Unterbringung in der Sicherungsverwahrung: Gesamtwürdigung bezüglich des Vorliegens eines Hangs bei Fehlen symptomatischer Vortaten; Abgrenzung zwischen Hang und Allgemeingefährlichkeit
Gesetze: § 66 Abs 1 Nr 3 StGB vom , § 66 Abs 2 StGB vom , § 66 Abs 3 S 2 StGB vom , § 267 Abs 6 StPO
Instanzenzug: LG München II Az: 1 JKLs 24 Js 31010/09 Urteil
Gründe
I.
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen zahlreicher Sexualdelikte (Einzelstrafen von sechs Monaten bis zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Es hat gemäß § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO in den Urteilsgründen dargelegt, weshalb es entgegen dem in der Verhandlung von der Staatsanwaltschaft gestellten Antrag Sicherungsverwahrung nicht angeordnet hat. Mit ihrer wirksam auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft insbesondere die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung; sie rügt die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt nicht vertreten wird, hat keinen Erfolg.
II.
2Die Nachprüfung des Rechtsfolgenausspruchs aufgrund der Sachrüge hat keinen Rechtsfehler ergeben.
31. Die Nichtanordnung der Sicherungsverwahrung weist keinen Rechtsfehler auf. Das Landgericht hat zutreffend erkannt, dass die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 2 und § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB jeweils aF (in der bis zum geltenden Fassung) vorliegen. Es hat aber rechtsfehlerfrei in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Dr. S. den gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF erforderlichen Hang des Angeklagten zu erheblichen Straftaten verneint.
4Soweit die Staatsanwaltschaft eine fehlerhafte Ermessensausübung durch das Landgericht rügt, übersieht sie, dass der Begriff des Hangs ein Rechtsbegriff ist, der der rechtlichen Würdigung des Tatrichters unterliegt (vgl. u.a. BGHR StGB § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 3). Eine Ermessensentscheidung nach § 66 Abs. 2 oder Abs. 3 StGB aF für die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist nur dann zu treffen, wenn der Hang zu erheblichen Straftaten rechtsfehlerfrei festgestellt ist.
5Das Landgericht ist von einem zutreffenden Verständnis des Rechtsbegriffs "Hang" ausgegangen. Das Merkmal "Hang" i.S.d. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF verlangt einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag. Der Hang als "eingeschliffenes Verhaltensmuster" bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand. Seine Feststellung obliegt - nach sachverständiger Beratung (wobei der Rechtsbegriff "Hang" als solcher dem Sachverständigenbeweis nicht zugänglich ist; vgl. Rn. 9) - unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner maßgebenden Umstände dem erkennenden Richter (st. Rspr.; vgl. u.a. Rn. 4; Rn. 5). Dem ist hier Genüge getan. Das Landgericht hat alle für das Vorliegen eines Hanges wesentlichen Gesichtspunkte einer umfassenden Würdigung unterzogen. Hierbei hat es durchaus die für einen Hang des Angeklagten sprechenden Umstände gesehen. Es hat aber im Einzelnen dargelegt und begründet, weshalb es letztlich ein eingeschliffenes Verhaltensmuster nicht erkennen kann. Das Landgericht hat sich dem Gutachter angeschlossen und dessen Erwägungen mitgeteilt, so dass eine revisionsgerichtliche Überprüfung möglich ist. Da es aber selbst die gebotene Gesamtwürdigung vorgenommen hat, ist nicht zu besorgen, es habe unter Verkennung der Kompetenz- und Verantwortungsbereiche die Entscheidung über den Hang dem Sachverständigen überlassen.
6Die Revision zeigt mit ihren Beanstandungen keinen Rechtsfehler auf. Zutreffend ist allerdings der Hinweis, dass in Fällen des § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB aF nach der gesetzlichen Wertung schon allein aus den abgeurteilten Taten ein Hang ableitbar sein kann. Es ist daher bereits im Ansatz zweifelhaft, ob der Umstand, dass der Täter nicht schon früher oder öfters straffällig wurde und dass nicht ein bestimmter zeitlicher Abstand zwischen den Anlasstaten bestand, maßgeblich zur Verneinung eines Hanges herangezogen werden kann (vgl. Senatsbeschluss vom - 1 StR 187/10 Rn. 12 mwN). Das Landgericht hat zwar die Vorverurteilung thematisiert und als nicht einschlägig im engeren Sinn bezeichnet und weiter auch angeführt, dass zwischen der im April 2002 begangenen Tat und den nunmehr gegenständlichen Taten ein Zeitraum von fast sieben Jahren liegt (UA S. 33), es hat diesen Umständen aber nach dem Gesamtkontext der Urteilsgründe kein maßgebliches Gewicht zur Verneinung eines Hanges beigemessen. Denn es hat sich aufgrund eigener Überzeugung (UA S. 32) auch die im Urteil wiedergegebenen (UA S. 31) Ausführungen des Sachverständigen Dr. S. zu eigen gemacht, die gegen einen Hang des Angeklagten sprechen. So weise der Angeklagte keine dissoziale Persönlichkeitsstruktur oder dissozialen Verhaltensweisen auf und habe in den letzten Jahren keinen Alkohol- oder Drogenmissbrauch betrieben. Weiter sei das unterdurchschnittliche Aggressionspotential des Angeklagten und dessen vorgerücktes Alter von 57 Jahren zu berücksichtigen. Als prognostisch günstig sei zudem u.a. zu werten, dass im Arbeitsleben des Angeklagten weitgehend Kontinuität geherrscht und er erkennbar die Bereitschaft gezeigt habe, sich einer Therapie zu unterziehen. Weiterhin seien als prognostisch günstige Faktoren die spezifische Täter-Opfer-Beziehung, die relativ späte Umsetzung der Paraphilie auf der Verhaltensebene und der Umstand anzusehen, dass das delinquente Verhalten des Angeklagten durch den Arbeitsplatz begünstigt wurde, was ein erhebliches aktives Vorgehen seitens des Angeklagten nicht erforderlich gemacht habe.
7Im Übrigen darf der Umstand, dass der Täter nicht schon früher oder öfters straffällig wurde und dass nicht ein bestimmter zeitlicher Abstand zwischen den Anlasstaten bestand, indiziell in zurückhaltender Form durchaus in die notwendige Gesamtwürdigung von Taten und Täterpersönlichkeit eingestellt werden und muss nicht ausgeblendet werden. Denn die Gesamtwürdigung ist mit besonderer Sorgfalt vorzunehmen, wenn - wie hier - bei Vorliegen der formellen Voraussetzungen nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB aF in Ermangelung von symptomatischen Vortaten und neuerlicher Delinquenz trotz erfolgter Strafverbüßung die Tatsachengrundlage besonders schmal ist (vgl. u.a. Rn. 4 mwN). So darf auch berücksichtigt werden, dass ein Angeklagter in der Lage war, sich über einen längeren Zeitraum straffrei zu führen (vgl. Rn. 5).
8Das Landgericht hat sich auch damit befasst, dass den Angeklagten "Warnhinweise" erreicht haben, hat aber in rechtlich nicht zu beanstandender Weise dargetan, dass hiermit keine deutliche Warnfunktion verbunden war. Es liegt daher kein Widerspruch vor, wenn im Rahmen der Strafzumessung strafschärfend gewertet wird, dass er zweimal auf die von ihm vorgenommenen Massagen "angesprochen" wurde und sich dennoch in der Folgezeit nicht von den von ihm begangenen sexuellen Handlungen hat abhalten lassen (UA S. 27 und 28).
9Das Landgericht hat weiter rechtsfehlerfrei dargelegt, dass beim Angeklagten eine intensive Neigung zu Rechtsbrüchen nicht vorliegt. Hangtätereigenschaft und Gefährlichkeit für die Allgemeinheit sind keine identischen Merkmale. Das Gesetz differenziert zwischen den beiden Begriffen sowohl in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF als auch in § 67b Abs. 3 StGB. Der Hang ist nur ein wesentliches Kriterium der Prognose. Der Hang als "eingeschliffenes Verhaltensmuster" bezeichnet einen aufgrund umfassender Vergangenheitsbetrachtung festgestellten gegenwärtigen Zustand. Die Gefährlichkeitsprognose schätzt die Wahrscheinlichkeit dafür ein, ob sich der Täter in Zukunft trotz seines Hanges erheblicher Straftaten enthalten kann oder nicht (vgl. Rn. 7 mwN). Dieser Unterscheidung wird das angefochtene Urteil im Ergebnis gerecht, wenn auch eine gewisse Gefährlichkeit des Angeklagten in entsprechenden Situationen nicht zu verkennen ist, die gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB bei einer etwaigen Reststrafaussetzung zur Bewährung berücksichtigt werden kann.
10Durch das am in Kraft getretene Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom (BGBl. I 2300) hat sich die Rechtslage hinsichtlich des vorliegenden Falles nicht entscheidungserheblich geändert.
112. Soweit die Staatsanwaltschaft in zweiter Linie auch die Strafzumessung rügt, zeigt sie ebenfalls keinen Rechtsfehler auf. Ein solcher ist auch nicht ersichtlich.
Nack Rothfuß Hebenstreit
Graf Sander
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DAAAD-62708