BVerfG Urteil v. - 2 BvR 1220/93 BStBl 1999 II S. 193

Freistellung des Existenzminimums sämtlicher Familienmitglieder von der Einkommensteuer

Leitsatz

Leitsatz

Zum von Verfassungs wegen zu berücksichtigenden einkommensteuerlichen Kinderexistenzminimum für ein Kind in dem Veranlagungszeitraum 1985.

Gesetze: EStG § 32 Abs. 6EStG § 54

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf), , , , ,

Tatbestand

1. § 54 Absatz 1 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung des Artikel 1 des Gesetzes zur Förderung von Investitionen und Schaffung von Arbeitsplätzen im Beitrittsgebiet sowie zur Änderung steuerrechtlicher und anderer Vorschriften (Steueränderungsgesetz 1991) vom (Bundesgesetzbl. I Seite 1322) war in seiner Anwendung auf den Veranlagungszeitraum des Jahres 1985 mit Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes insoweit unvereinbar, als danach Eltern mit einem Kind nur einen Kinderfreibetrag von zusammen 2 432 Deutsche Mark beanspruchen konnten.

2. Das - und der - verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes insoweit, als ihnen nur ein Kinderfreibetrag in Höhe von zusammen 2 432 Deutsche Mark zugestanden worden ist. Der - wird aufgehoben. Die Sache wird an den Bundesfinanzhof zurückverwiesen. Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten.

A.

Streitig sind einzelne, als Werbungskosten geltend gemachte Aufwendungen sowie die verfassungsrechtlich gebotene Höhe des einkommensteuerlichen Kinderexistenzminimums im Veranlagungszeitraum 1985.

I.

1. Die Beschwerdeführer, Eheleute, wurden im Streitjahr 1985 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt; einkommensteuerlich wurde ein Kind berücksichtigt. Die Beschwerdeführer wenden sich gegen die durch die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zum Kinderleistungsausgleich (BVerfGE 82, 60 [1]; 82, 198 [2]) veranlaßte, ihnen aber im Ergebnis nicht genügende Neuregelung des Kinderfreibetrages in § 54 EStG i. d. F. des Steueränderungsgesetzes 1991 (BGBl I S. 1322 ff.; vgl. Begründung zum Gesetzentwurf des Steueränderungsgesetzes 1991, BTDrucks 12/219, S. 20, 23 ff., 34). Außerdem streiten sie um die Anerkennung von Umzugskosten, Anschaffungskosten für einen Aktenkoffer und Kreditkartengebühren als Werbungskosten.

2. Das Finanzamt hat die geltend gemachten Werbungskosten nicht berücksichtigt und nur den im Gesetz vorgesehenen Kinderfreibetrag in Höhe von 2 432 DM anerkannt. Die dagegen erhobene Klage wies das Finanzgericht zurück. Es bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Neuregelung des § 32 Abs. 8 EStG durch § 54 EStG i. d. F. des Steueränderungsgesetzes 1991.

Die gegen die Entscheidung des Finanzgerichts erhobene Nichtzulassungsbeschwerde wies der Bundesfinanzhof zurück.

II.

Die Beschwerdeführer wenden sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die finanzgerichtlichen Entscheidungen und rügen die Verletzung ihrer Grundrechte insbesondere aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 GG.

Die Neuregelung der Kinderfreibeträge gemäß § 54 Abs. 1 i. d. F. des Steueränderungsgesetzes 1991 sei noch immer in verfassungswidriger Weise zu niedrig. Das Bundesverfassungsgericht habe für das Jahr 1982 in seiner Entscheidung vom (BVerfGE 82, 60 [3]) festgestellt, daß das Existenzminimum eines Kindes mindestens 390 DM pro Monat betrage. Hochgerechnet auf das Streitjahr 1985 seien daher mindestens 430 DM pro Monat und somit 5 160 DM pro Jahr als Existenzminimum eines Kindes zugrunde zu legen.

Gründe

B.

Soweit sich die Beschwerdeführer gegen § 54 Abs. 1 EStG i. d. F. des Steueränderungsgesetzes 1991 und insoweit gegen die darauf beruhenden finanzgerichtlichen Entscheidungen wenden, ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. § 54 Abs. 1 EStG i. d. F. des Steueränderungsgesetzes 1991 war in seiner Anwendung auf den Veranlagungszeitraum 1985 in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang mit Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar. Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93 a Abs. 2, § 93 b Satz 2, § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).

I.

Für die verfassungsrechtliche Beurteilung des § 54 Abs. 1 EStG gelten die im Beschluß vom im Verfahren 2 BvL 42/93 dargelegten Maßstäbe entsprechend. Nach den dort getroffenen Klarstellungen bildet das sozialhilferechtlich definierte Existenzminimum die Grenze für das einkommensteuerliche Existenzminimum, die über-, aber nicht unterschritten werden darf. Der Wohnbedarf ist nach dem Mehrbedarf, nicht nach der Pro-Kopf-Methode zu ermitteln. Das damit quantifizierte steuerliche Existenzminimum ist für alle Steuerpflichtigen - unabhängig von ihrem individuellen Grenzsteuersatz - in voller Höhe von der Einkommensteuer freizustellen.

Nach diesen Maßstäben ist der Familienleistungsausgleich für ein Kind im Veranlagungszeitraum 1985 verfassungswidrig. Der existenznotwendige Mindestbedarf für ein Kind im Veranlagungszeitraum 1985 beträgt danach 3 924 DM. Dieser Mindestbedarf errechnet sich aus dem Sozialhilferegelsatz für Kinder in Höhe von 235 DM, einmaligen Leistungen in Höhe von 35 DM, einem Mietmehrbedarf in Höhe von 46 DM und Heizkosten in Höhe von 11 DM für jedes Kind pro Monat. Daraus ergibt sich ein Monatsbedarf von 327 DM, ein Jahresbedarf von 3 924 DM. Das Einkommensteuergesetz berücksichtigt den Bedarf des Kindes der Beschwerdeführer jedoch - unter Zugrundelegung ihres individuellen Grenzsteuersatzes - nur in Höhe von 3 682 DM und bleibt damit um 242 DM hinter der von Verfassungs wegen erforderlichen Mindestberücksichtigung zurück.

Die Abweichungen des gesetzlich berücksichtigten vom verfassungsrechtlich gebotenen Mindestbedarf gibt nachstehende Tabelle zusammenfassend wieder:


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 Veranlagungszeitraum 1985            1 Kind
 ------------------------------------------------------------------
 gesetzliche                        Bedarf              Differenz
 Berücksichtigung
 ------------------------------------------------------------------
 bei Grenzsteuersatz
 ------------------------------------------------------------------
    30 %    4 432                   3 924                 + 508
    40 %    3 932                   3 924                 +   8
    44 %    3 795                   3 924                 - 129
    48 %    3 682                   3 924                 - 242
    50 %    3 632                   3 924                 - 292
    56 %    3 503                   3 924                 - 421
 ------------------------------------------------------------------
 

II.

Das Verfahren war an den Bundesfinanzhof zurückzuverweisen. In dem Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision der Beschwerdeführer ist zwar mit dieser Entscheidung die von ihnen ursprünglich geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung entfallen; der Zugang zur Revision ist aber auch ihnen aufgrund der nun vorliegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eröffnet, weil die angegriffene Entscheidung des Finanzgerichts von dieser Entscheidung abweicht (nachträgliche Divergenz, vgl. § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO).

Der Bundesfinanzhof wird zu prüfen haben, ob er die Einkommensteuer der Beschwerdeführer auch ohne gesetzliche Änderung des § 54 Abs. 1 EStG in der Fassung des Steueränderungsgesetzes 1991 entsprechend dem Grundgedanken der §§163, 227 AO in der Höhe erlassen kann, die sich ergäbe, wenn das von Verfassungs wegen zu berücksichtigende Kindesexistenzminimum in Form eines Kinderfreibetrages um 242 DM erhöht wäre.

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungspflicht zum Billigkeitserlaß festgestellt, wenn die Anwendung eines nicht zu beanstandenden Gesetzes in Einzelfällen zu einem ,,ungewollten Überhang'' führen würde (vgl. z. B. BVerfGE 48, 102, [116] [4]). In ähnlicher Weise könnte der Bundesfinanzhof sich zu der Prüfung veranlaßt sehen, im Ausgangsverfahren und in allen bei ihm anhängigen Parallelverfahren eine verfassungsrechtlich veranlaßte Herabsetzung der Steuerschuld zu prüfen, die auch ohne Durchführung eines getrennten Billigkeitsverfahrens den dort das Revisionsverfahren führenden Eltern ihr verfassungsrechtlich gebotenes Kindesexistenzminimum gewährt und damit eine gesetzliche Neuregelung mit Wirkung für zurückliegende Veranlagungsjahre in wenigen Fällen erübrigt. Anderenfalls wäre der Gesetzgeber verpflichtet, in den noch nicht bestandskräftig gewordenen Fällen die Benachteiligung der betroffenen Steuerpflichtigen zu beheben. In jedem Fall steht es ihm frei, die verfassungsrechtlich gebotene Änderung durch eine Anhebung des einkommensteuerlichen Kinderfreibetrages, durch eine Anhebung des Kindergeldes oder durch eine anderweitige Ausgleichsregelung vorzunehmen (vgl. BVerfGE 82, 60 [97] [5]; 82, 198 [208] [6]).

C.

Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Fundstelle(n):
BStBl 1999 II Seite 193
WAAAA-96418

1BStBl II 1990, 653

2BStBl II 1990, 664

3 s. Fn. 1

4BStBl II 1978, 441

5s. Fn. 1

6 s. Fn. 2