EuGH Urteil v. - C-280/10

Umsatzsteuer: Vorsteuerabzug vor Gründung einer Personengesellschaft

Leitsatz

1. Die Art. 9, 168 und 169 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach weder die Gesellschafter einer Gesellschaft noch die Gesellschaft selbst ein Recht auf Vorsteuerabzug für Investitionskosten geltend machen dürfen, die vor Gründung und Eintragung dieser Gesellschaft von den Gesellschaftern für die Zwecke und im Hinblick auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Gesellschaft getragen wurden.

2. Die Art. 168 und 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einer Gesellschaft der Vorsteuerabzug versagt ist, wenn die Rechnung vor Eintragung und mehrwertsteuerlicher Erfassung dieser Gesellschaft auf ihre Gesellschafter ausgestellt wurde.

Instanzenzug: Naczelny Sad Administracyjny (Polen) - 31.3.2010, ,

Gründe

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 9, 168 und 169 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Kopalnia Odkrywkowa Polski Trawertyn P. Granatowicz, M. Wąsiewicz spółka jawna (im Folgenden: Polski Trawertyn), einer offenen Handelsgesellschaft, und ihren Gesellschaftern, Herrn Granatowicz und Herrn Wąsiewicz (im Folgenden: Gesellschafter), auf der einen Seite und dem Dyrektor Izby Skarbowej w Poznaniu (Leiter der Steuerkammer Poznań) auf der andere Seite über den Vorsteuerabzug für bestimmte Umsätze, die vor der Eintragung der Gesellschaft in das Handelsregister bewirkt wurden.

Rechtlicher Rahmen

Richtlinie 2006/112

Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

"Als 'Steuerpflichtiger' gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.

Als 'wirtschaftliche Tätigkeit' gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen."

Art. 168 der Richtlinie 2006/112 sieht u. a. vor:

"Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

..."

Art. 169 der Richtlinie 2006/112 lautet:

"Über den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 hinaus hat der Steuerpflichtige das Recht, die in jenem Artikel genannte Mehrwertsteuer abzuziehen, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke folgender Umsätze verwendet werden:

a) für seine Umsätze, die sich aus den in Artikel 9 Absatz 1 Unterabsatz 2 genannten Tätigkeiten ergeben, die außerhalb des Mitgliedstaats, in dem diese Steuer geschuldet oder entrichtet wird, bewirkt werden und für die das Recht auf Vorsteuerabzug bestünde, wenn sie in diesem Mitgliedstaat bewirkt worden wären;

b) für seine Umsätze, die gemäß den Artikeln 138, 142, 144, 146 bis 149, 151, 152, 153, 156, dem Artikel 157 Absatz 1 Buchstabe b, den Artikeln 158 bis 161 und Artikel 164 befreit sind;

c) für seine gemäß Artikel 135 Absatz 1 Buchstaben a bis f befreiten Umsätze, wenn der Dienstleistungsempfänger außerhalb der Gemeinschaft ansässig ist oder wenn diese Umsätze unmittelbar mit Gegenständen zusammenhängen, die zur Ausfuhr aus der Gemeinschaft bestimmt sind."

Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

"Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

a) für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferungen von Gegenständen und dem Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß den Artikeln 220 bis 236 sowie 238, 239 und 240 ausgestellte Rechnung besitzen".

Art. 213 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

"Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.

Die Mitgliedstaaten legen fest, unter welchen Bedingungen der Steuerpflichtige die Anzeigen elektronisch abgeben darf, und können die elektronische Abgabe der Anzeigen auch vorschreiben."

Art. 220 der Richtlinie 2006/112 lautet:

"Jeder Steuerpflichtige stellt in folgenden Fällen eine Rechnung entweder selbst aus oder trägt dafür Sorge, dass eine Rechnung vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder in seinem Namen und für seine Rechnung von einem Dritten ausgestellt wird:

1. Er liefert Gegenstände oder erbringt Dienstleistungen an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person;

2. er liefert in Artikel 33 genannte Gegenstände;

3. er liefert Gegenstände unter den Voraussetzungen des Artikels 138;

4. er erhält Vorauszahlungen, bevor eine Lieferung von Gegenständen im Sinne der Nummern 1, 2 und 3 erfolgt ist;

5. er erhält Vorauszahlungen von einem anderen Steuerpflichtigen oder einer nichtsteuerpflichtigen juristischen Person, bevor eine Dienstleistung abgeschlossen ist."

Art. 226 der Richtlinie 2006/112 sieht u. a. vor:

"Unbeschadet der in dieser Richtlinie festgelegten Sonderbestimmungen müssen gemäß den Artikeln 220 und 221 ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die folgenden Angaben enthalten:

1. das Ausstellungsdatum;

...

4. die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer im Sinne des Artikels 214, unter der der Erwerber oder Dienstleistungsempfänger eine Lieferung von Gegenständen oder eine Dienstleistung, für die er Steuerschuldner ist, oder eine Lieferung von Gegenständen nach Artikel 138 erhalten hat;

5. den vollständigen Namen und die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen und des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers;

..."

Art. 273 der Richtlinie 2006/112 lautet:

"Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen."

Nationales Recht

Art. 15 Abs. 1 und 2 des Mehrwertsteuergesetzes vom 11. März 2004 (Ustawa z dnia 11 marca 2004 r. o podatku od towarów i usług, Dz. U. Nr. 54, Pos. 535) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:

"(1) Steuerpflichtig sind juristische Personen, nichtrechtsfähige Organisationseinheiten und natürliche Personen, die selbständig eine in Abs. 2 genannte wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Zweck oder Ergebnis ausüben.

(2) Als wirtschaftliche Tätigkeit gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe, auch dann, wenn Umsätze einmalig unter Umständen ausgeführt werden, die die Absicht erkennen lassen, die Umsätze wiederholt auszuführen. Als wirtschaftliche Tätigkeit gelten auch die Umsätze, die in der nachhaltigen Nutzung von Gegenständen oder immateriellen Gütern zu Erwerbszwecken bestehen."

Art. 86 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes sieht vor:

"Soweit Gegenstände und Dienstleistungen zur Ausführung besteuerter Umsätze verwendet werden, sind die in Art. 15 genannten Steuerpflichtigen vorbehaltlich der Art. 114, 119 Abs. 4, Art. 120 Abs. 17 und 19 sowie Art. 124 berechtigt, den Vorsteuerbetrag vom Betrag der geschuldeten Steuer abzuziehen."

In Art. 86 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes heißt es:

"Der Vorsteuerbetrag ist vorbehaltlich der Abs. 3 bis 7:

1. die Summe der Steuerbeträge, die in den Rechnungen festgelegt sind, die der Steuerpflichtige erhalten hat

a) für den Erwerb von Gegenständen und Dienstleistungen,

b) zur Bestätigung vorgenommener Vorauszahlungen (Anzahlungen, Vorschüsse, Raten), soweit eine Steuer auf diese entfällt,

c) vom Kommittenten für die Lieferung von Gegenständen, die von einem Kommissionsvertrag erfasst werden,

..."

Nach Art. 86 Abs. 10 Nr. 1 des Mehrwertsteuergesetzes entsteht der Anspruch auf Vorsteuerabzug in der Steuererklärung für den Zeitraum, in dem der Steuerpflichtige die Rechnung oder das Zollpapier erhalten hat.

Art. 106 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes bestimmt:

"Die in Art. 15 genannten Steuerpflichtigen sind vorbehaltlich der Abs. 2, 4 und 5 sowie des Art. 119 Abs. 10 und des Art. 120 Abs. 16 verpflichtet, Rechnungen auszustellen, die insbesondere den Verkauf, das Verkaufsdatum, den Einzelpreis ohne Steuer, die Bemessungsgrundlage, den Satz und den Betrag der Steuer, den Forderungsbetrag und Angaben zum Steuerpflichtigen und zum Erwerber enthalten."

Nach § 9 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 der Verordnung des Finanzministers vom 25. Mai 2005 über Steuererstattungen an bestimmte Steuerpflichtige, Anzahlungssteuererstattungen, die Ausstellung und Aufbewahrung von Rechnungen sowie eine Liste der nicht mehrwertsteuerbefreiten Gegenstände und Dienstleistungen (Dz. U. Nr. 95, Pos. 798), die bis 1. Dezember 2008 galt, muss die einen Verkauf belegende Rechnung mindestens die Vor- und Nachnamen oder (gegebenenfalls abgekürzten) Bezeichnungen, die Anschriften und die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummern des Verkäufers und des Erwerbers enthalten.

Im polnischen Recht sind Sacheinlagen in zivil- und handelsrechtliche Gesellschaften von der Mehrwertsteuer befreit. Zudem entsteht eine offene Handelsgesellschaft erst mit ihrer Eintragung im Handelsregister.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Am 22. Dezember 2006 stellte ein Gerichtsvollzieher für den Erwerb eines Grundstücks mit einem Natursteinbruch eine Rechnung auf die Gesellschafter aus.

Am 26. April 2007 gründeten die Gesellschafter Polski Trawertyn. Ein Notar stellte für die Anfertigung der notariellen Gründungsurkunde nebst Abschriften am selben Tag eine Rechnung auf die Gesellschaft aus.

Die bei Polski Trawertyn durch die zuständigen Behörden für den Zeitraum Juni bis September 2007 durchgeführten Prüfungen ergaben Unregelmäßigkeiten bei den erklärten Vorsteuerbeträgen. Die Behörden bemängelten, dass Polski Trawertyn im Juni 2007 einen überhöhten Vorsteuerbetrag erklärt habe, weil sie die beiden vorgenannten Rechnungen in ihrer für Mehrwertsteuerzwecke vorgesehenen Buchführung erfasst habe.

In Bezug auf die erste Rechnung stellten die Behörden fest, dass Polski Trawertyn nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt gewesen sei, da Erwerber des Grundstücks nicht die Gesellschaft selbst, sondern die natürlichen Personen gewesen seien, die nach der Gründung der Gesellschaft am 26. April 2007 das Grundstück als Sacheinlage in diese eingebracht hätten. Hinsichtlich der zweiten Rechnung vertraten die Steuerbehörden die Auffassung, dass diese ebenfalls kein Recht auf Vorsteuerabzug begründe, weil sie vor Eintragung von Polski Trawertyn ins Handelsregister ausgestellt worden sei. Da die Eintragung am 5. Juni 2007 erfolgt sei, sei die Rechnung auf eine noch nicht existierende Gesellschaft ausgestellt worden.

Nachdem der Dyrektor Izby Skarbowej w Poznaniu auf die Beschwerde von Polski Trawertyn den Standpunkt der Steuerbehörden bestätigt hatte, brachte diese die Rechtssache vor das Wojewódzki Sąd Administracyjny w Poznaniu (Verwaltungsgericht der Wojewodschaft Poznań). Da die Klage abgewiesen wurde, legte Polski Trawertyn Kassationsbeschwerde ein.

Sie begründete ihre Kassationsbeschwerde u. a. damit, dass, wenn bestimmte Vermögensgegenstände - im Ausgangsverfahren ein Natursteinbruch - in der Absicht erworben würden, sie für eine wirtschaftliche Tätigkeit zu nutzen, eine Absicht, die später durch objektive Tatsachen (die Gründung eines Unternehmens und die Registrierung als Steuerpflichtiger) bestätigt worden sei, daraus geschlossen werden dürfe, dass die Gesellschafter als Steuerpflichtige im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2006/112 gehandelt hätten. Nach den Art. 168 und 169 dieser Richtlinie seien aber Steuerpflichtige berechtigt, die Vorsteuer auf Investitionsausgaben abzuziehen, die sie im Hinblick auf die beabsichtigten Tätigkeiten getragen hätten.

Nach Ansicht des Naczelny Sąd Administracyjny hängt die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits davon ab, ob Polski Trawertyn im Licht der Art. 9, 168, 169 und 178 Buchst. a sowie des Art. 226 der Richtlinie 2006/112 und vor dem Hintergrund der den Ausgangsrechtsstreit charakterisierenden Umstände berechtigt ist, die Mehrwertsteuer abzuziehen, die vor ihrer Entstehung als juristische Person für die von den Gesellschaftern getätigten Käufe angefallen ist.

Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist der Personenverbund der zukünftigen Gesellschafter, der vor der formellen Eintragung der Gesellschaft als Handelsgesellschaft und der steuerlichen Erfassung für die Zwecke der Mehrwertsteuer Investitionsausgaben tätigt, nach Eintragung und steuerlicher Erfassung aufgrund von Art. 9 sowie den Art. 168 und 169 der Richtlinie 2006/112 berechtigt, die Vorsteuer abzuziehen, die für die getätigten, einer besteuerten Tätigkeit der Gesellschaft dienenden Investitionsausgaben entrichtet wurde?

2. Steht eine die getätigten Investitionsausgaben belegende Rechnung, die auf die Gesellschafter und nicht die Gesellschaft ausgestellt ist, dem Abzug der für die getätigten Investitionsausgaben entrichteten Vorsteuer im Sinne der ersten Vorlagefrage entgegen?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

Wie sich aus den Erörterungen in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ergeben hat, ist unstreitig, dass die Gesellschafter nach der im Ausgangsverfahren anwendbaren nationalen Regelung nicht berechtigt sind, die Vorsteuer abzuziehen, die auf die Investitionsausgaben entrichtet wurde, die sie vor Eintragung und mehrwertsteuerlicher Erfassung von Polski Trawertyn für die Zwecke und im Hinblick auf die wirtschaftliche Tätigkeit dieses Unternehmens getragen haben, da die Einbringung des fraglichen Investitionsguts in die Gesellschaft ein befreiter Umsatz ist. Daher kann nach der genannten nationalen Regelung in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens nicht nur die Gesellschaft kein Recht auf Abzug der auf dieses Investitionsgut entrichteten Mehrwertsteuer geltend machen, sondern es ist auch den Gesellschaftern, die die Investitionsausgaben getätigt haben, die Berufung auf ein solches Recht verwehrt.

Unter diesen Umständen ist die erste Frage dahin zu verstehen, dass geklärt werden soll, ob die Art. 9, 168 und 169 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach weder die Gesellschafter einer Gesellschaft noch die Gesellschaft selbst ein Recht auf Vorsteuerabzug für Investitionskosten geltend machen dürfen, die vor Eintragung und steuerlicher Erfassung dieser Gesellschaft von den Gesellschaftern für die Zwecke und im Hinblick auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Gesellschaft getragen wurden.

Für die Beantwortung dieser Frage ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die wirtschaftlichen Tätigkeiten im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie), der im Wesentlichen mit Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2006/112 übereinstimmt, mehrere aufeinanderfolgende Handlungen umfassen können und dass die vorbereitenden Tätigkeiten, wie der Erwerb der für die Nutzung erforderlichen Mittel und damit der Kauf eines Grundstücks, bereits der wirtschaftlichen Tätigkeit zuzurechnen sind (vgl. u. a. Urteile vom 14. Februar 1985, Rompelman, 268/83, Slg. 1985, 655, Randnr. 22, und vom 29. Februar 1996, INZO, C-110/94, Slg. 1996, I-857, Randnr. 15).

Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer hinsichtlich der Abgabenbelastung des Unternehmens verlangt, dass schon die ersten Investitionsausgaben, die für die Zwecke eines Unternehmens und zu dessen Verwirklichung getätigt werden, als wirtschaftliche Tätigkeiten angesehen werden. Es würde diesem Grundsatz zuwiderlaufen, wenn als Beginn der wirtschaftlichen Tätigkeiten erst der Zeitpunkt angesetzt würde, von dem an das Grundstück tatsächlich genutzt wird, d. h. die zu versteuernden Einkünfte entstehen. Bei jeder anderen Auslegung würde der Wirtschaftsteilnehmer im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit mit den Mehrwertsteuerkosten belastet, ohne dass er sie abziehen könnte, und es würde willkürlich zwischen Investitionsausgaben vor und während der tatsächlichen Nutzung eines Grundstücks unterschieden (vgl. u. a. Urteile Rompelman, Randnr. 23, und INZO, Randnr. 16).

Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass derjenige, der solche in engem Zusammenhang mit der künftigen Nutzung eines Grundstücks stehenden und für diese erforderlichen Investitionshandlungen vornimmt, als Steuerpflichtiger im Sinne der Sechsten Richtlinie anzusehen ist (vgl. Urteil Rompelman, Randnr. 23).

Demnach können die Gesellschafter einer Gesellschaft in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie vor Eintragung und mehrwertsteuerlicher Erfassung ihrer Gesellschaft Investitionen getätigt haben, die für die künftige Nutzung des Grundstücks durch die Gesellschaft erforderlich sind, als mehrwertsteuerpflichtig angesehen werden, und sie sind daher grundsätzlich befugt, ein Recht auf Vorsteuerabzug geltend zu machen.

Dass die Einbringung eines Grundstücks in eine Gesellschaft durch deren Gesellschafter ein von der Mehrwertsteuer befreiter Umsatz ist und die Gesellschafter dabei keine Mehrwertsteuer einnehmen, darf deshalb nicht dazu führen, dass sie im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit mit den Mehrwertsteuerkosten belastet werden, ohne dass sie sie abziehen oder erstattet bekommen könnten (vgl. in diesem Sinne Urteil Rompelman, Randnr. 23).

Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass ein Steuerpflichtiger, dessen einziger Gesellschaftszweck die Vorbereitung der wirtschaftlichen Tätigkeit eines anderen Steuerpflichtigen ist und der keinen steuerbaren Umsatz bewirkt hat, in Anwendung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer ein Recht auf Abzug im Zusammenhang mit steuerbaren Umsätzen geltend machen kann, die von dem zweiten Steuerpflichtigen bewirkt wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2004, Faxworld, C-137/02, Slg. 2004, I-5547, Randnrn. 41 und 42). Diese Auslegung der sechsten Richtlinie betraf einen Fall, in dem sich die Mehrwertsteuer, die der erste Steuerpflichtige abziehen wollte, auf Leistungen bezog, die dieser in Anspruch genommen hatte, um beabsichtigte steuerbare Umsätze des zweiten Steuerpflichtigen zu ermöglichen.

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 46 bis 49 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, weicht zwar der tatsächliche und rechtliche Rahmen des Ausgangsrechtsstreits des Vorabentscheidungsersuchens, zu dem das Urteil Faxworld ergangen ist, von dem der Rechtssache des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ab. Jedoch behalten die Gründe, auf denen die Auslegung des Gerichtshofs im Urteil Faxworld beruht, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ihre Gültigkeit.

Im Ergebnis muss daher die Gesellschaft, damit die Neutralität der Steuerlast gewährleistet werden kann und da es den Gesellschaftern, obwohl sie als mehrwertsteuerpflichtig angesehen werden können, nach den nationalen Rechtsvorschriften nicht möglich ist, sich auf von Polski Trawertyn bewirkte steuerbare Umsätze zu berufen, um sich von den Mehrwertsteuerkosten im Zusammenhang mit den Investitionsumsätzen zu entlasten, die für die Zwecke und im Hinblick auf die Tätigkeit dieser Gesellschaft bewirkt wurden, in die Lage versetzt werden, diese Investitionsumsätze beim Mehrwertsteuerabzug zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Faxworld, Randnr. 42).

Dieses Ergebnis wird nicht durch das Argument in Frage gestellt, die Gefahr von Steuerhinterziehung und Mehrwertsteuermissbrauch könne steigen, wenn in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens zugelassen werde, dass sich die Gesellschafter die gezahlte Vorsteuer erstatten ließen oder dass Polski Trawertyn diese Vorsteuer abziehe.

Der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist nämlich zu entnehmen, dass der Status eines Steuerpflichtigen nur erworben wird und das Abzugsrecht nur ausgeübt werden kann, wenn derjenige, der einen Vorsteuerabzug vornimmt, nachgewiesen hat, dass die Voraussetzungen hierfür gegeben sind, und seine Absicht, zu steuerbaren Umsätzen führende wirtschaftliche Tätigkeiten aufzunehmen, durch objektive Anhaltspunkte belegt wird. Sollte die Steuerbehörde feststellen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise ausgeübt wurde, könnte sie rückwirkend die Erstattung der abgezogenen Beträge verlangen (vgl. u. a. Urteile Rompelman, Randnr. 24, INZO, Randnr. 24, und vom 3. März 2005, Fini H, C-32/03, Slg. 2005, I-1599, Randnr. 33).

Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 9, 168 und 169 der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach weder die Gesellschafter einer Gesellschaft noch die Gesellschaft selbst ein Recht auf Vorsteuerabzug für Investitionskosten geltend machen dürfen, die vor Gründung und Eintragung dieser Gesellschaft von den Gesellschaftern für die Zwecke und im Hinblick auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Gesellschaft getragen wurden.

Zur zweiten Frage

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 168 und 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einer Gesellschaft der Vorsteuerabzug versagt ist, wenn die Rechnung vor Eintragung und mehrwertsteuerlicher Erfassung dieser Gesellschaft auf ihre zukünftigen Gesellschafter ausgestellt wurde.

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das in den Art. 167 ff. der Richtlinie 2006/112 geregelte Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann. Dieses Recht kann für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (Urteil vom 15. Juli 2010, Pannon Gép Centrum, C-368/09, Slg. 2010, I-7463, Randnr. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Zu den formellen Voraussetzungen dieses Rechts ergibt sich aus Art. 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112, dass es nur ausgeübt werden kann, wenn der Steuerpflichtige eine Rechnung besitzt. Art. 226 der Richtlinie sieht vor, dass unbeschadet der in der Richtlinie festgelegten Sonderbestimmungen gemäß Art. 220 der Richtlinie ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die Angaben enthalten müssen, die in diesem Art. 226 aufgeführt sind. Somit muss die Rechnung nach Art. 226 Nrn. 1 und 5 der Richtlinie das Ausstellungsdatum der Rechnung sowie den vollständigen Namen und die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen und des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers enthalten.

Diesen Bestimmungen ist zu entnehmen, dass die Mitgliedstaaten die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nicht von der Erfüllung von Anforderungen an den Inhalt der Rechnungen abhängig machen können, die in der Richtlinie 2006/112 nicht ausdrücklich vorgesehen sind. Die Mitgliedstaaten können zwar nach Art. 273 der Richtlinie weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, doch dürfen sie diese Möglichkeit nicht dazu benutzen, zusätzlich zu den in dieser Richtlinie genannten Pflichten weitere Pflichten festzulegen (vgl. Urteil Pannon Gép Centrum, Randnr. 41).

Darüber hinaus hat der Gerichtshof entschieden, dass der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer erfordert, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat. Verfügt die Steuerverwaltung über die Angaben, die für die Feststellung erforderlich sind, dass der Steuerpflichtige als Empfänger, an den die fraglichen Umsätze bewirkt werden, die Mehrwertsteuer schuldet, so darf sie hinsichtlich seines Rechts auf Abzug dieser Steuer keine zusätzlichen Voraussetzungen festlegen, die die Ausübung dieses Rechts vereiteln können (vgl. zur Regelung der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft Urteil vom 21. Oktober 2010, Nidera Handelscompagnie, C-385/09, Slg. 2010, I-0000, Randnr. 42).

Für das Ausgangsverfahren ist festzustellen, dass die materiellen Voraussetzungen des Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112, wie sich aus der Begründung zur ersten Vorlagefrage ergibt, wohl erfüllt sind, so dass u. a. Polski Trawertyn berechtigt ist, die Mehrwertsteuer für den Grundstückserwerb abzuziehen, da dieser Umsatz tatsächlich für die Zwecke ihrer besteuerten Umsätze bewirkt wurde.

Dass Polski Trawertyn nicht in der Lage ist, ihr Vorsteuerabzugsrecht auszuüben, weil sie zum Zeitpunkt der Erstellung der Rechnung für den Erwerb noch nicht eingetragen und mehrwertsteuerlich erfasst war und die Rechnung deshalb auf die Gesellschafter ausgestellt wurde, obwohl, wie das vorlegende Gericht festgestellt hat, Personenidentität vorliegt zwischen denen, die die Vorsteuer zu entrichten hatten, und denen, die Polski Trawertyn bilden, ist als Folge einer rein formalen Pflicht anzusehen.

Wie der Generalanwalt in Nr. 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, kann die Erfüllung einer solchen Pflicht nicht verlangt werden, wenn dieses Erfordernis in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Ausübung des Abzugsrechts verhindern und damit die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage stellen würde.

Der Rechtsprechung ist nämlich zum einen zu entnehmen, dass zwar die Steuerpflichtigen nach Art. 213 der Richtlinie 2006/112 verpflichtet sind, die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung ihrer Tätigkeit anzuzeigen, doch sind die Mitgliedstaaten nicht ermächtigt, dem Steuerpflichtigen die Ausübung des Abzugsrechts zu versagen, wenn eine solche Anzeige nicht erfolgt (vgl. Urteil Nidera Handelscompagnie, Randnr. 48).

Zum anderen hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Rechnung zwar eine wichtige Dokumentationsfunktion erfüllt, da sie überprüfbare Angaben enthalten kann, dass es jedoch Umstände gibt, in denen die Angaben auf andere zulässige Weise als durch eine Rechnung nachgewiesen werden können und das Erfordernis, über eine in allen Punkten der Richtlinie 2006/112 entsprechende Rechnung zu verfügen, geeignet wäre, das Abzugsrecht eines Steuerpflichtigen in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. April 2004, Bockemühl, C-90/02, Slg. 2004, I-3303, Randnrn. 51 und 52).

Wie jedoch der Vorlageentscheidung zu entnehmen ist, liegen in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die für eine zuverlässige und effiziente Einziehung der Mehrwertsteuer erforderlichen Angaben vor.

Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 168 und 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einer Gesellschaft der Vorsteuerabzug versagt ist, wenn die Rechnung vor Eintragung und mehrwertsteuerlicher Erfassung dieser Gesellschaft auf ihre Gesellschafter ausgestellt wurde.

Kosten

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1. Die Art. 9, 168 und 169 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach weder die Gesellschafter einer Gesellschaft noch die Gesellschaft selbst ein Recht auf Vorsteuerabzug für Investitionskosten geltend machen dürfen, die vor Gründung und Eintragung dieser Gesellschaft von den Gesellschaftern für die Zwecke und im Hinblick auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Gesellschaft getragen wurden.

2. Die Art. 168 und 178 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens einer Gesellschaft der Vorsteuerabzug versagt ist, wenn die Rechnung vor Eintragung und mehrwertsteuerlicher Erfassung dieser Gesellschaft auf ihre Gesellschafter ausgestellt wurde.

Fundstelle(n):
TAAAE-04082