BFH Urteil v. - III R 74/10

Benennung des Beklagten nach Ablauf der Klagefrist

Leitsatz

Bei der Auslegung einer beim Finanzgericht (FG) eingereichten Klageschrift sind nicht nur die dem FG als Adressaten, sondern auch die im Zeitpunkt des Klageeingangs der Behörde bekannten oder vernünftigerweise erkennbaren Umstände zu berücksichtigen. Die Auslegung der Klageschrift darf nicht davon abhängen, wann die zu ihrer Auslegung heranzuziehenden Umstände dem FG als zweitem der beiden möglichen Adressaten der Klageschrift bekanntgeworden sind (hier: Bezeichnung der beklagten Familienkasse erst nach Ablauf der Klagefrist unschädlich).

Gesetze: FGO § 47 Abs. 1, FGO § 47 Abs. 2, FGO § 65 Abs. 1, BGB § 133

Instanzenzug: FG des Landes Sachsen-Anhalt Urteil vom 4 K 1090/07 (Verfahrensverlauf),

Gründe

1 I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erhob am „Klage gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom / Kindergeld für meinen Sohn X…sowie Leistungsklage auf ausstehendes Kindergeld ...”. Die beklagte Behörde und das Aktenzeichen des angefochtenen Bescheides sowie die Kindergeldnummer waren nicht angegeben und der Bescheid war der Klage nicht beigefügt. Der Vorsitzende des zuständigen Senats des Finanzgerichts (FG) gab der Klägerin mit Schreiben vom auf, umgehend anzugeben, wer Beklagte sein solle. Am teilte die Klägerin mit, Beklagte sei die Familienkasse Y. Die Geschäftsstelle des FG hatte bereits am auf dem Aktenstammblatt vermerkt, dass sich die Klage gegen die Familienkasse Y richte und deren Aktenzeichen hinzugefügt; die Daten hatte die Geschäftsstelle ausweislich eines Aufklebers „von Frau Z erfahren”.

2 Das FG wies die Klage als unzulässig ab, weil die am eingegangene Klageschrift den Anforderungen des § 65 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht entspreche und die fehlenden Angaben nicht bis zum Ablauf der Klagefrist am nachgeholt worden seien. Fehlende Angaben könnten zwar nach Ablauf der Klagefrist präzisiert werden. Bis zu deren Ablauf müssten aber Kläger, Beklagter und Streitgegenstand feststehen. Im Streitfalle habe sich der Klageschrift nicht entnehmen lassen, ob sich die Klage gegen eine Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit oder einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft —z.B. der Länder Sachsen-Anhalt oder Sachsen, eines Landkreises oder einer Stadt— richte. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand komme nicht in Betracht.

3 Zur Begründung der Revision trägt die Klägerin vor, das FG habe die Klage zu Unrecht durch Prozessurteil abgewiesen.

4 Die Klägerin beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

5 Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

6 II. Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG.

7 1. Das FG hat die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen.

8 a) Die Klageschrift muss nach § 65 Abs. 1 FGO u.a. den Beklagten bezeichnen. Entspricht eine Klage den Anforderungen des § 65 Abs. 1 FGO nicht, so hat der Vorsitzende oder der Berichterstatter den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern (§ 65 Abs. 2 Satz 1 FGO).

9 Da sich die Klägerin gegen die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung wehrte und somit eine Anfechtungsklage erhoben hatte, unterlag sie der einmonatigen Klagefrist des § 47 Abs. 1 FGO. Ihre Klageschrift ist danach rechtzeitig beim FG eingegangen. Gegen welche Familienkasse sich die Klage richtete, hatte die Klägerin dem FG bis zum Ablauf der Klagefrist nicht mitgeteilt.

10 b) Die verspätete Benennung der Familienkasse ist jedoch unschädlich. Eine Klageschrift ist wie Willenserklärungen im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) analog § 133 BGB —ohne Bindung an die Vorinstanz— auszulegen (, BFHE 169, 507, BStBl II 1993, 306; , BFH/NV 2007, 2322). Da im finanzgerichtlichen Verfahren die Klage sowohl beim FG als auch bei der Behörde eingereicht werden kann, die den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat (§ 47 Abs. 2 FGO), sind bei der Auslegung einer beim FG eingereichten Klageschrift nicht nur die dem FG als Adressaten, sondern auch die im Zeitpunkt des Klageeingangs der Behörde —hier der Familienkasse— bekannten oder vernünftigerweise erkennbaren Umstände zu berücksichtigen. Denn die Auslegung der Klageschrift darf nicht davon abhängen, wann die zu ihrer Auslegung heranzuziehenden Umstände dem FG als zweitem der beiden möglichen Adressaten der Klageschrift bekanntgeworden sind (, BFHE 157, 296, BStBl II 1989, 846; in BFHE 169, 507, BStBl II 1993, 306). Diese weniger formstrenge Auslegung entspricht auch dem aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes abzuleitenden Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung und vermeidet eine unnötige Erschwerung des Zugangs zum Gericht (vgl. , BFH/NV 1991, 795).

11 Hätte die Klägerin die Klage nicht beim FG, sondern bei der Familienkasse Y angebracht, dann hätten keine Zweifel bestanden, dass diese die Beklagte sein sollte, da der angefochtene Bescheid in der Klageschrift durch dessen Datum und Gegenstand genau bezeichnet war.

12 c) Der Senat kann offen lassen, ob die Bezeichnung der Beklagten entbehrlich ist, wenn das FG —z.B. wie hier aufgrund eigener Ermittlungen— weiß, gegen wen sich die Klage richtet. Im Streitfall braucht auch nicht geklärt zu werden, ob die Ergänzung der beklagten Behörde nach Ablauf der Klagefrist voraussetzt, dass insoweit ein ergänzungsfähiges Minimum schon angegeben ist und eindeutig und unverwechselbar feststeht (so Gräber/v. Groll, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 65 Rz 7, 23, 56 und 60, m.w.N.; a.A. Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 65 FGO Rz 6, und Stöcker in Beermann/Gosch, FGO § 65 Rz 10 und 127).

13 2. Die Sache ist nicht spruchreif. Ob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung zu Recht aufgehoben hat, wird das FG im zweiten Rechtsgang zu prüfen haben.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
AO-StB 2011 S. 300 Nr. 10
BFH/NV 2011 S. 1705 Nr. 10
FAAAD-90405