OFD Hannover - S 0190 - 10 - StO 141

Haftung für betriebliche Steuern (ohne Abzugssteuern)

1. Umfang der Haftung (Kausalität)

Die Haftungsvorschrift des § 69 Abs. 1 AO umfasst als selbständige Möglichkeiten der Tatbestandsverwirklichung

  • die Nichtfestsetzung

  • die nicht rechtzeitige Festsetzung

  • die Nichterfüllung

  • die nicht rechtzeitige Erfüllung der Steueransprüche sowie

  • die Zahlung der Steuervergütungen und Steuererstattungen ohne rechtlichen Grund.

Nach § 69 AO muss die Pflichtverletzung der in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen ursächlich dafür sein, dass die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt oder erfüllt worden sind. Es muss feststehen, dass der im Gesetz bezeichnete Haftungsschaden ohne die Pflichtverletzung nicht eingetreten wäre (ständige Rechtsprechung). Die Kausalität richtet sich wie bei den zivilrechtlichen Schadensersatzansprüchen nach der sog. Adäquanztheorie. Danach können nur solche Pflichtverletzungen für den Erfolg ursächlich sein, die allgemein oder erfahrungsgemäß geeignet sind, diesen Erfolg zu verursachen. Der Ursachenzusammenhang darf nicht außerhalb des Wahrscheinlichen liegen. Das pflichtwidrige Verhalten kann auch vor Fälligkeit, ggf. auch vor Entstehung der später verkürzten Steueransprüche liegen.

Beispiel 1:

Überweisung der Nettolöhne an die Arbeitnehmer der GmbH, obwohl der Geschäftsführer genau weiß, dass ihm dann nicht mehr ausreichende Mittel für die Entrichtung der darauf entfallenden Lohnsteuer zur Verfügung stehen. Die Pflichtverletzung liegt vor der Entstehung der Lohnsteuer; der Geschäftsführer hätte vor Überweisung der Löhne die Mittel für die Bezahlung der Lohnsteuer sicherstellen müssen, ggf. durch geringere Nettolohnzahlungen.

Beispiel 2:

Der Geschäftsführer weiß, dass die GmbH für den Monat Juli ca. 100.000,00 EUR an Umsatzsteuer wird entrichten müssen. Trotzdem befriedigt er gegen Ende des Monats in vollem Umfang die übrigen Gläubiger der GmbH – auch soweit deren Forderungen noch nicht fällig waren –, so dass ihm für die Tilgung der Steuerschuld keine Mittel mehr zur Verfügung stehen. Die Pflichtverletzung (= ausschließliche Befriedigung der übrigen Gläubiger) liegt vor der Entstehung der Umsatzsteuerschuld.

An der Ursächlichkeit fehlt es, wenn im Fälligkeitszeitpunkt der Steuer bereits ein gerichtliches Verfügungsverbot bestand.

1.1 Grundsatz der anteiligen Tilgung

Bei der Beurteilung der Frage, inwieweit die in §§ 34, 35 AO bezeichneten Personen für sonstige Betriebssteuern (Umsatzsteuer, Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer, pauschale Lohnsteuer u. a.) und damit im Zusammenhang stehende Nebenleistungen haften, ist davon auszugehen, dass beim Fehlen ausreichender Mittel zur Tilgung sämtlicher Verbindlichkeiten die rückständigen Steuerbeträge ungefähr in dem gleichen Verhältnis zu tilgen sind wie die Verbindlichkeiten gegenüber anderen Gläubigern. [1] Benachteiligt der Haftungsschuldner das Finanzamt bei der Verteilung der verwalteten Mittel, verletzt er diese Pflicht zumindest grob fahrlässig und haftet deshalb im Umfang des die durchschnittliche Tilgungsquote unterschreitenden Fehlbetrages. Dies ist die Haftungssumme (vgl. Tz. 2).

1.2 Ausnahmen

Der Haftungsschuldner verletzt die dem Steuergläubiger gegenüber bestehenden Pflichten bereits dann, wenn er sich durch Vorwegbefriedigung oder in sonstiger Weise vorsätzlich oder grob fahrlässig außerstande setzt, eine bereits entstandene, aber erst künftig fällig werdende Steuerforderung im Zeitpunkt der Fälligkeit zu tilgen. Er haftet dann insoweit, als der Steuergläubiger bei pflichtgemäßem Verhalten im Fälligkeitszeitpunkt befriedigt worden wäre. [2]

Beispielsweise haftet der Geschäftsführer für rückständige Körperschaftsteuern in voller Höhe, wenn er, ohne hierzu aufgrund eines den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften entsprechenden Gewinnverteilungsbeschlusses ermächtigt oder verpflichtet zu sein, Ausschüttungen an die Anteilseigner vornimmt, die nach § 38 KStG (ggf. i. V. m. § 34 Abs. 16 KStG) zu einer Erhöhung der Körperschaftsteuer führen. Da die Steuer insoweit nicht im Rahmen eines laufenden Geschäftsbetriebs der Gesellschaft entsteht, sondern Folge einer gezielten Mittelverwendung ist, darf der Geschäftsführer Ausschüttungen nur insoweit vornehmen, als die Gesellschaft auch die hierdurch ausgelöste Körperschaftsteuer entrichten kann. [3]

Die Vermögenslage des Steuerschuldners ist unerheblich, wenn die aufgrund des Umsatzsteuer-Jahresbescheids zu leistende Abschlusszahlung allein darauf zurückzuführen ist, dass aufgrund unrichtiger Voranmeldungen zu hohe Vorsteuervergütungen ausgezahlt wurden. [4] Insoweit greift der Grundsatz der anteiligen Tilgungsverpflichtung für den Verantwortlichen nicht, weil es sich nicht um eine Zahlungsverpflichtung der Gesellschaft, sondern um eine zu Unrecht an die Gesellschaft ausgezahlte Steuervergütung handelt. [5]

Der Haftungsschuldner haftet ohne Rücksicht auf die Verfügbarkeit von Geldmitteln für den eingetretenen Steuerausfall, wenn durch die unterlassene oder verspätete Steueranmeldung aussichtsreiche Vollstreckungsmöglichkeiten des Finanzamts vereitelt worden sind. [6] Die Haftung besteht dann unabhängig vom Umfang der sonstigen Gläubigerbefriedigung jedenfalls insoweit uneingeschränkt, als bei ordnungsgemäßer rechtzeitiger Anmeldung das Finanzamt die verkürzten Steuern ohne Weiteres hätte betreiben können. [7]

Eine Haftung entfällt jedoch, wenn zwischen Verletzung der Steuererklärungspflicht und dem eingetretenen Steuerausfall ein ursächlicher Zusammenhang nicht besteht. Das ist der Fall, wenn mangels ausreichender Zahlungsmittel und vollstreckbaren Vermögens auch bei fristgerechter Abgabe der Steuererklärung die geschuldete Steuer nicht hätte beglichen werden können. [8]

1.3 Steuerliche Nebenleistungen

Die Haftung erstreckt sich ebenfalls auf die aufgrund der Pflichtverletzung bei der Gesellschaft auf die Steuerschulden angefallenen Säumniszuschläge, ggf. begrenzt auf die für die zugrunde liegenden Steuern ermittelte Tilgungsquote. Das gilt selbst dann, wenn die den Säumniszuschlägen zugrunde liegenden Steuerschulden später auf 0 EUR herabgesetzt werden. [9] Eine volle Haftung kommt jedoch regelmäßig nicht in Betracht für Säumniszuschläge, die ab dem Zeitpunkt der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit des Steuerschuldners entstanden sind. [10] Für die in der Zeit danach verwirkten Säumniszuschläge begründet die Illiquidität der Gesellschaft für diese einen Anspruch auf Erlass der Säumniszuschläge aus sachlichen Billigkeitsgründen [11], der wegen der Akzessorietät der Haftung dem Haftungsschuldner selbst dann zugute kommen muss, wenn es in der Person des Steuerschuldners nicht mehr zu einem Erlass der Säumniszuschläge gekommen ist. [12] Zu erlassen ist regelmäßig die Hälfte der verwirkten Säumniszuschläge. [13]

2. Ermittlung der Haftungssumme

Bei der Beurteilung der Verschuldensfrage ist grundsätzlich auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Fälligkeit der jeweiligen Steuerschuld abzustellen. [14] Werden Steuern mit unterschiedlichen Fälligkeitszeitpunkten über einen längeren Zeitraum hinweg nicht oder nicht vollständig entrichtet, so ist die Haftungssumme zeitraumbezogen zu ermitteln; d. h. hinsichtlich der vorhandenen Zahlungsverpflichtungen und der hierauf geleisteten Zahlungen ist auf den ganzen Haftungszeitraum abzustellen. [15] Der Haftungszeitraum beginnt grundsätzlich mit dem Tag der ältesten Fälligkeit der für die Haftung in Betracht kommenden Ansprüche und endet mit dem Zeitpunkt, zu dem der Steuerschuldner zahlungsunfähig geworden ist (z. B. Tag des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw. der Eröffnung des Insolvenzverfahrens). ist der Haftungsschuldner vor Eintritt der Zahlungsunfähigkeit des Steuerschuldners aus seinem Amt ausgeschieden, endet der Haftungszeitraum mit diesem Zeitpunkt. [16] [17]

Ist der Steuerausfall dadurch zustande gekommen, dass der Steueranspruch infolge schuldhaften Verhaltens nicht oder nicht rechtzeitig festgesetzt wurde (z. B. Umsätze wurden schuldhaft erst in der Umsatzsteuer-Jahreserklärung und nicht bereits in der betreffenden Umsatzsteuer-Voranmeldung angegeben oder schuldhaft nicht angemeldete Umsätze wurden erst im Rahmen einer Außenprüfung festgestellt), ist hinsichtlich des Beginns des Haftungszeitraums nicht auf die Fälligkeit der Jahressteuernachzahlung abzustellen. Vielmehr beginnt der Haftungszeitraum bereits mit dem Zeitpunkt, zu dem bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Voranmeldungspflichten die Vorauszahlungsschuld fällig geworden wäre. [18] Der Haftungszeitraum beginnt auch dann früher, wenn die Jahressteuererklärung schuldhaft zu spät abgegeben worden ist und die Steuerfestsetzung und deren Fälligkeit dadurch in eine Zeit fällt, in der die Liquiditätslage sich gegenüber dem Zeitpunkt verschlechtert hat, zu dem die Abschlusszahlung bei gebührender Erfüllung der Erklärungspflicht voraussichtlich fällig geworden wäre.

In die Berechnung zur Ermittlung der durchschnittlichen Tilgungsquote sind die im Haftungszeitraum insgesamt zu tilgenden Verbindlichkeiten einzubeziehen. Die im Haftungszeitraum getilgten Lohnsteuern sind weder bei den Gesamtverbindlichkeiten noch bei den geleisteten Zahlungen zu berücksichtigen. [19]

Bei der Ermittlung der auf die Steuerrückstände geleisteten Zahlungen sind auch die vom Finanzamt verrechneten Vorsteuerüberschüsse als Zahlungen auf die Umsatzsteuerschulden anzusetzen. [20]

Die Ermittlung der Haftungssumme ist nach dem als Anlage beigefügten Berechnungsbogen durchzuführen. Zur Feststellung der Haftungssumme kann das Finanzamt vom Haftungsschuldner die notwendigen Auskünfte über die anteilige Gläubigerbefriedigung im Haftungszeitraum verlangen. Der Haftungsschuldner ist jedoch nicht verpflichtet, die Gläubiger zu benennen sowie Angaben über den jeweiligen Schuldgrund und den Zahlungszeitpunkt der einzelnen Verbindlichkeiten zu machen. [21]

Anlage Berechnungsbogen

zur Ermittlung der Haftungssumme für den Haftungszeitraum vom <DATUM> bis <DATUM> wegen geschuldeter Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis der <NAME>

Steuernummer <>


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1.
Berechnung der Gesamtverbindlichkeiten:
 
1.1
Schuldenstand zu Beginn des Haftungszeitraums
(ohne Steuerschulden)
……… EUR
 
Zugang (+)/Abgang (./., z. B. Forderungsverzicht, Skonti,
Rabatte) an Schulden i. S. von 1.1 (ohne Berücksichtigung
geleisteter Zahlungen) bis zum Ende des Haftungszeitraums
(z. B. Tag des Antrags auf Eröffnung des Konkurs- oder
Insolvenzverfahrens oder der Amtsniederlegung
des Geschäftsführers)
……… EUR
1.2
Zu tilgen waren mithin innerhalb des Haftungszeitraums
insgesamt
……… EUR
1.3
Steuerschulden (ohne Lohnsteuer) zu Beginn des
Haftungszeitraums (zu berücksichtigen sind nicht nur die fälligen,
sondern auch die bereits entstandenen Steuerschulden)
……… EUR
 
Zugang (+)/Abgang (./., z. B. durch Änderung der Festsetzung
oder Erlass nach § 227 AO) an Steuerschulden i. S. der Nr. 1.3
im Haftungszeitraum (ohne Berücksichtigung
geleisteter Zahlungen)
……… EUR
1.4
Steuerschulden insgesamt (ohne Lohnsteuer)
……… EUR
1.5
Die Gesamtverbindlichkeiten (Nrn. 1.2 und 1.4) betragen
……… EUR
2.
Berechnung der Mittelverwendung:
 
2.1
Summe der bezahlten Schulden i. S. von 1.2
im Haftungszeitraum
……… EUR
2.2
Summe der bezahlten Steuerverbindlichkeiten i. S. von 1.4
(einschließlich Umbuchungen) im Haftungszeitraum
……… EUR
2.3
Gesamtsumme der bezahlten Verbindlichkeiten
……… EUR
2.4
Durchschnittliche Tilgungsquote (Betrag lt. Nr. 2.3 in v. H.
des Betrags lt. Nr. 1.5)
…… v. H.
2.5
pauschaler Abschlag für Unsicherheiten der Berechnung
…… v. H.
2.6
anzusetzende Tilgungsquote
…… v. H.
3.
Bei Anwendung des Prozentsatzes lt. Nr. 2.6 auf die
Gesamtsumme der Steuerschulden lt. Nr. 1.4 hätte hierauf
entrichtet werden müssen ein Betrag von
……… EUR
4.
Die Haftungssumme errechnet sich wie folgt:
 
4.1
Betrag, der bei annähernd gleicher Behandlung von Schulden
i. S. von 1.2 und Steuerschulden i. S. von 1.4 auf die
Steuerschulden hätte gezahlt werden müssen lt. Nr. 3
……… EUR
4.2
Betrag, der tatsächlich auf die Steuerschulden (einschließlich
Umbuchungen) gezahlt worden ist lt. Nr. 2.2
……… EUR
5.
Ergebnis: Die Haftungssumme beläuft sich auf
……… EUR

OFD Hannover v. - S 0190 - 10 - StO 141

Fundstelle(n):
BAAAD-03777

1 BStBl 1984 II S. 776

2 BStBl 1984 II S. 776

3, n. v.

4, n. v.

5 BFH/NV 1996, 97

6 BStBl 1991 II S. 678

7 BFH/NV 1992, 79

8 BStBl 1993 II S. 8

9 EFG 1991, 294

10 BStBl 1988 II S. 859

11 BStBl 1984 II S. 415

12 BStBl 1988 II S. 859

13AEAO zu § 240, Nr. 5 c

14 BStBl 1984 II S. 776

15 BStBl 1986 II S. 657

16 BFH/NV 1991, 12

17Zur Frage des Ausscheidens vgl. NJW 1980, 2415; BFH/NV 1988, 485

18 BStBl 1988 II S. 742, vom , BStBl 1988 II S. 980, und vom , BStBl 1991 II S. 678

19 BStBl 2008 II S. 508

20 BStBl 1990 II S. 201, 203

21 BStBl 1990 II S. 357