BFH Urteil v. - II R 5/07

Wertverhältnisse oder tatsächliche Verhältnisse bei Veränderungen der Verkehrs- und Geschäftslage eines Grundstücks; Anspruch auf Grundsteuererlass

Leitsatz

Unter den tatsächlichen Verhältnissen i. S. des § 22 BewG bzw. unter dem "tatsächlichen Zustand" eines Grundstücks sind insbesondere dessen sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften, soweit sie wesentlich für seine Zweckbestimmung und Ertragskraft sind, zu verstehen, aber auch Veränderungen der das Grundstück betreffenden Rechtslage, wie etwa der Wegfall der Grundsteuervergünstigung oder Veränderungen in der bau-planungsrechtlichen (Aus-)Nutzbarkeit. Veränderungen der Verkehrs- und Geschäftslage können als sichtbare Wertänderungen ebenfalls die tatsächlichen Verhältnisse betreffen, wenn sie auf besonderen Umständen des Grundstücks beruhen und dieses damit einen "Sondertatbestand" erfüllt. Ist die Verschlechterung der Geschäftslage eines Grundstücks auf die veränderte Einzelhandelsstruktur und damit einhergehend veränderte Käuferströme sowie auf die Wirtschaftsabschwächung und die damit sinkende Kaufkraft der Region zurückzuführen, liegt nicht eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse, sondern eine Veränderung der Wertverhältnisse vor, für die während des laufenden Hauptfeststellungszeitraums unter den Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 und 2 GrStG ein Anspruch auf Grundsteuererlass besteht.

Gesetze: BewG § 22 Abs. 1, BewG § 22 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1, BewG § 27, GrStG § 33

Instanzenzug: BG (Verfahrensverlauf),

Gründe

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) errichtete 1982 in der A-Straße am Rande der Innenstadt von S ein Geschäftshaus mit Keller- und Erdgeschoss sowie vier Obergeschossen für einen Möbelhandel. Lediglich die oberste Etage war zunächst an eine Versicherungsgesellschaft vermietet, die für ihre Zwecke mobile Zwischenwände aufgestellt hatte.

Im Jahr 1984 stellte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) den Einheitswert für das Gebäude auf den im Sachwertverfahren auf 927 900 DM fest. Dabei hatte er einen Bodenwert von 254 100 DM —dies entsprach einem Wert von 550 DM/qm—, einen Gebäudewert von 905 528 DM und eine Wertzahl von 80 % angesetzt. Das Gebäude war dabei gemäß Teil A der Anlage 14 zu Abschn. 38 der Richtlinien für die Bewertung des Grundvermögens (BewRGr) mit einem Raummeterpreis von 138 DM der Gebäudeklasse 1.223 zugeordnet. Diese Gebäudeklasse betraf mehrgeschossige Verwaltungs-, Sozial- und Wohngebäude sowie Laboratorien und Pförtnergebäude mit guter Ausstattung.

Im Dezember 2004 beantragte der Kläger eine „Wertfortschreibung gemäß § 22 des Bewertungsgesetzes (BewG)…auf den frühestmöglichen Zeitpunkt”, da der Quadratmeterpreis für den Grund und Boden von 550 DM nicht mehr erzielbar sei und die Gebäudeklasse 1.223 nicht mehr zutreffe. Die Versicherungsgesellschaft sei inzwischen ausgezogen. Das Gebäude sei allenfalls noch zu Lagerzwecken nutzbar, weshalb die Gebäudeklasse 2.56 bzw. 2.58 des Teils B der o.a. Anlage 14 vorliege. Im Zeitpunkt der Antragstellung waren lediglich das Keller- und das Erdgeschoss zu einer geringen Miete vermietet. Die übrigen Geschosse standen leer.

Das FA lehnte den Antrag mit Verfügung vom ab, da keine baulichen Veränderungen stattgefunden hätten und auf die Wertverhältnisse vom Hauptfeststellungszeitpunkt abzustellen sei. Einspruch und Klage, mit denen der Kläger auf die schlechte bzw. fehlende Vermietbarkeit hingewiesen hatte, blieben ohne Erfolg.

Während des Klageverfahrens hatte der Kläger das Gutachten eines Sachverständigen für Grundstücksbewertung vorgelegt, wonach der Verkehrswert des Grundstücks im Ertragswertverfahren Ende März 2006 auf 215 000 € ermittelt worden war. Der Sachverständige, dessen Gutachten der Wertfestsetzung im Zwangsvollstreckungsverfahren diente, verwies auf die problembehaftete Lage und den hohen Leerstand in der Umgebung. Solange es nicht durch städtebauliche Maßnahmen zu einer deutlichen Aufwertung des Umfeldes komme, werde sich die Vermietungssituation nicht verbessern. Auch der vom Kläger eingeschaltete und vom Finanzgericht (FG) zu einer schriftlichen Zeugenaussage aufgeforderte Makler bekundete, der Leerstand des streitbefangenen Grundstücks sei durch die „katastrophale Wirtschaftslage und Darstellung der A-Straße” begründet. Durch die vielen Leerstände entstehe der Eindruck einer Geisterstadt, so dass kein Einzelhändler das Risiko eingehe, den dringend notwendigen „ersten Schritt” für eine Aufwertung der Straße zu machen. Hinzu kämen städteplanerische Unsicherheiten und die nachteiligen Folgen durch Großprojekte an anderen Stellen der Stadt.

Das FG folgte mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 989 veröffentlichten Urteil dem FA darin, dass die vorgetragenen Gründe eine Wertfortschreibung nicht ermöglichten, da sie sämtlich die Wertverhältnisse beträfen. Die tatsächlichen Verhältnisse könnten allenfalls unter dem Gesichtspunkt der Geschäftslage betroffen sein. Diese habe sich aber nicht verändert. Der Sachverständige habe sie auf Ende März 2006 mit 1b/2a angegeben. Bereits in der Karte des Vermessungs- und Katasteramtes der Stadt sei zum für die A-Straße lediglich eine 1b-Lage verzeichnet. Die schlechte bzw. fehlende Vermietbarkeit sei strukturell bedingt. Dem könne allenfalls durch einen Grundsteuererlass nach § 33 des Grundsteuergesetzes (GrStG) Rechnung getragen werden. Eine fehlerbeseitigende Wertfortschreibung scheide ebenfalls aus, da der Einheitswert auf den zutreffend festgestellt worden sei.

Mit der Revision rügt der Kläger die fehlerhafte Anwendung des § 22 Abs. 1 und des § 27 des Bewertungsgesetzes (BewG). Zu den tatsächlichen Verhältnissen gehöre auch eine wesentliche Änderung der Geschäftslage eines Grundstücks. Zu einer solchermaßen veränderten Geschäftslage sei es im Streitfall gekommen, wie sowohl der Sachverständige als auch der Makler bekundet hätten. Aus einer ehemaligen City-Lage sei eine problembehaftete Geschäftslage geworden. Darüber hinaus macht der Kläger geltend, die Einheitsbewertung und die Grundsteuer seien verfassungswidrig. Dies lasse sich nicht mehr durch einen Verweis auf die niedrigeren Einheitswerte verneinen. Im Streitfall liege der Einheitswert erheblich über dem gemeinen Wert des Grundstücks.

Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung sowie des Ablehnungsbescheides vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom das FA zu verpflichten, durch Wertfortschreibung auf den den Einheitswert auf 215 000 € festzustellen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision ist unbegründet; sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Die vom Kläger geltend gemachten Gründe für die verlangte Wertfortschreibung betreffen die Wertverhältnisse. Einer darauf gestützten Wertfortschreibung steht § 27 BewG entgegen.

1. Der Kläger hat von Verfassungs wegen keinen Anspruch auf Feststellung eines niedrigeren Einheitswerts oder gar auf Aufhebung der Einheitswertfeststellung zum . Ihm ist zwar darin zuzustimmen, dass die Regelungen über die Einheitsbewertung des Grundvermögens infolge eines überlangen Hauptfeststellungszeitraums zu nicht mehr zeitgemäßen Werten führen; daraus ergibt sich aber weder eine Verfassungswidrigkeit dieser Regelungen noch eine Verfassungswidrigkeit der Erhebung der Grundsteuer. Es ist auch richtig, dass die Aussage in dem (BFHE 209, 138, BStBl II 2005, 428), wonach die festgestellten Einheitswerte des Grundvermögens regelmäßig erheblich unter dem gemeinen Wert lägen, auf im Ertragswertverfahren festgestellte Einheitswerte bezogen war und nicht ohne weiteres auf im Sachwertverfahren festgestellte Einheitswerte erstreckt werden kann. Nach wie vor aber ist zutreffend, dass die Einheitswerte des Grundvermögens nur noch für die Erhebung der Grundsteuer bedeutsam sind (BFH-Urteil in BFHE 209, 138, BStBl II 2005, 428).

Gerade für jene bebaute, nicht (mehr) zu Wohnzwecken oder eigengewerblichen Zwecken genutzte und im Sachwertverfahren bewertete, schwer oder gar nicht vermietbare Grundstücke, deren gemeine Werte die jeweiligen Einheitswerte nicht übersteigen, steht jedoch mit den Regelungen des § 33 Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 Nr. 3 GrStG über den Grundsteuererlass ein ausreichendes Korrektiv zur Verfügung, um im Einzelfall eine verfassungswidrige Besteuerung zu vermeiden. Bei eigengewerblich genutzten Grundstücken ist dabei gemäß § 33 Abs. 2 GrStG auf die Minderung der Ausnutzung des Grundstücks abzustellen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine dem Erlass nach § 227 der Abgabenordnung vergleichbare Billigkeitsmaßnahme; vielmehr besteht bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 33 GrStG ein Rechtsanspruch auf Erlass der Grundsteuer in der gesetzlich vorgesehenen Höhe (,

BFHE 218, 396, BStBl II 2008, 384, und vom II R 4/05, BFH/NV 2008, 405).

2. Bei Erreichen der in § 22 Abs. 1 BewG geregelten Fortschreibungsgrenzen sind Wertfortschreibungen durchzuführen, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse gegenüber der letzten Wertfeststellung geändert haben. Veränderungen der Wertverhältnisse ermöglichen dagegen keine Wertfortschreibung, da gemäß § 27 BewG auch einer Fortschreibung die Wertverhältnisse vom Hauptfeststellungszeitpunkt zugrunde zu legen sind. Soweit in der Literatur die Ansicht vertreten wird, der Begriff der „tatsächlichen Verhältnisse” sollte fallengelassen werden (so Haas in Gürsching/Stenger, BewG und VStG, § 27 BewG Rz 22), da er im Gesetz keine Verwendung mehr finde, ist dies unzutreffend. In § 22 Abs. 4 Satz 3 Nr. 1 BewG wird zur Bestimmung des Fortschreibungszeitpunkts auf die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse abgestellt.

a) Unter den tatsächlichen Verhältnissen bzw. —in der Begrifflichkeit des § 3a der Durchführungsverordnung zum Reichsbewertungsgesetz vom (RGBl I, 338)— unter dem „tatsächlichen Zustand” eines Grundstücks sind insbesondere dessen sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften, soweit sie wesentlich für seine Zweckbestimmung und Ertragskraft sind (so Urteil des Reichsfinanzhofs —RFH— vom III 178/38, RStBl 1940, 727), zu verstehen, aber auch Veränderungen der das Grundstück betreffenden Rechtslage wie etwa der Wegfall der Grundsteuervergünstigung oder Veränderungen in der bauplanungsrechtlichen (Aus-)Nutzbarkeit.

b) Veränderungen der Verkehrs- und Geschäftslage können als sichtbare Wertänderungen (so Halaczinsky in Rössler/Troll, Bewertungsgesetz, Kommentar, Stand Oktober 2007, § 27 Rz 23) ebenfalls die tatsächlichen Verhältnisse betreffen (vgl. , BFHE 57, 10, BStBl III 1953, 5). Als solche sind sie aber abzugrenzen von der allgemeinen Wirtschafts- und Verkehrslage. Die verminderte Ertragskraft eines Grundstücks infolge einer Verschlechterung der Konjunktur ist nicht den tatsächlichen Verhältnissen zuzurechnen (so , RStBl 1939, 63). Vielmehr können Veränderungen in der Verkehrs- und Geschäftslage nur dann den tatsächlichen Verhältnissen zugerechnet werden, wenn sie auf besonderen Umständen des Grundstücks beruhen und dieses damit einen „Sondertatbestand” erfüllt (, BFHE 58, 130, BStBl III 1953, 341, 343, sowie vom III 364/60 U, BFHE 76, 688, BStBl III 1963, 252, 254).

c) Gemäß diesen Grundsätzen ist die verschlechterte Geschäftslage des streitbefangenen Grundstücks nicht Folge veränderter tatsächlicher Verhältnisse, sondern veränderter Wertverhältnisse. Die Verkehrslage hat sich ohnehin nicht entscheidend verändert. Das Grundstück des Klägers hat nach den Feststellungen des FG schon immer zur Innenstadt-Randlage (1b) gehört. Hinsichtlich der Zugangsmöglichkeit sind keine Veränderungen eingetreten. Die Verschlechterung der Geschäftslage ist vielmehr auf die veränderte Einzelhandelsstruktur und damit einhergehend veränderte Käuferströme sowie auf die Wirtschaftsabschwächung und die damit sinkende Kaufkraft der Region zurückzuführen. Diese Ursachen sind Ausdruck der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung. Sie betreffen eine Vielzahl von Grundstücken nicht nur in der Straße, an der das streitbefangene Grundstück liegt, sondern auch in anderen Randlagen der Innenstädte und würden sich bei einer neuen Hauptfeststellung wertmindernd auswirken (vgl. , BFH/NV 2006, 253). Während des laufenden Hauptfeststellungszeitraums besteht unter den Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 und 2 GrStG allerdings ein Anspruch auf Grundsteuererlass (vgl. für im Sachwertverfahren bewertete, nicht eigengewerblich genutzte Grundstücke: BFH-Urteil in BFH/NV 2008, 405).

3. Da der Kläger beantragt hat, das FA zu einer Fortschreibung auf den zu verpflichten, kann offenbleiben, ob auch eine fehlerbeseitigende Wertfortschreibung nach § 22 Abs. 3 BewG in Betracht käme. Eine derartige Fortschreibung wäre nämlich gemäß Abs. 4 Satz 3 Nr. 2 der Vorschrift erst auf den Beginn des Kalenderjahres durchzuführen, in dem der Fehler dem FA bekannt geworden ist. Der Einheitswertbescheid auf den vom weist einen Rechtsfehler auf. Er ordnet das streitbefangene Grundstück zu Unrecht der Gebäudeklasse 1.223 zu. Diese Gebäudeklasse gilt nach Teil A der Anlage 14 zu Abschn. 38 BewRGr für Verwaltungsgebäude, Sozialgebäude, Laboratorien, Pförtnergebäude und Wohngebäude. Zu diesen Gebäuden gehört das Haus des Klägers nicht. Die Tatsache, dass das oberste Stockwerk zunächst von einer Versicherungsgesellschaft genutzt wurde, macht es noch nicht zu einem Verwaltungsgebäude. Das FA hat selbst ermittelt, dass sich dieses Stockwerk nicht von allen anderen unterscheidet. Nach der Definition des Abschn. 16 Abs. 7 Sätze 7 bis 9 BewRGr hätte das Grundstück vielmehr der Gebäudeklasse 4 (Warenhäuser) der Anlage 15 zu Abschn. 38 BewRGr zugeordnet werden müssen. Diese Gebäudeklasse weist bei guter Ausstattung eine geringere Raummeterpreisspanne aus als die Gebäudeklasse 1.223. Allerdings gilt für Warenhäuser als Nachkriegsbauten gemäß § 90 Abs. 1 und 2 BewG i.V.m. § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 90 BewG eine höhere Wertzahl, nämlich statt einer Wertzahl von bisher 80 % eine solche von 85 %. Da dem FA dieser Fehler erst durch die vorliegende Entscheidung des Senats bekannt wird, wäre eine Fortschreibung zur Fehlerbeseitigung —bei Erreichen der Fortschreibungsgrenzen des § 22 Abs. 1 BewG und unter der Voraussetzung, dass sie überhaupt zugunsten des Klägers ausfällt— frühestens auf den möglich.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2009 S. 7 Nr. 1
DStRE 2009 S. 93 Nr. 2
GAAAC-97223