BFH Beschluss v. - III B 207/10

Umfang der Sachaufklärungspflicht; volle Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung über die Wiedereinsetzung

Gesetze: FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, FGO § 76 Abs. 1, AO § 110, AO § 355 Abs. 1

Instanzenzug:

Gründe

1 I. Die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) hob mit Bescheid vom gegenüber der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) mit Wirkung ab Januar 2009 die Bewilligung von Kindergeld für deren Sohn auf, weil dieser das 25. Lebensjahr vollendete. Nachdem sich der Ehemann der Klägerin laut Aktenvermerk am fernmündlich an die Familienkasse gewandt hatte, legte die Klägerin mit Schreiben vom „zur Fristwahrung” Einspruch ein ohne Angaben, weshalb der Einspruch erst jetzt eingelegt werde. Die Familienkasse wies den Einspruch nach Sachprüfung mit Einspruchsentscheidung vom als unbegründet zurück. Die Klage blieb ohne Erfolg.

2 Das Finanzgericht (FG) entschied nach richterlichem Hinweis, der angefochtene Aufhebungsbescheid sei bei Einspruchseinlegung bereits bestandskräftig gewesen. Stelle sich im finanzgerichtlichen Verfahren die Unanfechtbarkeit des den Gegenstand des Verfahrens bildenden Bescheids heraus, so sei die Klage nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ohne weitere Sachprüfung als unbegründet abzuweisen. Die gesetzliche Einspruchsfrist sei anders als die in § 109 der Abgabenordnung (AO) genannten Fristen nicht verlängerungsfähig. Das vor Ablauf der Einspruchsfrist geführte Telefonat vom könne nicht als Wiedereinsetzungsantrag gewertet werden. Für das behauptete spätere Gespräch des Ehemannes mit dem Leiter der Familienkasse, das kurz vor dem stattgefunden haben soll, ergäben sich aus den Akten keine Anhaltspunkte. Zum einen könne ein solches Gespräch nach Ablauf der Einspruchsfrist nicht ursächlich für die Fristversäumnis geworden sein, zum anderen seien Wiedereinsetzungsgründe weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.

3 Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der FinanzgerichtsordnungFGO—) geltend. Indem das FG das Gespräch ihres Ehemannes und Zeugen mit dem Leiter der Familienkasse als reine Schutzbehauptung gewertet habe, habe es in unzulässiger Weise die Beweiswürdigung vorweggenommen. Es habe den diesbezüglichen Beweisantrag übergangen und auch seine Amtsermittlungspflicht dadurch verletzt, dass es ihrem Hinweis nicht von sich aus nachgegangen sei. Die Aussage des Zeugen sei entscheidungserheblich. Denn da der Leiter der Familienkasse in dem Gespräch erklärt habe, ein Einspruch sei bis zum möglich, könne ihr, der Klägerin, nicht vorgehalten werden, sie habe eine Auflistung von Wiedereinsetzungsgründen nicht eingereicht. Danach habe das FG die Klage zu Unrecht ohne weitere Sachprüfung als unbegründet abgewiesen.

4 II. Die Beschwerde ist unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO). Der Senat kann offenlassen, ob die Klägerin die geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechend dargelegt hat. Sie liegen jedenfalls nicht vor.

5 Nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

6 a) Die Sachaufklärungspflicht gemäß § 76 Abs. 1 FGO erfordert, dass das FG Tatsachen ermittelt und Beweise erhebt, wenn sich ihm diese Maßnahmen in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls hätten aufdrängen müssen. Es darf substantiierte Beweisanträge, die den entscheidungserheblichen Sachverhalt betreffen, grundsätzlich weder ablehnen noch übergehen. Da die Sachaufklärungspflicht dazu dient, die Spruchreife der Klage herbeizuführen, hat das Gericht jedoch nur das aufzuklären, was aus seiner Sicht entscheidungserheblich ist (, BFH/NV 2010, 52, m.w.N.).

7 b) Nach der danach maßgeblichen materiell-rechtlichen Sicht des FG kam es im Streitfall nicht darauf an, welche Wahrnehmungen der Zeuge bekunden werde.

8 Die Vorentscheidung stützt sich auf die ständige Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteil vom VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791), wonach die FG bei ihrer Sachentscheidung die fristgemäße Einlegung des Einspruchs als materiell-rechtliche Vorfrage zu beachten haben. Dies schließt die volle Überprüfung einer etwaigen Verwaltungsentscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) ein (vgl. Senatsurteil vom III R 54/84, BFHE 158, 273, BStBl II 1989, 1024; , juris). Das FG erkannte, dass im Streitfall die nicht verlängerungsfähige Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO versäumt ist und Wiedereinsetzungsgründe in die versäumte Einspruchsfrist weder geltend gemacht wurden noch sonst ersichtlich sind. Gleich wie sich der Leiter der Familienkasse gegenüber dem Zeugen geäußert haben mag, fehlte nach Auffassung des FG für eine Verlängerung der Einspruchsfrist ebenso die Rechtsgrundlage wie für eine ausdrückliche oder konkludente Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

9 c) Der Klägerin ist zwar darin beizupflichten, dass, sollte der Vertreter der Familienkasse den Eindruck erweckt haben, der Einspruch sei rechtzeitig oder es werde ihr jedenfalls Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist gewährt, sie es zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr für erforderlich halten musste, noch Wiedereinsetzungsgründe geltend zu machen. Verhielte es sich so, dann hätte die Klägerin diese Gründe jedoch nach erfolgtem richterlichen Hinweis vortragen müssen, um dem FG eine entsprechende Prüfung zu ermöglichen.

10 Letztlich kann es dahinstehen, ob die mit Schriftsatz vom —außerhalb der Beschwerdebegründungsfrist des § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO— erstmals vorgetragenen Gründe, ein vermeintlich unverschuldeter Rechtsirrtum hinsichtlich der Form der Wahrung der Einspruchsfrist sowie das angebliche Warten auf ärztliche Atteste, das einem auch nur fristwahrenden Einspruch entgegengestanden haben soll, eine Wiedereinsetzung nach § 110 AO rechtfertigen können. Dem FG hat die Klägerin diese Gründe vorenthalten.

Fundstelle(n):
AO-StB 2011 S. 211 Nr. 7
BFH/NV 2011 S. 1184 Nr. 7
CAAAD-84114