gebunden ist, die nicht zu den üblichen, häufig vorkommenden und einfach zu berechnenden Fristen gehören. Dazu rechnet die Frist zur Stellung eines Antrags auf mündliche Verhandlung nach Ergehen eines Gerichtsbescheids ebenso wie die Revisionsbegründungsfrist.
3. Dem Finanzamt kann Wiedereinsetzung nicht bewilligt werden, wenn dem Wiedereinsetzungsgesuch nicht zu entnehmen ist, welche Bediensteten die Postsendung entgegengenommen und über welche Qualifikation diese verfügt haben, oder wenn nicht von einem entschuldbaren Versehen eines Mitarbeiters ausgegangen werden kann, weil ein Organisationsverschulden als Ursache der Fristversäumnis nicht auszuschließen ist.

Gesetze: FGO § 56, FGO § 90a Abs. 3, FGO § 121 Satz 1, FGO § 126 Abs 1

Instanzenzug: ,

Gründe

1 I. Durch Gerichtsbescheid vom hat der Senat die Revision des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt —FA—) gegen das als unbegründet zurückgewiesen. Der Gerichtsbescheid wurde dem FA am mittels Postzustellungsurkunde zugestellt. Der vom FA gestellte Antrag auf mündliche Verhandlung ist beim Bundesfinanzhof (BFH) per Fax am eingegangen.

2 Auf entsprechenden Hinweis des Senats stellte das FA am Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Den Wiedereinsetzungsantrag begründete das FA wie folgt: Das Übersendungsschreiben des BFH trage das Eingangsdatum des Antragstellers vom . Der Umschlag der förmlichen Zustellung befinde sich nicht in den Akten (des FA). Warum das Schriftstück als Eingangsdatum den trage, sei unerklärlich. Da samstags keine Leerung des Briefkastens und des Postfaches stattfinde, erhielten samstags eingeworfene Sendungen den Eingangsstempel des letzten Werktages. Das wäre hier Freitag, der gewesen. Es sei auch nicht zu erklären, dass sich der Umschlag der förmlichen Zustellung nicht bei den Akten befinde. Es bestehe beim FA strikte Anweisung, entsprechende Sendungen mit dem Umschlag in den Geschäftsgang zu geben. Diese Anweisung sei bekannt und werde auch beachtet. Warum der Umschlag trotzdem nicht zu den Akten gelangt sei, könne nicht nachvollzogen werden.

3 Aufgrund des auf dem Übersendungsschreiben vermerkten Eingangsdatums sei der Antrag auf mündliche Verhandlung erst am gestellt worden. Die Stellung des Antrags erst am Ende der Frist beruhe auf der Einschaltung der Oberfinanzdirektion bzw. des Finanzministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen.

4 II. 1. Der Antrag auf mündliche Verhandlung ist unzulässig. Das FA hat die Antragsfrist gemäß § 90a Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht gewahrt. Der Gerichtsbescheid wurde dem FA am zugestellt. Die Monatsfrist für die Stellung eines Antrags auf mündliche Verhandlung gemäß § 90a Abs. 2 Satz 1 FGO lief daher bis zum Montag, den . Der Antrag ist jedoch erst am und damit verspätet beim BFH eingegangen.

5 2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 FGO wegen der Versäumung der Antragsfrist kann dem FA nicht bewilligt werden.

6 a) Einem Verfahrensbeteiligten, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 56 Abs. 1 FGO). Der Antrag ist binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses zu stellen; innerhalb dieser Frist muss die versäumte Rechtshandlung nachgeholt werden (§ 56 Abs. 2 Sätze 1 und 3 FGO). Ob der Beteiligte die Frist schuldlos versäumt hat, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles und den persönlichen Verhältnissen des Beteiligten. Nach der Rechtsprechung des BFH schließt jedes Verschulden —auch einfache Fahrlässigkeit— die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus (ständige Rechtsprechung, vgl. , BFHE 221, 201, BStBl II 2011, 55; BFH-Beschlüsse vom VII R 32/90, BFH/NV 1994, 553; vom VIII B 42/02, BFH/NV 2005, 1821; vom III R 65/05, BFH/NV 2007, 945).

7 b) Bei der Beurteilung, ob eine Behörde sich die Versäumung einer gesetzlichen Frist als schuldhaft anrechnen lassen muss, gelten grundsätzlich die gleichen Maßstäbe, wie sie die Rechtsprechung für das Verschulden von Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe entwickelt hat (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschlüsse vom IX R 41/05, BFH/NV 2007, 1508, m.w.N.; vom III R 78/06, BFH/NV 2009, 407); d.h., das Verschulden eines gesetzlichen Vertreters oder Bevollmächtigten steht dem eigenen Verschulden des FA gleich (, BFH/NV 1993, 6, m.w.N.).

8 aa) In formeller Hinsicht setzt die Gewährung der Wiedereinsetzung voraus, dass das FA vorträgt, welche Maßnahmen zur Überwachung der Einhaltung der Fristen im Amtsbetrieb getroffen sind. Dabei ist zu beachten, dass ebenso wie ein Prozessbevollmächtigter auch der Vorsteher des FA verpflichtet ist, ein Fristenkontrollbuch zu führen, in dem jegliche Fristen, u.a. die Frist für die Revisionsbegründung oder Frist für einen Antrag auf mündliche Verhandlung nach Erlass eines Gerichtsbescheids, zu vermerken ist (BFH-Entscheidungen vom II R 74/90, BFHE 175, 302, BStBl II 1994, 946; vom II R 12/96, BFH/NV 1997, 47; vom VII R 11/96, BFH/NV 1998, 70; vom VII R 2/00, BFH/NV 2000, 1117).

9 bb) Das FA muss also vortragen, wie und durch welche Beschäftigten in seinem Amt Fristsachen gehandhabt werden, zumal wenn ihre Erledigung an Fristen gebunden ist, die nicht zu den üblichen, häufig vorkommenden und einfach zu berechnenden Fristen gehören. Dazu rechnet die Frist zur Stellung eines Antrags auf mündliche Verhandlung nach Ergehen eines Gerichtsbescheids ebenso wie die Revisionsbegründungsfrist (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2007, 945; Kuczynski in Beermann/Gosch, FGO § 56 Rz 15.2; Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 56 Rz 20, Stichworte Revisionsbegründungsfrist und Nichtzulassungsbeschwerde). Das FA muss vorbringen, wer die Fristen berechnet sowie durch wen und welche Maßnahmen gewährleistet ist, dass die Fristen notiert und kontrolliert werden (vgl. , BFH/NV 2007, 1684). Weiter muss es darlegen, wann und wie die in der Sachbearbeitung von Rechtbehelfen und Fristsachen eingesetzten Beschäftigten entsprechend belehrt werden und wie die Einhaltung dieser Belehrungen überwacht wird (vgl. BFH-Beschlüsse vom VII B 150/01, BFH/NV 2002, 795; vom III R 43/03, BFH/NV 2005, 1312; vom XI R 24/08, BFH/NV 2010, 1834).

10 c) Nach diesen Grundsätzen kann dem FA keine Wiedereinsetzung bewilligt werden. Dem Wiedereinsetzungsgesuch ist bereits nicht zu entnehmen, welche Bediensteten die Postsendung entgegengenommen und über welche Qualifikation diese verfügt haben.

11 Im Übrigen ist zwar nach dem Vortrag des FA davon auszugehen, dass für die Posteingangsstelle Anweisungen vorliegen, aus denen sich ergibt, wie eingehende Schriftstücke zu behandeln und weiterzuleiten sind. Es kann auch davon ausgegangen werden, dass Organisationsanweisungen existieren, nach denen förmlich zugestellte Sendungen mit dem Umschlag der förmlichen Zustellung in den Geschäftsgang zu geben sind und die Bediensteten des FA von diesen Anweisungen Kenntnis haben und diese grundsätzlich beachten. Ob und wie die Bediensteten des FA über diese Anweisungen unterrichtet werden und inwieweit die Umsetzung und Einhaltung dieser Anweisungen kontrolliert wird, ist jedoch nicht nachvollziehbar.

12 Darüber hinaus fehlt jegliche Darstellung zur regelmäßigen Handhabung von Fristen und der Kontrolle ihrer Beachtung sowie zur Belehrung und Überprüfung des konkret zur Beachtung von Fristen eingesetzten Personals. Das FA hat sich im Wesentlichen darauf beschränkt, darzustellen, wie samstags eingehende Schriftstücke in der Posteingangsstelle behandelt werden und dass bei Zustellungen durch Postzustellungsurkunde der Umschlag der förmlichen Zustellung mit in den Geschäftsgang zu geben ist. Diese Schilderung gibt aber keinerlei Auskunft über die Organisation des Amtes und über die Art und Weise, wie die für die Beachtung von Fristen Verantwortlichen diese Fristen handhaben und deren Einhaltung kontrollieren. Wenn es aber für Prozessbevollmächtigte unumgänglich ist, sich für eine ordnungsgemäße Fristenkontrolle den Umschlag mit dem Zustellungsvermerk vorlegen zu lassen (vgl. dazu Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 56 Rz 20, Stichwort Fristenkontrolle, m.w.N.), so gilt das für die mit der Fristenkontrolle beim FA betrauten Personen gleichermaßen, zumal diese in der Regel mit dieser Problematik vertraut sind und die entsprechenden Rechtskenntnisse besitzen müssten. Es müssen daher auch Anweisungen existieren, wie die für die Einhaltung der Frist verantwortlichen Personen bei Fehlen dieser Umschläge verfahren müssen. Ob dies der Fall ist und wie in solchen Konstellationen zu handeln ist, erschließt sich aus dem Wiedereinsetzungsgesuch indes nicht.

13 Der Senat kann aufgrund dieser unzureichenden Darstellung nicht von einem entschuldbaren Versehen eines Mitarbeiters ausgehen, da ein Organisationsverschulden als Ursache der Fristversäumnis nicht auszuschließen ist.

14 d) Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der gesetzliche Vertreter des FA die von ihm vorgetragenen Tatsachen nicht glaubhaft gemacht hat. Es fehlen als präsentes Beweismittel i.S. von § 155 FGO i.V.m. § 294 Abs. 2 der Zivilprozessordnung eine Ablichtung aus dem Fristenkontrollbuch mit der Notierung der eingetragenen Frist sowie als weiteres mögliches Mittel der Glaubhaftmachung eine dienstliche Erklärung oder eidesstattliche Versicherung des/der namentlich zu benennenden, als für die Fristversäumnis verantwortlich bezeichneten Sachbearbeiters/in zur Richtigkeit der Sachverhaltsschilderung des gesetzlichen Vertreters des FA.

15 3. Bleibt es damit dabei, dass der Antrag auf mündliche Verhandlung gegen den Gerichtsbescheid des Senats vom verspätet beim BFH eingegangen ist, ist in entsprechender Anwendung von § 126 Abs. 1 FGO durch Beschluss festzustellen, dass der Gerichtsbescheid gemäß § 90a Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 FGO als Urteil wirkt (vgl. , BFHE 103, 138, BStBl II 1971, 812; s. auch , BFH/NV 2003, 336; Gräber/Koch, a.a.O., § 90a Rz 25). Damit ist das Revisionsverfahren beendet.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
AO-StB 2013 S. 88 Nr. 3
BFH/NV 2013 S. 397 Nr. 3
StBW 2013 S. 100 Nr. 3
ZAAAE-27172