BGH Beschluss v. - 3 StR 208/11

Sicherungsverwahrung: Anforderungen an die Feststellung eines Hangs bzw. eines Hangtäters; Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Maßregelanordnung im Falle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern

Gesetze: § 66 Abs 1 Nr 3 StGB vom , § 66 Abs 2 StGB vom , § 66 Abs 3 S 2 StGB vom , § 176a Abs 2 StGB, Art 103 Abs 3 GG

Instanzenzug: LG Krefeld Az: 21 KLs 50/10 - 27 Js 162/10

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in acht Fällen, sexuellen Missbrauch eines Kindes in zwei Fällen und wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt, Tatwerkzeuge eingezogen und die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Die auf die allgemeine Sachrüge sowie eine Einzelbeanstandung gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg.

2Während der Schuld- und Strafausspruch rechtsfehlerfrei sind, hält die Maßregelanordnung rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

31. Ohne Erfolg rügt die Revision allerdings, die Anordnung verstoße gegen das Verbot der doppelten Bestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG), weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom (NStZ 2010, 263) die Sicherungsverwahrung als Strafe eingeordnet habe; eine solche dürfe neben der erkannten Freiheitsstrafe nicht mehr verhängt werden.

4Diese Einordnung der Sicherungsverwahrung hat der Gerichtshof im Zusammenhang mit der Erörterung getroffen, ob die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung (§ 66b StGB, § 7 Abs. 2 JGG) sowie die nachträgliche Entfristung der erstmals angeordneten Sicherungsverwahrung (§ 67d Abs. 3 StGB) gegen das Verbot rückwirkender Straferhöhung (Art. 7 Abs. 1 Satz 2 MRK) verstoßen. Sie hat keine Bedeutung für die gleichzeitige Verhängung von Strafe und Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB (vgl. EGMR, Urteil vom - Nr. 24478/03 G.     ./. Deutschland - sowie Urteile vom - Nr. 30493/04 S.     ./. Deutschland - und 31047/04 und 43386/08 M.    ./. Deutschland; vgl. schon , NStZ-RR 1996, 122).

52. Hingegen bestehen gegen die Annahme eines Hangs im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF durchgreifende Bedenken. Dieses Merkmal verlangt nach der ständigen Rechtsprechung einen eingeschliffenen inneren Zustand des Täters, der ihn immer wieder neue Straftaten begehen lässt. Hangtäter ist derjenige, der dauerhaft zu Straftaten entschlossen ist oder aufgrund einer fest eingewurzelten Neigung immer wieder straffällig wird, wenn sich die Gelegenheit bietet, ebenso wie derjenige, der willensschwach ist und aus innerer Haltlosigkeit Tatanreizen nicht zu widerstehen vermag (BGH, Urteil vom 17. Dezem-ber 2009 - 3 StR 399/09). Das Vorliegen eines solchen Hangs hat der Tatrichter unter sorgfältiger Gesamtwürdigung aller für die Beurteilung der Persönlichkeit des Täters und seiner Taten maßgebenden Umstände darzulegen (, BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 8). Diese Würdigung bedarf in den Fällen von § 66 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 StGB, bei denen Vortaten und Vorverbüßungen fehlen, besonderer Sorgfalt. In diese Würdigung ist auch einzubeziehen, wenn sich der Täter über längere Zeiträume straflos verhalten hat (vgl. , NStZ-RR 2011, 204).

6An dieser sorgfältigen Gesamtwürdigung fehlt es vorliegend. Es hätte der Würdigung auch all der Umstände bedurft, die das Landgericht (ausschließlich) zur Begründung seiner Überzeugung angeführt hat, warum die bei dem Angeklagten festgestellte "homosexuelle Hauptströmung" mit einer "Präferenz auf vorpubertierende Jungen" nicht zu einer Einschränkung der Steuerungsfähigkeit geführt hat. Die Strafkammer hat dabei darauf abgestellt, dass der Angeklagte zwar in den Jahren 1978, 1981, 1983, 1986 und 1994 immer wieder bestraft wurde, indes nach seiner letzten Entlassung aus dem Strafvollzug im Frühjahr 1997 beruflich einen Abschluss erlangte, wieder über längere Phasen hinweg arbeitete sowie mehrere Jahre eine auch sexuell erfüllte Beziehung zu einer erwachsenen Frau hatte. Auch nach deren Beendigung im Jahr 2003 habe er sich weitere sechs Jahre straffrei verhalten. Dies belege, dass der Angeklagte grundsätzlich zu normgerechtem Verhalten fähig sei. Diese Umstände, die das Landgericht - insoweit rechtsfehlerfrei - bei der Entscheidung über die Schuldfähigkeit des Angeklagten erwogen hat, hätten auch bei der über einen Hang nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB der Erörterung bedurft.

73. Zudem lassen die Urteilsgründe nicht erkennen, dass sich das Landgericht bei der auf § 66 Abs. 2 StGB gestützten Anordnung der Sicherungsverwahrung des ihm dabei eingeräumten Ermessens bewusst war (vgl. , NStZ 2004, 438). Dass das Landgericht eine Ermessensentscheidung getroffen hat, wird nicht ausdrücklich angesprochen. Der Senat kann dies - entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts - auch dem Zusammenhang der Urteilsgründe nicht sicher entnehmen. Die Erwägungen des Landgerichts zur möglicherweise eintretenden Haltungsänderung des Angeklagten während des Strafvollzugs befinden sich in dem Abschnitt der Urteilsgründe, der sich mit der Gefährlichkeit des Angeklagten befasst. Sie schließen auch sprachlogisch ("Dabei ist …") an die Darlegung der Gefahrenprognose an. Die dabei neben anderen zitierte Entscheidung (, NStZ-RR 2005, 337) betrifft die Frage, unter welchen (außergewöhnlichen) Umständen bei der Prognose ausnahmsweise auf den Zeitpunkt der Entlassung abgestellt werden kann.

8Das Revisionsgericht kann die fehlende Ermessensentscheidung nicht ersetzen; sie ist dem neuen Tatrichter vorbehalten (, NStZ-RR 2004, 12).

94. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

10Durch das u.a., NJW 2011, 1931) sind u.a. die hier anzuwendenden Bestimmungen über die Sicherungsverwahrung als mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt worden. Das Bundesverfassungsgericht hat aber angeordnet, dass die Vorschriften bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber - längstens bis - nach Maßgabe der Gründe seiner Entscheidung weiter anwendbar bleiben. Danach bedarf es wegen der derzeit verfassungswidrigen Ausgestaltung der Sicherungsverwahrung einer "strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung", wenn sie gleichwohl angeordnet werden soll. In der Regel wird die Anordnung nur verhältnismäßig sein, wenn "eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist" (BVerfG aaO Rn. 172).

11Der Senat versteht die vom Bundesverfassungsgericht geforderte "strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung" dahin, dass bei beiden Elementen der Gefährlichkeit - mithin der Erheblichkeit weiterer Straftaten und der Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung (vgl. auch )  - ein gegenüber der bisherigen Rechtsanwendung strengerer Maßstab anzulegen ist. Hierzu im Einzelnen:

12a) Hinsichtlich der Erheblichkeit weiterer Straftaten kommen regelmäßig nur "schwere Gewalt- oder Sexualstraftaten" in Betracht. Hierin liegt, ansonsten wäre die genannte Maßgabe ohne Inhalt, eine Einschränkung gegenüber den Taten, die nach bisher geltendem Recht Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung darstellen. Dies gilt sowohl für die Straftatenkataloge als auch für die Beschreibung der Taten, auf die sich der Hang beziehen muss. Nicht alle "erheblichen Straftaten", durch welche die Opfer "seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden" (vgl. § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB aF bzw. § 66 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StGB), sind auch "schwere Gewalt- oder Sexualstraftaten" im Sinne der Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts zur Weitergeltung von § 66 StGB.

13Nach Ansicht des Senats sind Fälle des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176a Abs. 2 StGB) wegen der dafür angedrohten Mindeststrafe von zwei Jahren sowie der für die Tatopfer damit regelmäßig verbundenen psychischen Auswirkungen grundsätzlich als "schwere Sexualstraftaten" im vorstehenden Sinn anzusehen.

14b) Die Wahrscheinlichkeit der Begehung solcher Taten muss "aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten" sein. Auch dies stellt höhere Anforderungen als die bislang vom Gesetz als Beurteilungsgrundlage für die Gefährlichkeitsprognose geforderte "Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten". Der neue Tatrichter wird, sofern er erneut zur Feststellung eines Hangs gelangt, die Gefährlichkeit aus konkreten Umständen herleiten und sich dabei insbesondere auch damit auseinandersetzen müssen, dass sich der Angeklagte über einen langen Zeitraum straffrei verhalten hat.

Fundstelle(n):
XAAAD-91436