Keine Änderung bestandskräftiger Umsatzsteuerfestsetzungen der Betreiber von Geldspielautomaten
Leitsatz
1. Ein Betreiber von Geldspielautomaten kann nicht im Hinblick auf das und Rs. C-462/02 —Linneweber und Akritidis— (Slg. 2005, I-1131) die Änderung bestandskräftiger Steuerfestsetzungen verlangen.
2. Die Einspruchsfrist von einem Monat gemäß § 355 Abs. 1 AO 1977 ist gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstanden.
3. Zu den Voraussetzungen eines gemeinschaftsrechtlichen Vollzugsfolgenbeseitigungs- und Erstattungsanspruchs.
Gesetze: UStG 1993 § 4 Nr. 9 Buchst. bRichtlinie 77/388/EWG Art. 13 Teil B Buchst. fAO 1977 § 355 Abs. 1EG Art. 10
Instanzenzug: (EFG 2006, 295) (Verfahrensverlauf)
Gründe
I.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, betreibt gewerblich Geldspielgeräte mit Gewinnmöglichkeit und Unterhaltungsautomaten.
Im Jahr 1993 (Streitjahr) führte sie Umsätze in Höhe von ... DM aus, wovon ... DM auf den Betrieb von Geldspielgeräten und ... DM auf den Betrieb von Unterhaltungsautomaten entfielen. Der Vorsteueranspruch betrug ... DM.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) folgte der im September 1994 eingegangenen Umsatzsteuererklärung der Klägerin und setzte die Umsatzsteuer für 1993 auf ... DM fest. Die Festsetzung wurde bestandskräftig.
Im Februar 2005 entschied der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) sei dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, wonach die Veranstaltung oder der Betrieb von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten aller Art in zugelassenen öffentlichen Spielbanken steuerfrei sei, während diese Steuerbefreiung für die Ausübung der gleichen Tätigkeit durch Wirtschaftsteilnehmer, die nicht Spielbankbetreiber seien, nicht gelte; Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG habe unmittelbare Wirkung in dem Sinne, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten darauf berufen könne, um die Anwendung mit dieser Bestimmung unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern (vgl. und Rs. C-462/02 —Linneweber und Akritidis—, Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94, Umsatzsteuer-Rundschau —UR— 2005, 194).
Daraufhin legte die Klägerin mit Schreiben vom gegen den Umsatzsteuerbescheid für 1993 Einspruch mit dem Antrag ein, ihre Umsätze aus dem Betrieb der Geldspielgeräte steuerfrei zu behandeln. Sie beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter Hinweis auf das —Emmott— (Slg. 1991, I-4269, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung —HFR— 1993, 137, UR 1993, 315).
Das FA verwarf den Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom als unzulässig (verfristet) und lehnte eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab.
Mit der daraufhin erhobenen Klage trug die Klägerin im Wesentlichen vor, der Einspruch sei abweichend von § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht als verfristet anzusehen. Im vorliegenden Fall komme es ausnahmsweise nicht auf die Bekanntgabe des Steuerbescheids als fristauslösendes Moment an, weil die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) ihrer Verpflichtung nach Art. 10 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) nicht nachgekommen sei, die Umsatzsteuerbefreiung des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG ordnungsgemäß in nationales Recht umzusetzen. Infolgedessen sei die Rechtsbehelfsfrist gehemmt (sog. Emmott'sche Anlaufhemmung).
Die Klägerin beantragte, die Umsatzsteuer für 1993 unter Berücksichtigung der Umsatzsteuerfreiheit der Umsätze aus gewerblichen Geldspielgeräten auf ... DM festzusetzen, hilfsweise das FA zu verurteilen, zu Unrecht festgesetzte Umsatzsteuer in Höhe von ... DM zurückzuzahlen.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es führte zur Begründung aus, der Einspruch der Klägerin sei verfristet und damit zu Recht vom FA als unzulässig verworfen worden. Auch der Hilfsantrag auf Rückzahlung gezahlter Umsatzsteuer habe keinen Erfolg.
Das Urteil ist in „Entscheidungen der Finanzgerichte” (EFG) 2006, 295 abgedruckt.
Mit der vom FG zugelassenen Revision macht die Klägerin im Wesentlichen geltend:
Die Vorentscheidung verletze § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 i.V.m. Art. 10 EG. Danach sei im Falle einer nicht ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie, auf die sich ein Steuerpflichtiger unmittelbar —auch rückwirkend— im Hinblick auf die Steuerbefreiung bestimmter Umsätze berufen könne, für den Beginn der Einspruchsfrist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 nicht auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe des rechtswidrigen Steuerbescheids, sondern auf den Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung, frühestens jedoch auf den Zeitpunkt der möglichen Kenntnisnahme von der Gemeinschaftswidrigkeit des Steuerbescheids —hier: Veröffentlichung des Linneweber und Akritidis im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften (ABlEG)—, abzustellen, weil die Rechtswidrigkeit des Umsatzsteuerbescheids für 1993 darauf beruhe, dass der nationale Gesetzgeber eine Richtlinie des Gemeinschaftsrechts —hier: Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG— nicht ordnungsgemäß in das nationale Recht —hier: § 4 Nr. 9 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes (UStG)— umgesetzt habe. Da die Rechtsbehelfsbelehrung hierauf nicht hinweise, betrage die Einspruchsfrist gemäß § 356 Abs. 2 AO 1977 ein Jahr ab dem Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie 77/388/EWG.
Die Anlaufhemmung der Einspruchsfrist ergebe sich aus dem in Art. 10 EG verankerten Effektivitätsgebot, das im Falle nicht ordnungsgemäß umgesetzter Richtlinien auch verfahrensrechtliche Folgen habe. Danach dürfe sich ein Mitgliedstaat nicht auf Verfristung berufen, wenn der begünstigte Regelungsadressat der Richtlinie seinen richtlinienkonformen Anspruch geltend mache und die Geltendmachung des Anspruchs praktisch unzumutbar erschwert und versperrt gewesen sei (Hinweis u.a. auf EuGH-Urteil Emmott in Slg. 1991, 4269, HFR 1993, 137, UR 1993, 315 RandNrn. 22 f.). Eine solche Behinderung der effektiven Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht liege vor, wenn nach dem nationalen Steuerverfahrensrecht —wie hier gemäß §§ 172 ff. AO 1977— die Finanzbehörden gemeinschaftsrechtswidrige Steuerbescheide nicht selbst beseitigen dürften und damit das Risiko einer gemeinschaftskonformen Steuergesetzgebung und Steuergesetzanwendung einseitig auf den Bürger verlagert werde.
Überdies sei die Einspruchsfrist von einem Monat gemäß § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 bei —wie hier— legislativem Unrecht unangemessen kurz und könne ihr —der Klägerin— deshalb nicht entgegengehalten werden. Der EuGH erkenne Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit als angemessen an, wenn sie unter Berücksichtigung der Rechtsschutzbelange des Bürgers angemessen seien. Das sei der Fall bei Verjährungsfristen von drei Jahren (Hinweis auf —Dilexport—, Slg. 1999, I-579, HFR 1999, 500, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht —NVwZ— 1999, 634) oder vier Jahren (Hinweis auf —Roquette Fréres—, Slg. 2000, I-10465, Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 2001, 741). Die Monatsfrist zur Einlegung eines Einspruchs nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 sei verglichen mit diesen Fällen unangemessen kurz.
Der Hilfsantrag sei begründet, weil sie einen darauf gerichteten gemeinschaftsrechtlichen Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch nach Maßgabe des —Ciola— (Slg. 1999, I-2517, NJW 1999, 2355) habe.
Überdies könne sie auch auf Grundlage des gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruchs (Hinweis auf —IN.CO.GE—, Slg. 1998, I-6307, HFR 1999, 123, NJW 1999, 201) die Rückzahlung der von ihr zu Unrecht gezahlten Steuern verlangen. Die Umsatzsteuerfestsetzung für 1993 stelle keinen Rechtsgrund für das Behalten der geleisteten Zahlungen dar. Denn diese Festsetzung sei —wie dargelegt— nicht formell bestandskräftig geworden.
Die Klägerin beantragt,
1. das Urteil des Niedersächsischen FG vom 18. (gemeint wohl 9.) November 2005 5 K 249/05 sowie die Einspruchsentscheidung vom aufzuheben und —unter Berücksichtigung der Umsatzsteuerfreiheit der Umsätze aus gewerblichen Geldgewinnspielgeräten— die Umsatzsteuer für das Jahr 1993 unter Abänderung der Umsatzsteuerfestsetzung vom / auf ... DM festzusetzen,
2. hilfsweise: unter Aufhebung des angefochtenen Urteils das FA zu verurteilen, zu Unrecht festgesetzte Umsatzsteuer in Höhe von ... DM zurückzuzahlen.
Sie regt ferner an, gemäß Art. 234 EG eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen, und zwar zu folgenden Fragen:
1. „Ist Art. 10 EG im Fall einer nicht ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie, auf die sich ein Steuerpflichtiger unmittelbar —auch rückwirkend— im Hinblick auf die Steuerbefreiung bestimmter Umsätze berufen kann, so auszulegen, dass er einer nationalen Regel über eine einmonatige Anfechtungsfrist entgegensteht, wenn
- der Fristbeginn an die Bekanntgabe des rechtswidrigen Steuerbescheids anknüpft und die Rechtswidrigkeit darauf beruht, dass eine Richtlinie des Gemeinschaftsrechts nicht ordnungsgemäß in das nationale Recht umgesetzt worden ist, und
- es neben der Anfechtung des Steuerbescheids durch den Steuerpflichtigen ansonsten keine andere verfahrensrechtliche Möglichkeit gibt, die gemeinschaftsrechtswidrig erhobene Steuer erstattet zu bekommen, weil die Finanzbehörden —anders als die allgemeinen Verwaltungsbehörden— nicht ermächtigt sind, unanfechtbare Verwaltungsakte allein aufgrund ihrer nachträglich erkannten Gemeinschaftsrechtswidrigkeit zugunsten des Bürgers zu ändern?”
2. „Ist Art. 10 EG i.S. des Ciola-Urteils des EuGH so auszulegen, dass das FA aus einem Steuerbescheid, der auf einer nicht ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie beruht, nach Ablauf der Anfechtungsfrist keine nachteiligen Rechtsfolgen gegenüber dem Steuerpflichtigen ableiten darf, der Steuerbescheid also zwar bestandskräftig bleibt, jedoch nicht vollzogen werden darf bzw. bei vollzogenen Steuerbescheiden die Vollzugsfolgen zu beseitigen sind (Rückzahlung der festgesetzten Steuer)?”
3. „Steht eine Norm wie § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 lit. d) AO 1977, der den Finanzbehörden die Befugnis entzieht, Steuerbescheide allein wegen ihrer Rechtswidrigkeit aufzuheben, mit Art. 10 EG (Grundsatz der Effektivität) im Einklang?”
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Es tritt dem Revisionsvorbringen unter Bezugnahme auf das angefochtene FG-Urteil entgegen.
II.
Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
1. Wie der EuGH in den Rechtssachen Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2006, 94, UR 2005, 194 ausgeführt hat, wird nach ständiger Rechtsprechung durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der EuGH in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 234 EG vornimmt, erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folge, dass die Gerichte die Vorschriften in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden seien, anwenden könnten und müssten, „wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen” (vgl. RandNr. 41 des Urteils, m.w.N.).
2. Im Streitfall liegen diese Voraussetzungen nicht vor. Das FG hat zu Recht entschieden, dass der Einspruch der Klägerin vom März 2005 gegen die Umsatzsteuerfestsetzung für 1993 verspätet eingelegt worden ist und dass auch aus Art. 10 EG nichts anderes folgt.
a) Nach § 355 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist der Einspruch (§ 347 Abs. 1 Satz 1 AO 1977) innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Ein Einspruch gegen eine Steueranmeldung ist gemäß § 355 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 innerhalb eines Monats nach Eingang der Steueranmeldung bei der Finanzbehörde, in den Fällen des § 168 Satz 2 AO 1977 innerhalb eines Monats nach Bekanntwerden der Zustimmung, einzulegen.
Die Klägerin hat (erst) mit Schreiben vom , beim FA eingegangen am , Einspruch gegen die Umsatzsteuerfestsetzung für 1993 erhoben. Zu diesem Zeitpunkt war die einmonatige Frist für die Einlegung eines Einspruchs bereits abgelaufen.
b) Der Auffassung der Klägerin, aus dem in Art. 10 EG verankerten Effektivitätsgebot ergebe sich eine Anlaufhemmung der Einspruchsfrist, vermag der Senat nicht zu folgen.
aa) Gemäß Art. 10 Abs. 1 Satz 1 EG treffen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgabe (Art. 10 Abs. 1 Satz 2 EG). Die Mitgliedstaaten haben zudem alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrages gefährden können (Art. 10 Abs. 2 EG).
bb) Nach der Rechtsprechung des EuGH verpflichtet der in Art. 10 EG verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit eine Verwaltungsbehörde auf entsprechenden Antrag hin, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom EuGH vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen, wenn u.a. die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen (vgl. —Kühne und Heitz—, Slg. 2004, I-837, HFR 2004, 488, Deutsches Verwaltungsblatt —DVBl— 2004, 373, NVwZ 2004, 459). In dieser Entscheidung hat der EuGH u.a. ausgeführt, die Rechtssicherheit gehöre zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten sei, trage zur Rechtssicherheit bei. Daher verlange das Gemeinschaftsrecht nicht, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet sei, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (RandNr. 24 des Urteils; ebenso und C-422/04 —i 21 Germany GmbH und Arcor AG & Co. KG—, DVBl 2006, 1441 RandNr. 51).
Hierzu hat der EuGH klargestellt, dass das EuGH-Urteil Kühne und Heitz in Slg. 2004, I-837, HFR 2004, 488, DVBl 2004, 373, NVwZ 2004, 459 die Verpflichtung der betreffenden Behörde aus Art. 10 EG, eine unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erlassene bestandskräftige Entscheidung zu überprüfen, u.a. von einer Befugnis dieser Behörde nach nationalem Recht zur Rücknahme der Entscheidung abhängig macht (vgl. —Kapferer—, Slg. 2006, 2585, NJW 2006, 1577; i 21 Germany GmbH und Arcor AG & Co. KG in DVBl 2006, 1441 RandNr. 52).
Daraus folgt —entgegen der Ansicht der Klägerin— im Umkehrschluss, dass die Aufhebung eines rechtswidrigen belastenden bestandskräftigen Verwaltungsakts nach der EuGH-Rechtsprechung in Fällen der vorliegenden Art nur dann in Betracht kommt, wenn sie durch eine nationale Regelung ermöglicht wird. Ein bestandskräftiger Steuerbescheid ist deshalb —auch unter Berücksichtigung von Art. 10 EG— nicht änderbar, wenn das nationale Recht hierfür —wie §§ 172 ff. AO 1977— keine Rechtsgrundlage vorsieht (vgl. Frenz, DVBl 2004, 375; Birk/Jahndorf, UR 2005, 198, 199 f.).
Überdies unterscheidet sich der Sachverhalt, der dem EuGH-Urteil Kühne und Heitz in Slg. 2004, I-837, HFR 2004, 488, DVBl 2004, 373, NVwZ 2004, 459 zugrunde lag, maßgeblich vom vorliegenden Streitfall. Denn die Kühne & Heitz NV hatte sämtliche ihr zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft, während die Klägerin von ihrem Recht, gegen die Umsatzsteuerfestsetzung für das Streitjahr 1993 rechtzeitig Einspruch einzulegen, keinen Gebrauch gemacht hat. Auch deshalb kann sich die Klägerin nicht auf das EuGH-Urteil Kühne und Heitz berufen (vgl. auch EuGH-Urteil i 21 Germany GmbH und Arcor AG & Co. KG in DVBl 2006, 1441 RandNr. 53 f.).
c) Der Senat vermag ferner der Auffassung der Klägerin nicht zu folgen, die Einspruchsfrist von einem Monat gemäß § 355 Abs. 1 AO 1977 sei unangemessen kurz und könne ihr deshalb nicht entgegengehalten werden.
aa) Nach der Rechtsprechung des 33/76 —Rewe— (Slg. 1976, 1989, NJW 1977, 495) verbietet das Gemeinschaftsrecht es bei seinem gegenwärtigen Stand nicht, einem Bürger, der vor einem innerstaatlichen Gericht die Entscheidung einer innerstaatlichen Stelle wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht anficht, den Ablauf der im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Fristen für die Rechtsverfolgung entgegenzuhalten, wobei jedoch das Verfahren für die Klage nicht ungünstiger ausgestaltet sein darf als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen.
Die Entscheidung erging auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts in einem Verfahren, in dem ein Verwaltungsakt nach deutschem Verfahrensrecht wegen Fristversäumnis unanfechtbar geworden war.
bb) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist diese Entscheidung des EuGH nicht überholt (ebenso , BFH/NV 2005, 229).
Die Behauptung der Klägerin, der EuGH habe in dieser Entscheidung als Prüfungsmaßstab seinerzeit nur auf das Diskriminierungsverbot und nicht zusätzlich auf das Effektivitätsgebot abgestellt, trifft nicht zu. Vielmehr hat der EuGH ausgeführt: „In Ermangelung solcher Harmonisierungsmaßnahmen müssen die durch das Gemeinschaftsrecht gewährten Rechte vor den innerstaatlichen Gerichten nach den Verfahrensregeln des innerstaatlichen Rechts verfolgt werden. Anders wäre es nur, wenn diese Verfahrensregeln und Fristen die Verfolgung von Rechten, die die innerstaatlichen Gerichte zu schützen verpflichtet sind, praktisch unmöglich machten. Dies lässt sich von der Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung nicht sagen. Die Festsetzung solcher Fristen für die Rechtsverfolgung im abgabenrechtlichen Bereich ist ein Anwendungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit, das zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde schützt” (vgl. Rewe in Slg. 1976, 1989, NJW 1977, 495 RandNr. 5).
Dementsprechend bezieht sich der EuGH auch in seiner jüngeren Rechtsprechung auf das Urteil Rewe in Slg. 1976, 1989, NJW 1977, 495 (vgl. z.B. —Fantask—, Slg. 1997, I-6783, HFR 1998, 234, NVwZ 1998, 833 RandNr. 48; Roquette Fréres in Slg. 2000, I-10465, NJW 2001, 741 RandNr. 20; vom Rs. C-125/01 —Pflücke—, Slg 2003, I-9375, Betriebs-Berater —BB— 2003, 2575 RandNr. 34; vom Rs. C-470/04 —N—, Deutsches Steuerrecht —DStR— 2006, 1691 RandNr. 59).
cc) Überdies hat der EuGH in seinem Urteil i 21 Germany GmbH und Arcor AG & Co. KG in DVBl 2006, 1441 entschieden, dass das aus Art. 10 EG folgende Effektivitätsprinzip nicht verletzt ist, wenn ein Unternehmen gegen einen Gebührenbescheid innerhalb einer angemessenen Frist ab seiner Bekanntgabe einen Rechtsbehelf einlegen und seine aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte geltend machen kann (vgl. RandNr. 59). Er hat in dieser Entscheidung die für die Einlegung eines Einspruchs vorgesehene Einmonatsfrist nicht als unangemessen beanstandet (RandNr. 60).
dd) Daraus folgt, dass die Monatsfrist für die Einlegung eines Einspruchs gemäß § 355 Abs. 1 AO 1977 gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstanden ist.
Aus der von der Klägerin angeführten Rechtsprechung des EuGH zu —anders gearteten— Verjährungsfristen ergibt sich nichts anderes.
d) Die Versäumung der einmonatigen Einspruchsfrist durch die Klägerin ist nicht ausnahmsweise unerheblich. Auf das EuGH-Urteil Emmott in Slg. 1991, I-4269, HFR 1993, 137, UR 1993, 315 kann sich die Klägerin im Streitfall nicht mit Erfolg berufen.
aa) Der EuGH hat in diesem Urteil zwar entschieden, dass sich ein säumiger Mitgliedstaat bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinie nicht auf die Verspätung einer Klage berufen könne, die ein Einzelner zum Schutz der ihm durch die Bestimmungen einer Richtlinie verliehenen Rechte gegen ihn erhoben habe, und dass eine Klagefrist des nationalen Rechts erst zu diesem Zeitpunkt beginnen könne.
bb) Wie der EuGH mittlerweile jedoch wiederholt klargestellt hat, war diese Entscheidung durch die besonderen Umstände des Falles gerechtfertigt, in dem der Klägerin durch den Ablauf der Klagefrist jede Möglichkeit genommen war, ihren auf eine Gemeinschaftsrichtlinie gestützten Anspruch auf Gleichbehandlung geltend zu machen (vgl. z.B. EuGH-Urteil Fantask in Slg. 1997, I-6783, HFR 1998, 234, NVwZ 1998, 833 Rz. 51, m.w.N.). Daraus folgt, dass der EuGH den im Verfahren Emmott entwickelten Rechtsgrundsatz auf Fallkonstellationen der dort gegebenen Art beschränkt wissen will (vgl. , BFHE 197, 563, BStBl II 1996, 399, unter II. 3. a; BFH-Beschluss in BFH/NV 2005, 229, unter II.1.).
Die Klägerin Emmott hatte im Frühjahr 1987 unter Berufung auf eine von Irland nicht rechtzeitig umgesetzte EG-Richtlinie und ein dazu ergangenes Urteil des irischen High Court vom beim zuständigen irischen Minister Leistungen der Sozialhilfe nach Maßgabe dieser EG-Richtlinie beantragt. Mit Schreiben vom antwortete der Minister, da über die EG-Richtlinie in einem anderen Verfahren noch vor dem High Court gestritten werde, könne über ihren Anspruch nicht entschieden werden; dieser werde geprüft, sobald dieses Gericht sein Urteil erlassen habe.
Mit Beschluss vom erteilte der High Court Frau Emmott die (erforderliche) Erlaubnis, Klage zu erheben. Diese Erlaubnis wurde jedoch unbeschadet des Rechts der Beklagten erteilt, sich auf die Nichteinhaltung der Klagefrist zu berufen. Als dann Frau Emmott später auf Gewährung der von ihr beantragten Leistungen klagte, beriefen sich die irischen Behörden auf die Nichteinhaltung der Klagefrist von drei Monaten nach dem Zeitpunkt, zu dem die Klagegründe zutage getreten sind.
cc) Ein vergleichbarer Sachverhalt ist im Streitfall nicht gegeben.
In der Rechtssache Emmott hatten sich die irischen Behörden —unter Verstoß gegen Treu und Glauben— auf die Nichteinhaltung der Klagefrist berufen. Im Streitfall hat das FA die Klägerin nicht an der rechtzeitigen Einlegung des Einspruchs gehindert und ihr deshalb nicht treuwidrig die Versäumung der —von Amts wegen zu beachtenden— Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 AO 1977 entgegengehalten.
3. Das FG hat auch den Hilfsklageantrag mit Recht zurückgewiesen.
a) Die Klägerin hat keinen gemeinschaftsrechtlichen Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch. Das EuGH-Urteil Ciola in Slg. 1999, I-2517, NJW 1999, 2355 gibt —entgegen der Ansicht der Klägerin— für den Streitfall nichts her.
aa) Zwar hat der EuGH in dem bezeichneten Urteil es für unzulässig erklärt, wenn sich der Mitgliedsstaat Österreich auf die Bestandskraft eines mit Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Verwaltungsaktes beruft, den er vor seinem Beitritt zur Gemeinschaft erlassen hatte. Er hat entschieden, dass ein gegen die Dienstleistungsfreiheit (Art. 59 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft) verstoßendes Verbot, das vor dem Beitritt eines Mitgliedstaats zur Europäischen Union nicht durch eine generell-abstrakte Rechtsvorschrift, sondern eine individuell-konkrete, bestandskräftig gewordene Verwaltungsentscheidung eingeführt wurde, bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Geldstrafe, die nach dem Zeitpunkt des Beitritts wegen der Nichtbeachtung dieses Verbots verhängt wurde, unangewendet bleiben muss.
bb) Diese Entscheidung des EuGH findet aber ihren Grund in der Besonderheit der Beitrittssituation; bei Erlass des Verwaltungsaktes galt das europäische Gemeinschaftsrecht in Österreich noch nicht, und der Betroffene hatte daher keine Möglichkeit, ihn vor Eintritt der Bestandskraft unter Berufung auf Gemeinschaftsrecht anzufechten (vgl. , Die öffentliche Verwaltung —DöV— 2005, 651).
Anders liegt es im vorliegenden Fall: Die Klägerin hatte es in der Hand, die Umsatzsteuerfestsetzung für 1993 durch rechtzeitigen Einspruch auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht hin überprüfen zu lassen.
Der Senat vermag deshalb der Ansicht der Klägerin nicht zu folgen, aus dem EuGH-Urteil Ciola in Slg. 1999 I-2517, NJW 1999, 2355 ergebe sich, dass die Bestandskraft eines staatlichen Akts durch den Anwendungsvorgang des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich zurückgedrängt werde.
Ein solches Verständnis des Urteils stünde überdies im Widerspruch zu der oben dargelegten EuGH-Rechtsprechung, wonach die Bestandskraft von Verwaltungsakten prinzipiell auch im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts gilt.
b) Die Klägerin hat auch keinen gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruch.
Nach der Rechtsprechung des EuGH kann ein Steuerpflichtiger mit Rückwirkung auf den Tag des Inkrafttretens der im Widerspruch zur Richtlinie 77/388/EWG stehenden nationalen Rechtsvorschriften die Erstattung der ohne Rechtsgrund gezahlten Mehrwertsteuer nach den in der innerstaatlichen Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats festgelegten Verfahrensmodalitäten verlangen, sofern diese Modalitäten nicht ungünstiger sind als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sind, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (vgl. z.B. —Soupergaz—, Slg. 1995, I-1883, HFR 1995, 606, Internationales Steuerrecht —IStR— 1995, 385, Leitsatz 4).
Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. Die Klägerin hat Umsatzsteuer in Höhe von ... DM mit Rechtsgrund, nämlich aufgrund der bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzung für 1993, gezahlt.
4. Der Senat folgt nicht der Anregung der Klägerin, gemäß Art. 234 Abs. 3 EG eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Die von der Klägerin insoweit aufgeworfenen Fragen sind —wie dargelegt— durch die Rechtsprechung des EuGH bereits geklärt.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Verwaltungsanweisungen:
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2007 II Seite 436
BB 2007 S. 488 Nr. 9
BFH/NV 2007 S. 630 Nr. 3
BStBl II 2007 S. 436 Nr. 9
DB 2007 S. 668 Nr. 12
DStR 2007 S. 344 Nr. 8
DStRE 2007 S. 387 Nr. 6
DStZ 2007 S. 192 Nr. 7
GStB 2007 S. 11 Nr. 3
HFR 2007 S. 379 Nr. 4
INF 2007 S. 251 Nr. 7
IStR 2007 S. 179 Nr. 5
NWB-Eilnachricht Nr. 20/2007 S. 1677
StB 2007 S. 123 Nr. 4
UR 2007 S. 334 Nr. 9
UStB 2007 S. 97 Nr. 4
AAAAC-37748