BGH Beschluss v. - VI ZR 245/04

Leitsatz

[1] Hat das Erstgericht dem rechtzeitig gestellten Antrag einer Partei auf erstmalige mündliche Anhörung des gerichtlichen Sachverständigen nicht entsprochen, kann die Bindung des Berufungsgerichts an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen entfallen. Ist dies der Fall, muß das Berufungsgericht dem in zweiter Instanz wiederholten Antrag auf Ladung des Sachverständigen stattgeben.

Gesetze: ZPO § 397; ZPO § 402; ZPO § 411 Abs. 3; ZPO § 529 Abs. 1 Nr. 1

Instanzenzug: LG Saarbrücken

Gründe

1. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die angefochtene Entscheidung verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG. Einer Zulassung der Revision bedarf es nicht (vgl. - zur Veröffentlichung bestimmt).

2. Mit Erfolg macht die Nichtzulassungsbeschwerde geltend, daß das Berufungsgericht verfahrensfehlerhaft von einer mündlichen Befragung der gerichtlichen Sachverständigen abgesehen hat.

a) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kommt es für die Frage, ob die Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung des von ihm erstatteten Gutachtens geboten ist, nicht darauf an, ob das Gericht noch Erläuterungsbedarf sieht oder ob gar zu erwarten ist, daß der Gutachter seine Auffassung ändert. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats hat die Partei zur Gewährleistung des rechtlichen Gehörs nach §§ 397, 402 ZPO einen Anspruch darauf, daß sie dem Sachverständigen die Fragen, die sie zur Aufklärung der Sache für erforderlich hält, zur mündlichen Beantwortung vorlegen kann (vgl. u.a. - VersR 1997, 509 ff.; vom - VI ZR 252/96 - VersR 1998, 342; vom - VI ZR 268/00 - VersR 2002, 120, 121 f.). Dieses Antragsrecht besteht unabhängig von § 411 Abs. 3 ZPO (st. Rspr., vgl. BGHZ 6, 398, 400 f.; 24, 9, 14; - VersR 1996, 211, 212; vom - VI ZR 50/96 - aaO und vom - VI ZR 252/96 - VersR 1998, 342, 343 und vom - VI ZR 353/01 - VersR 2003, 926). Hat das Landgericht einem rechtzeitig gestellten Antrag auf Ladung eines Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seines schriftlichen Gutachtens nicht entsprochen, so muß das Berufungsgericht dem im zweiten Rechtszug wiederholten Antrag stattgeben (Senatsurteil vom - VI ZR 13/95 - aaO). Dabei kann von der Partei, die einen Antrag auf Ladung des Sachverständigen stellt, nicht verlangt werden, daß sie die Fragen, die sie an den Sachverständigen zu richten beabsichtigt, im voraus konkret formuliert. Es genügt, wenn sie allgemein angibt, in welcher Richtung sie durch ihre Fragen eine weitere Aufklärung herbeizuführen wünscht (BGHZ 24, 9, 14 f.).

b) Diesen Anforderungen genügte das Vorbringen des Klägers. Mit Recht verweist die Nichtzulassungsbeschwerde darauf, daß der Kläger im ersten Rechtszug mehrfach die Ladung des Sachverständigen Prof. Dr. H. zur Erläuterung seines Gutachtens beantragt hat. Der erste Antrag ist unmittelbar nach Eingang des schriftlichen Gutachtens gestellt worden. Mit Beweisbeschluß vom hat das Landgericht den Sachverständigen um eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme zur postoperativen Behandlung gebeten. Nach Eingang der Stellungnahme vom hat der Kläger mit Schriftsatz vom eine Reihe von Fragen gestellt und erneut beantragt, den Sachverständigen nach seiner (schriftlichen) Stellungnahme zur mündlichen Erläuterung seiner Begutachtung zu laden, wobei er darauf hingewiesen hat, daß dieser Antrag nur dann aufrechterhalten werde, wenn nach der Ergänzung des Gutachtens bzw. einer weiteren Ergänzung noch Fragen blieben. Das Landgericht hat dem Sachverständigen die vom Kläger gestellten Fragen durch Auflagen- und Beweisbeschluß vom teilweise vorgelegt und ihn dazu um eine weitere Stellungnahme gebeten. Die erbetene ergänzende Stellungnahme ist unter dem erfolgt. Daraufhin hat das Landgericht den Parteien mit Verfügung vom , zugestellt am , eine Frist zur Stellungnahme von drei Wochen gesetzt. Am , also nur 16 Tage nach Zustellung dieser Verfügung, hat das Landgericht Termin zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung auf den anberaumt, ohne den Sachverständigen zu laden. Mit Schriftsatz vom , bei Gericht eingegangen am , hat der Kläger erneut beantragt, den Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens sowie seines Ergänzungsgutachtens zu laden. Dem hat das Landgericht nicht entsprochen. Am ist zum letzten Mal mündlich verhandelt worden. Mit Urteil vom hat das Landgericht die Klage abgewiesen. Mit der Berufung hat der Kläger u.a. die Verletzung von §§ 397, 402 ZPO gerügt und erneut beantragt, den Sachverständigen zur mündlichen Erläuterung seiner Begutachtung zu laden. Diesem Antrag hat das Berufungsgericht nicht stattgegeben.

c) Schon das Landgericht hätte den Sachverständigen laden müssen. War mithin das Verfahren in erster Instanz verfahrensfehlerhaft, so war das Berufungsgericht an die Feststellungen im erstinstanzlichen Urteil nicht gebunden. Es hätte seinerseits den Sachverständigen laden müssen. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Recht der Partei auf mündliche Anhörung des medizinischen Sachverständigen haben auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozeßreformgesetz - ZPO-RG) vom (BGBl. I 1887) ihre Gültigkeit behalten. Das Berufungsgericht durfte die auf Grund des Gutachtens getroffenen Feststellungen seiner Entscheidung nicht zugrunde legen. Zwar ist ein Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 1 ZPO grundsätzlich an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 Halbsatz 2 ZPO). Dabei können sich konkrete Anhaltspunkte auch aus Fehlern ergeben, die dem Eingangsgericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind (vgl. Senatsurteil vom - VI ZR 199/03 - VersR 2004, 1177, 1178, zur Veröffentlichung in BGHZ 159, 245 bestimmt; - WM 2004, 845, 846, zur Veröffentlichung in BGHZ 158, 269 bestimmt und vom - V ZR 104/03 - zur Veröffentlichung in BGHZ 158, 295 bestimmt; Begründung des Regierungsentwurfs BT-Drucks. 14/4722, S. 100; MünchKommZPO/Aktualisierungsband-Rimmelspacher, aaO, § 529 Rdn. 12; Rimmelspacher, NJW-Sonderheft aaO, 11, 15; derselbe, NJW 2002, 1897, 1901; Stackmann, NJW 2003, 169, 171). Wurden Tatsachenfeststellungen auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens getroffen, kann auch die Unvollständigkeit des Gutachtens Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Feststellungen wecken (vgl. - NJW 2003, 3480, 3481 und vom - VI ZR 230/03 - VersR 2004, 1477, zur Veröffentlichung in BGHZ 159, 254 bestimmt; Musielak/Ball, aaO, § 529 Rdn. 18; Zöller/Gummer/Heßler, ZPO, 24. Aufl., § 529 Rdn. 9).

d) Hiernach begründeten im Streitfall konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Vollständigkeit der Feststellungen. Das Landgericht hat den Sachverständigen nicht zur mündlichen Erläuterung seines Gutachtens geladen, obwohl der Kläger dies mehrfach beantragt hatte. Das Recht der Partei, den Sachverständigen persönlich zu hören und diesem auch selbst Fragen zu stellen, bezieht sich auf medizinische Fragen, die für die Entscheidung erheblich sind und für die Erläuterungsbedarf geltend gemacht wird (vgl. OLG Oldenburg, NJW-RR 1999, 178, 179). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts bedarf der Antrag auf Ladung des Sachverständigen keiner besonderen Begründung. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Sachverständige nicht nur ein Erstgutachten, sondern - wie im Streitfall - ein Ergänzungsgutachten erstattet hat. Beschränkungen des Antragsrechts ergeben sich nur aus den Gesichtspunkten des Rechtsmißbrauchs und der Prozeßverschleppung (Senatsurteil vom - VI ZR 353/01 - aaO). Das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalles nimmt ersichtlich auch das Berufungsgericht nicht an. Ist dem Antrag in erster Instanz nicht entsprochen worden, bedarf es in zweiter Instanz entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch keiner Darlegung dazu, weshalb die unterbliebene Anhörung für die angefochtene Entscheidung ursächlich gewesen sei.

3. Da nicht ausgeschlossen werden kann, daß das Berufungsgericht bei der gebotenen Klärung zu einer anderen Beurteilung des Falles gekommen wäre, war das Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird bei der neuen Verhandlung und Entscheidung auch das weitere Vorbringen des Klägers im Revisionsrechtszug zu berücksichtigen haben.

Fundstelle(n):
BAAAC-02824

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja