BFH Beschluss v. - XI B 213/01

Setzung einer zu kurz bemessenen Ausschlussfrist ermessensfehlerhaft; Verletzung des Rechts auf Gehör

Gesetze: FGO § 65, § 115 Abs. 2 Nr. 3

Instanzenzug:

Gründe

I. Der Bevollmächtigte der verheirateten Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) erhob mit Schreiben vom in deren Namen beim Finanzgericht (FG) „Klage gegen die Einspruchsentscheidung des Finanzamts…vom in Sachen Einkommensteuer 1996 und 1997 Steuer-Nr.…Rechtsbehelfsliste ...„. Im Weiteren heißt es: „Durch die Einkommensteuerbescheide 1996 und 1997 vom 16. Sept. 1999 in der korrigierten Fassung vom und der Einspruchsentscheidung vom sind die Kläger in ihren Rechten verletzt, da diese rechtswidrig sind„. Für die Klagebegründung erbat er eine Fristverlängerung bis zum .

Der Vertreter des Vorsitzenden des FG-Senats forderte den Bevollmächtigten mit Verfügung vom , die diesem am zuging, bis zum „„ zur Bezeichnung des Klagebegehrens gemäß § 65 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf. Zugleich wies er den Kläger darauf hin, dass es sich hierbei um eine Ausschlussfrist gemäß § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO handele. Über den gestellten Antrag auf Fristverlängerung zur Klagebegründung entschied er nicht. Am ging beim FG ein Schriftsatz ein, mit dem der Bevollmächtigte das Streitverhältnis im Einzelnen darstellte und die Klage begründete.

Mit Gerichtsbescheid vom wies das FG die Klage als unzulässig ab, weil der Kläger weder den Gegenstand des Klagebegehrens noch den angefochtenen Verwaltungsakt fristgemäß bezeichnet habe. Der Prozessbevollmächtigte beantragte hierauf mündliche Verhandlung und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er habe die gerichtliche Aufforderung zur Bezeichnung des Klagebegehrens bis zum versehentlich als Gewährung der bis zum beantragten Frist verstanden. Das FG wies die Klage unter Verweis auf die Begründung des Gerichtsbescheides ab; Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren.

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde machen die Kläger geltend, die Abweisung der Klage als unzulässig beruhe auf einem Verfahrensfehler des FG. Die Versäumung der ohnehin kurz bemessenen Frist stelle angesichts der Umstände einen entschuldbaren Irrtum dar.

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger ist zulässig und begründet. Das FG hat die Klage verfahrensfehlerhaft als unzulässig abgewiesen.

1. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt (§ 116 Abs. 2 FGO) und ordnungsgemäß begründet worden (§ 116 Abs. 3 FGO). Die Kläger haben Verfahrensfehler dargelegt, auf denen das Urteil des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

2. Die Beschwerde ist auch begründet. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegen vor. Das FG hat den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt, indem es die Klage als unzulässig abgewiesen hat.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes stellt es einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar, wenn über eine in Wahrheit zulässige Klage nicht zur Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs —BFH— vom VII B 196/02, BFH/NV 2003, 1007; vom III B 29/98, BFH/NV 1999, 1109, und vom V B 75/96, BFH/NV 1997, 415, jeweils m.w.N.).

b) Die Kläger haben ihr Klagebegehren ausreichend dargelegt.

Nach § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO muss der Kläger den Beklagten, den Gegenstand des Klagebegehrens, bei Anfechtungsklagen auch den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf bezeichnen.

Wie weit das Klagebegehren einer Klage im Einzelnen zu substantiieren ist, hängt von den Umständen des Falles ab, insbesondere von dem Inhalt des angefochtenen Verwaltungsaktes, der Steuerart und der Klageart. Entscheidend ist, ob das Gericht durch die Angaben des Klägers in die Lage versetzt wird, zu erkennen, worin die den Kläger treffende Rechtsverletzung nach dessen Ansicht liegt (BFH-Beschlüsse vom VI B 114/01, BFHE 198, 1, BStBl II 2002, 306; vom VII B 325/00, BFH/NV 2001, 1227). Der Gegenstand des Klagebegehrens kann auch im Wege der Auslegung und unter Rückgriff auf die Steuerakten festgestellt werden (, BFH/NV 2003, 190, m.w.N.). Bei der Auslegung einer Klage sind sämtliche dem FG und der Finanzbehörde erkennbaren Umstände tatsächlicher und rechtlicher Art zu berücksichtigen (vgl. , BFH/NV 2001, 170, m.w.N.). Nur diese Auslegung des § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO trägt dem Grundsatz der Rechtsschutz gewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art. 19 Abs. 4 des GrundgesetzesGG—) Rechnung (, BFH/NV 1997, 232).

Der Prozessbevollmächtigte der Kläger hat als Klagegegenstand ausdrücklich die Einspruchsentscheidung des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt —FA—) vom in Sachen Einkommensteuer 1996 und 1997 bezeichnet. Die Einspruchsentscheidung befasst sich ausschließlich mit der zwischen den Klägern und dem FA allein streitigen Frage, ob der Kläger Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer als Betriebsausgaben abziehen kann. Die Aufforderung zur Bezeichnung des Klagebegehrens unter Setzung einer relativ kurz bemessenen Frist von —ab Zustellung— nur mehr gut drei Wochen war danach nicht rechtmäßig (, BFH/NV 2003, 71); denn das Klagebegehren war unschwer der Einspruchsentscheidung zu entnehmen.

b) Darüber hinaus hat das FG bei der Setzung der Ausschlussfrist gemäß § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO von seinem Ermessen fehlerhaft Gebrauch gemacht. Zwar ist dem Gericht die Möglichkeit eingeräumt, die unterlassene Bezeichnung der sog. Musserfordernisse einer Klage mit einer Sanktion zu belegen; der Vorsitzende oder der von ihm beauftragte Berichterstatter „kann„ diese Ausschlussfrist setzen. Das FG hat jedoch kurz nach Klageeingang eine knapp bemessene Ausschlussfrist gesetzt, obwohl der Prozessbevollmächtigte bereits bei Klageerhebung Fristverlängerung zur Klagebegründung bis beantragt hatte. Die Ausschlussfrist konnte allenfalls zu einer Beschleunigung von zehn Tagen führen; denn es war zu erwarten, dass spätestens mit der Einreichung der Klagebegründung auch das Klagebegehren in dem für notwendig erachteten Umfange spezifiziert werden würde - wie dies auch mit dem am beim FG eingegangenen Schriftsatz geschehen ist.

Auch ist die Frist von gut drei Wochen unter den gegebenen Umständen —es handelte sich nicht um einen Schätzungsfall— zu knapp bemessen (vgl. hierzu , BFH/NV 2002, 498 —Setzung einer Monatsfrist sieben Wochen nach Klageeingang—; BFH-Beschlüsse vom VIII B 219/02, BFH/NV 2003, 782; vom VIII R 20/99, BFH/NV 2000, 1359, und vom X B 91/99, BFH/NV 2000, 1472 —jeweils Setzung einer Monatsfrist sechs Wochen nach Klageeingang—; vgl. auch , BFH/NV 2001, 1273, und vom X R 10/00, BFH/NV 2001, 627, sowie BFH-Beschlüsse vom III S 14/00, BFH/NV 2002, 495, und vom XI B 149-150/95, BFH/NV 1997, 131).

c) Schließlich enthält die in den Akten des FG befindliche Urschrift der Verfügung keine ausgeschriebene Unterschrift des stellvertretenden Senatsvorsitzenden, sondern nur dessen Paraphe. Wegen der weit reichenden Folgen muss die richterliche Verfügung bestimmte Mindesterfordernisse erfüllen (BFH-Beschluss in BFH/NV 1999, 1109, m.w.N.).

d) Die Fristsetzung erfolgte mithin zu Unrecht bzw. war unwirksam. Danach erweist sich die Nichtberücksichtigung des weiteren Klagevorbringens und die Abweisung der Klage als unzulässig wegen unzutreffender Anwendung der Präklusionsvorschrift des § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO als Verletzung rechtlichen Gehörs (vgl. , BFHE 177, 233, BStBl II 1995, 545, und vom V R 1/99, BFH/NV 1999, 1616). Die angefochtene Entscheidung beruht auf diesem Verfahrensfehler (§ 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 FGO).

3. Die Aufhebung des FG-Urteils und die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung beruht auf § 116 Abs. 6 FGO; die Sache ist nicht entscheidungsreif.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2004 S. 514
BFH/NV 2004 S. 514 Nr. 4
YAAAB-16057