BSG Urteil v. - B 8 SO 12/09 R

(Sozialhilfe - Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - Einkommenseinsatz - Freibetrag bei Erwerbstätigkeit - keine Erhöhung nach § 82 Abs 3 S 3 SGB 12 - sozialgerichtliches Verfahren - Beteiligtenfähigkeit - Bekanntgabe Verwaltungsakt - Sprungrevision - Berücksichtigung von Verfahrensfehlern - Wiedereröffnung der gerichtlichen Überprüfung)

Leitsatz

Beim Bezug von Sozialhilfe sind nicht allein deshalb mehr als 30 % des Einkommens aus nichtselbständiger Tätigkeit vom auf die Leistung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung anzurechnenden Einkommen abzusetzen, weil der Leistungsempfänger älter als 65 Jahre ist bzw die Altersgrenze für den Bezug einer Regelaltersrente überschritten hat.

Gesetze: § 19 Abs 2 SGB 12 vom , § 19 Abs 2 SGB 12 vom , § 41 Abs 1 SGB 12 vom , § 41 Abs 1 SGB 12 vom , § 82 Abs 3 S 1 SGB 12 vom , § 82 Abs 3 S 1 SGB 12 vom , § 82 Abs 3 S 3 SGB 12 vom , § 82 Abs 3 S 3 SGB 12 vom , § 37 Abs 1 SGB 10, § 70 Nr 1 SGG, § 70 Nr 3 SGG, § 78 Abs 1 SGG, § 161 Abs 4 SGG, JustizG NW

Instanzenzug: SG Aachen Az: S 19 SO 52/08 Urteil

Tatbestand

1Im Streit sind zusätzliche Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) für die Zeit vom 1.7. bis sowie vom bis zum in Höhe von 48,14 Euro monatlich und vom 1.7. bis in Höhe von 52,50 Euro monatlich.

2Der 1935 geborene Kläger bezog bis zum Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz, bei denen zuletzt ein monatlicher Freibetrag von 149,10 Euro aus erzieltem Erwerbseinkommen berücksichtigt worden war. Für die Zeit vom 1.1. bis bewilligte die Beklagte mit bestandskräftigem Bescheid Grundsicherungsleistungen nur noch unter Berücksichtigung eines Freibetrages von 30 % des Einkommens (100,96 Euro). Auch in der Folgezeit gewährte die Beklagte dem Kläger weiterhin Grundsicherungsleistungen unter Einräumung eines Freibetrags von nur 100,96 Euro für die Zeit vom bis (insgesamt 265,50 Euro monatliche Grundsicherungsleistungen), vom bis (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid für die Zeit ab vom : insgesamt 265,50 Euro monatliche Grundsicherungsleistungen) und vom bis (Bescheid vom , derselbe Widerspruchsbescheid vom : insgesamt 266,50 Euro monatliche Grundsicherungsleistungen) sowie für die Zeit ab unter Einräumung eines Freibetrags in Höhe von 96,60 Euro (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom : insgesamt 280,67 Euro monatliche Grundsicherungsleistungen).

3Die auf höhere Leistungen gerichtete Klage ist erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts <SG> Aachen vom ). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das SG ua ausgeführt, dass der Kläger seine Klage nach § 99 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässigerweise erweitert habe, soweit sie den Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom betreffe. Es könne dahinstehen, ob gegen alle einzelnen Bescheide fristgerecht Widerspruch eingelegt worden sei; die Beklagte habe als Herrin des Widerspruchsverfahrens die Widersprüche - einen davon allerdings erst in der mündlichen Verhandlung - in der Sache beschieden und damit eine eventuelle Bestandskraft wieder beseitigt. Der Kläger habe keinen höheren Leistungsanspruch unter Zugrundelegung eines Freibetrags von mehr als 30 %, wie in § 82 Abs 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) vorgesehen, des Erwerbseinkommens; hohes Lebensalter sei allein kein einen höheren Freibetrag rechtfertigender atypischer Umstand im Sinne eines begründeten Falls (§ 82 Abs 3 Satz 3 SGB XII). Das Gesetz schaffe außerdem keinen Anreiz zur Erwerbsarbeit auf Kosten der Gesundheit.

4Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 82 Abs 3 Satz 3 SGB XII. Die Vorschrift müsse zu seinen Gunsten Anwendung finden, weil ihm in seinem Alter eine Erwerbstätigkeit nicht mehr zumutbar sei. Nach der unzutreffenden Ansicht des SG könne selbst ein voll Erwerbsgeminderter keinen begründeten Fall geltend machen, wenn er sich überobligationsmäßig verhalte, weil der Bezug von SGB-XII-Leistungen seinen Grund typischerweise im individuellen Gesundheitszustand des Hilfesuchenden finde. Nach der Gesetzesbegründung spreche nichts dafür, als überobligationsmäßig zwar die Ferienbeschäftigung eines 14-Jährigen anzusehen und diese dem Begriff des begründeten Falls zu unterstellen, demgegenüber aber die Tätigkeit eines 73-Jährigen anders zu beurteilen. Der in der Vergangenheit zuerkannte Freibetrag in Höhe von 149,10 Euro sei weiterhin der richtige Wert.

5Der Kläger beantragt,das Urteil des SG aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des "Widerspruchsbescheids vom ", die Bescheide der Beklagten vom und in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom und den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm zusätzliche Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Zeit vom 1.7. bis sowie vom bis monatlich in Höhe von 48,14 Euro und für die Zeit vom 1.7. bis von 52,50 Euro zu zahlen.

6Die Beklagte beantragt,die Revision zurückzuweisen.

7Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

8In der mündlichen Verhandlung beim SG hat der Bevollmächtigte der Beklagten auf die Anregung durch den Kammervorsitzenden, dass eine Aussetzung zur Nachholung des Widerspruchsverfahrens betreffend den Bescheid vom nicht mehr stattfinden solle, zu Protokoll erklärt, der Widerspruch gegen den Bescheid vom werde ebenfalls zurückgewiesen und es verbleibe diesbezüglich bei der früheren Entscheidung.

Gründe

9Die Sprungrevision des Klägers ist zulässig (§ 161 Abs 1 SGG) und im Sinne der Zurückverweisung zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das SG (§ 170 Abs 2 Satz 2 und Abs 4 Satz 1 SGG) begründet. Für die Zeiträume vom 1.7. bis und bis müssen noch Widerspruchsverfahren durchgeführt werden; für die übrigen streitbefangenen Zeiträume fehlen hinreichende tatsächliche Feststellungen (§ 163 SGG) dazu, ob dem Kläger die geforderten höheren Grundsicherungsleistungen zustehen.

10Richtiger Klagegegner iS von § 70 Nr 1 SGG ist seit die Stadt Aachen als (örtlich zuständiger) Träger der Sozialhilfe (§ 97 Abs 1, § 98 Abs 1 SGB XII iVm § 3 Abs 2 SGB XII und §§ 1, 2 Landesausführungsgesetz zum SGB XII für das Land Nordrhein-Westfalen <AG NRW-SGB XII> vom - Gesetz- und Verordnungsblatt <GVBl> NRW 816 - iVm der Ausführungsverordnung zum SGB XII des Landes NRW vom - GVBl NRW 817). Seit gilt in NRW nicht mehr das Behördenprinzip (vgl: Art 2 Nr 29 Gesetz zur Modernisierung und Bereinigung von Justizgesetzen im Land NRW vom - GVBl NRW 30; Senatsurteil vom - B 8 SO 19/09 R), sodass § 70 Nr 3 SGG keine Anwendung mehr findet.

11Gegenstand des Verfahrens sind die Bescheide vom und , deren Zugang - wann der Bescheid vom bekannt gegeben wurde, ist allerdings offen (dazu unten) - nicht bestritten wird, in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom , soweit die Beklagte damit höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Zeit vom bis abgelehnt hat. Gegenstand des Verfahrens ist auch der Bescheid vom , der den Bescheid vom unter Zuerkennung einer höheren Leistung ersetzt und diesen damit erledigt hat (§ 39 Abs 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - <SGB X>), in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom , soweit die Beklagte auch höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für den Zeitraum vom 1.7. bis abgelehnt hat. Dieser den Leistungszeitraum ab betreffende Bescheid wird zwar nach der Rechtsprechung des Senats nicht von § 96 Abs 1 SGG (abändernder oder ersetzender Verwaltungsakt) erfasst, weil er einen Folgebewilligungszeitraum betrifft. Allerdings hat der Kläger insoweit die Klage nach § 99 Abs 1 SGG rechtzeitig und auch ansonsten zulässig erweitert; die Beklagte hat sich rügelos darauf eingelassen. Der Bescheid vom über den Folgezeitraum ab ist demgegenüber - unabhängig davon, wann er zugegangen ist - in analoger Anwendung des § 86 SGG Gegenstand des laufenden Widerspruchsverfahrens (dazu später) geworden (Senatsurteil vom - B 8 AY 11/07 R - RdNr 10).

12Ob Gegenstand des Verfahrens ein Bescheid vom geworden ist, soweit auch dieser die Ablehnung höherer Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung - für die Zeit vom 1.7. bis - betrifft, kann indes nicht beurteilt werden. Das SG hat nicht festgestellt, ob das entsprechende Schreiben dem Kläger überhaupt bekannt gegeben (§ 37 Abs 1 SGB X) und ihm gegenüber damit wirksam eine Verfügung ausgesprochen worden ist. Die Kenntnisnahme durch eine spätere Akteneinsicht im Gerichtsverfahren ersetzt jedenfalls nicht die Bekanntgabe; diese erfordert vielmehr, dass die Behörde dem Adressaten willentlich den Inhalt vermittelt (vgl nur Engelmann in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl 2010, § 37 RdNr 3 mwN). Sollte ein Zugang zu verneinen sein, wären in den jeweiligen monatlichen Zahlungen konkludente Bewilligungen und gleichzeitig konkludente Ablehnungen höherer Leistungen zu sehen, die Gegenstand des Verfahrens wären. Auf die Frage der Beweislast für den Zugang käme es nicht an.

13Gegen sämtliche Bescheide wendet sich der Kläger mit kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklagen (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 SGG). Bei dem Rechtsstreit handelt es sich um einen Höhenstreit, bei dem Grund und Höhe des Leistungsanspruchs in vollem Umfang zu überprüfen sind (stRspr; vgl: BSGE 95, 8 ff RdNr 6 = SozR 4-4300 § 140 Nr 1; BSGE 95, 191 ff RdNr 13 = SozR 4-4300 § 37b Nr 2; BSG SozR 4-4300 § 130 Nr 3 RdNr 9).

14Für zwei Zeiträume fehlt es jedoch noch an der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens (§ 78 Abs 1 SGG); das SG hätte vor seiner Entscheidung deshalb noch ein Widerspruchsverfahren nachholen lassen müssen (stRspr; vgl nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 78 RdNr 3a mwN). Der Senat darf dies trotz des Verbots der Überprüfung von Verfahrensmängeln im Verfahren der Sprungrevision berücksichtigen, weil § 161 Abs 4 SGG von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmängeln nicht entgegensteht (vgl: BSG SozR 4-3500 § 21 Nr 1 RdNr 10; B 8/9b SO 13/06 R - RdNr 12), der fehlende Widerspruchsbescheid die Klage unzulässig machen würde und die Zulässigkeit einer Klage ohne Rüge zu prüfen ist.

15Die vom SG veranlasste Erklärung der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom für den Zeitraum vom 1.7. bis stellt keine Widerspruchsentscheidung dar. Das SG hat dieses Vorgehen vielmehr ausdrücklich zur Vermeidung eines entsprechenden, zeitraubenden Verfahrens vorgeschlagen, bei dem insbesondere nach § 116 Abs 2 SGB XII auch sozial erfahrene Dritte zu hören und der Widerspruchsbescheid nach § 85 Abs 3 Satz 1 SGG schriftlich zu erlassen, zu begründen und den Beteiligten bekannt zu geben gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund kann die bezeichnete Erklärung nicht als notwendiger Widerspruchsbescheid auf einen vom Kläger erhobenen Widerspruch verstanden werden. Zwar hat der Kläger sein Rechtsmittel im April 2007 nicht ausdrücklich als Widerspruch gegen den Bescheid vom bzw die konkludenten monatlichen Verfügungen (siehe oben) nach seiner Akteneinsicht in dem Verfahren, das die Zeit vom 1.1. bis betraf, bezeichnet; jedoch hat er "bis auf weiteres" einen höheren Freibetrag beansprucht (Schreiben vom ) und deutlich gemacht, dass dieses Begehren auch die früheren Zeiträume betreffen solle (Schreiben vom ).

16Nachzuholen ist außerdem das Widerspruchsverfahren für die Zeit vom bis . Der Kläger hat sich mit seinem als Widerspruch zu bewertenden Begehren (Schreiben vom und ) für den gesamten Zeitraum gegen den Bescheid vom gewandt, selbst wenn die Beklagte zu Unrecht den Widerspruch als auf die Zeit ab beschränkt angesehen und deshalb im Widerspruchsbescheid vom ausdrücklich nur hierüber entschieden hat. Von der Durchführung eines Widerspruchsverfahrens kann auch nicht Abstand genommen werden, weil die Beklagte durch diese fehlerhafte Auslegung des Widerspruchs letztlich (abschlägig) über die Zeit davor mitbefunden habe. Dies mag zugunsten des Klägers anzunehmen sein, wenn der Widerspruchsbescheid nicht seine verfahrensrechtliche Situation beeinflussen könnte. Gerade dies ist hier aber der Fall, weil nicht feststeht, wann dem Kläger der Bescheid vom zugegangen ist, und weil, falls der Widerspruch verfristet war, die Beklagte gleichwohl die Befugnis besäße, in der Sache zu entscheiden und damit eine eventuelle Bestandskraft aufzuheben.

17Im Hinblick auf diese Befugnis der Beklagten ist die Klage nicht bereits wegen Bestandskraft des Bescheids vom für die Zeit vom 1.4. bis unbegründet. Zwar hat das SG - wie bereits ausgeführt - nicht festgestellt, wann dieser Bescheid dem Kläger zugegangen und ob der von diesem erhobene Widerspruch rechtzeitig eingelegt worden ist; die Beklagte hat aber mit ihrem Widerspruchsbescheid vom für diesen Zeitraum in der Sache entschieden und damit die gerichtliche Überprüfung wiedereröffnet, sodass eine eventuelle Bindungswirkung nicht mehr entgegensteht (vgl nur BSGE 49, 85 ff = SozR 2200 § 1422 Nr 1).

18Ob der Kläger durch die angefochtenen Bescheide, soweit bereits Widerspruchsbescheide ergangen sind, beschwert ist (§ 54 Abs 2 Satz 1 SGG), ihm also zusätzliche 48,14 Euro bzw ab 52,50 Euro an Grundsicherungsleistungen insgesamt zustehen, kann der Senat aber nicht abschließend beurteilen, weil sich das SG - wenn auch unter Feststellung des Alters des Klägers - ausschließlich mit der Frage eines höheren Freibetrags bei der Einkommensanrechnung befasst hat, und zwar ohne Ausführungen zum genauen monatlichen Einkommen. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 19 Abs 2 (in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom - BGBl I 3022 - bzw ab durch das Gesetz zur Anpassung der Regelaltersrente an die demografische Entwicklung und Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom - BGBl I 554 - erhalten hat) iVm § 41 SGB XII (in der Fassung, die die Norm durch das Gesetz vom bzw ab dem durch das Gesetz vom erhalten hat). Danach ist - zusammengefasst formuliert - ua Personen, die das 65. Lebensjahr erfüllt bzw ab die Altersgrenze (Anhebung der 65 Jahre für Geburtsjahrgänge ab 1947 um je einen Monat für jeden Jahrgang über dem Geburtsjahr 1946) erreicht haben, mit gewöhnlichem Aufenthalt im Inland auf Antrag Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu leisten, soweit sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus Einkommen und Vermögen nach §§ 82 bis 84 und 90 SGB XII beschaffen können.

19Zu Recht ist das SG - wie die Beklagte - davon ausgegangen, dass gemäß § 82 Abs 3 Satz 1 SGB XII (idF, die die Norm durch das Gesetz zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im Sozialrecht - Verwaltungsvereinfachungsgesetz - vom - BGBl I 818 - <für die Zeit bis > bzw durch das Gesetz zur Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom - BGBl I 2670 - <für die Zeit ab > erhalten hat) bei der Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung lediglich ein Betrag in Höhe von 30 vom Hundert des Einkommens aus selbstständiger oder nichtselbstständiger Tätigkeit der Leistungsberechtigten, ab begrenzt auf 50 vom Hundert des Eckregelsatzes, abzusetzen ist.

20Ein höherer Freibetrag nach § 82 Abs 3 Satz 3 SGB XII ist nicht gerechtfertigt. Danach kann abweichend von Abs 3 Satz 1 in begründeten Fällen ein anderer Betrag vom Einkommen abgesetzt werden. Einen begründeten Fall hat der Senat für ein nach § 104 Abs 1 Nr 3 iVm § 107 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) geleistetes Ausbildungsgeld mit Rücksicht auf die besondere Situation behinderter Menschen in Werkstätten aus Gleichheitsgründen angenommen (BSGE 106, 62 ff RdNr 29 ff = SozR 4-3500 § 82 Nr 6; Urteil vom - B 8 SO 15/08 R - RdNr 18). Darüber hinaus soll eine Erhöhung des Freibetrages insbesondere als zusätzliche Motivation bei schweren gesundheitlichen oder persönlichen Beeinträchtigungen dienen (Hohm in Schellhorn/Schellhorn/Hohm, SGB XII, 18. Aufl 2010, § 82 SGB XII RdNr 50; Lücking in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 82 RdNr 76, Stand Juni 2008; ähnlich wohl auch Brühl in Lehr- und Praxiskommentar SGB XII <LPK-SGB XII>, 8. Aufl 2008, § 82 SGB XII RdNr 78). Es kann dahinstehen, ob dem zu folgen ist, weil vorliegend keine besondere Beeinträchtigung zu bejahen ist.

21Nach Sinn und Zweck der Regelung ist es jedenfalls nicht zulässig, allein aufgrund des Alters einen erhöhten Freibetrag für Einkünfte aus einer ausgeübten Tätigkeit einzuräumen. Die Funktion des § 82 Abs 3 SGB XII besteht zwar allgemein darin, einen Anreiz zu schaffen, (trotz des Alters bzw einer vollen Erwerbsminderung) Arbeit aufzunehmen, die Arbeitsleistung zu steigern und den Arbeitswillen zu erhalten (vgl: BSGE 106, 62 ff RdNr 35 = SozR 4-3500 § 82 Nr 6; Lücking, aaO, K § 82 RdNr 76, Stand Juni 2008; Brühl, aaO, § 82 SGB XII RdNr 75). Abs 3 Satz 3 selbst soll allerdings dem Hilfeträger nur die Möglichkeit eröffnen, gegenüber der typisierenden Regelung des Abs 3 Satz 1 flexibel zu reagieren (BT-Drucks 15/1514, S 65 zu § 77 des Entwurfs; Wahrendorf in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 3. Aufl 2010, § 82 SGB XII RdNr 88; Adolph in Linhart/Adolph, SGB II/SGB XII/Asylbewerberleistungsgesetz, § 82 SGB XII RdNr 82 f, Stand Mai 2007; Schmidt in juris PraxisKommentar SGB XII <jurisPK-SGB XII> § 82 SGB XII RdNr 68 SGB XII). Ein anderer Freibetrag ist damit im Rahmen einer Ermessensentscheidung (BSG, aaO, RdNr 35) nur zulässig, wenn kein Regelfall vorliegt.

22Die Situation des Klägers entspricht jedoch gerade dem Regelfall des § 82 Abs 3 Satz 1 SGB XII. Anders als im früheren Recht des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) - § 76 Abs 2a (Absetzung in angemessener Höhe für Einkünfte bestimmter Personen) - werden vom SGB XII bei der Hilfe zum Lebensunterhalt nämlich ohnedies lediglich noch Personen erfasst, die voll erwerbsgemindert, also nicht mindestens drei Stunden täglich unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein können (§ 21 Abs 1 Satz 1 SGB XII iVm § 7 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - <SGB II>), oder noch nicht bzw - wie der Kläger - nicht mehr im erwerbsfähigen Alter sind (vgl hierzu: Hohm, aaO, § 82 SGB XII RdNr 47; Schmidt, aaO, RdNr 66; Eicher in jurisPK-SGB XII, § 21 SGB XII RdNr 1, 9, 15 f). Ob das Beispiel des Ferienjobs eines Schülers in der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 15/1514, S 65 zu § 77 des Entwurfs) für die Annahme eines begründeten Falls iS des § 82 Abs 3 Satz 3 SGB XII geglückt ist, mag bezweifelt werden; denn Schüler dürften regelmäßig als Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft unter das SGB II fallen. Das Beispiel in der Gesetzesbegründung rechtfertigt jedenfalls nicht die vom Kläger für seinen Fall gewünschte Auslegung der Norm. Die Anwendung des § 82 Abs 3 Satz 3 SGB XII generell auf Einkommen aus Tätigkeiten von über 65-Jährigen ohne zusätzliche Umstände, wäre geradezu systemwidrig. Der Gesetzgeber hat vielmehr mit der Neuregelung des Sozialhilferechts ab als einfache, praktikable und einheitliche Lösung eine prozentuale Einkommensfreistellung für den Regelfall gewählt (vgl BT-Drucks 15/1514, S 65 zu § 77 Abs 3).

23Das SG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2011:140411UB8SO1209R0

Fundstelle(n):
EAAAD-90534