EuGH Urteil v. - C-462/02

Mehrwertsteuer: Ungleiche Behandlung der Veranstaltung von Glücksspielen in- und außerhalb öffentlicher Spielbanken

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: Richtlinie 77/388/EWG Art. 13 Teil B Buchst. f

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

AZ der nicht veröffentlichten Parallelentscheidung(en): C-453/02

Gründe

1. Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung des Artikels 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).

2. Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Finanzamt Gladbeck und Frau Linneweber als Gesamtrechtsnachfolgerin ihres im Jahr 1999 verstorbenen Ehemannes sowie zwischen dem Finanzamt Herne-West und Herrn Akritidis über die Entrichtung von Mehrwertsteuer auf Einnahmen aus dem Betrieb von Glücksspielen.

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3. Artikel 2 der Sechsten Richtlinie, der deren Abschnitt II - Steueranwendungsbereich - bildet, bestimmt:

Der Mehrwertsteuer unterliegen:

1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;

...

4. Nach Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie befreien die Mitgliedstaaten von der Steuer:

Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden.

Nationales Recht

5. Nach § 1 Absatz 1 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (BGBl. I, S. 566, im Folgenden: UStG) unterliegen der Umsatzsteuer die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt.

6. Nach § 4 Nummer 9 Buchstabe b UStG sind die Umsätze, die unter das Rennwett und Lotteriegesetz fallen, sowie die Umsätze der zugelassenen öffentlichen Spielbanken, die durch den Betrieb der Spielbank bedingt sind, steuerfrei.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rechtssache C453/02

7. Frau Linneweber ist die Gesamtrechtsnachfolgerin ihres im Jahr 1999 verstorbenen Ehemannes. Dieser stellte mit behördlicher Genehmigung Geldspielautomaten und Unterhaltungsgeräte in Gaststätten und in ihm gehörenden Spielhallen zur entgeltlichen Nutzung bereit. Frau Linneweber und ihr Ehemann erklärten für die Wirtschaftsjahre 1997 und 1998 steuerfreie Umsätze aus dem Betrieb dieser Automaten mit der Begründung, dass die Umsätze der zugelassenen Spielbanken aus dem Betrieb von Geldspielautomaten von der Umsatzsteuer befreit seien.

8. Das Finanzamt Gladbeck vertrat demgegenüber die Ansicht, dass die betreffenden Einnahmen nicht nach § 4 Nummer 9 Buchstabe b UStG steuerfrei seien, da sie weder der Rennwett- und Lotteriesteuer unterlägen noch aus dem Betrieb einer zugelassenen öffentlichen Spielbank stammten.

9. Das Finanzgericht Münster gab der von Frau Linneweber erhobenen Klage mit der Begründung statt, dass in Fortführung der Grundsätze des Urteils des Gerichtshofes vom 11. Juni 1998 in der Rechtssache C283/95 (Fischer, Slg. 1998, I3369) Umsätze mit Geldspielautomaten nach Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie von der Umsatzsteuer befreit seien. In Randnummer 28 dieses Urteils habe der Gerichtshof festgestellt, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität bei der Erhebung der Mehrwertsteuer eine Differenzierung zwischen erlaubten und unerlaubten Geschäften verbiete.

10. Seine zum Bundesfinanzhof eingelegte Revision stützt das Finanzamt Gladbeck darauf, dass bei den in den Spielbanken aufgestellten Geräten die Einsätze und Gewinnmöglichkeiten wesentlich höher seien als bei denen, die außerhalb dieser Einrichtungen betrieben würden. Anders als vom Finanzgericht Münster angenommen, bestehe daher kein Wettbewerbsverhältnis zwischen diesen beiden Gerätearten.

11. Da der Bundesfinanzhof der Ansicht ist, dass zur Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits die Auslegung der Sechsten Richtlinie erforderlich sei, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat die Veranstaltung eines Glücksspiels mit Geldeinsatz nicht der Mehrwertsteuer unterwerfen darf, wenn die Veranstaltung eines solchen Glücksspiels durch eine zugelassene öffentliche Spielbank steuerfrei ist?

2. Verbietet Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie einem Mitgliedstaat, den Betrieb eines Geldspielautomaten bereits dann der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, wenn der Betrieb eines Geldspielautomaten durch eine zugelassene öffentliche Spielbank steuerfrei ist, oder muss zusätzlich feststehen, dass die außerhalb der Spielbanken betriebenen Glücksspielautomaten in wesentlichen Punkten, wie beim Höchsteinsatz und beim Höchstgewinn, mit den Geldspielautomaten in den Spielbanken vergleichbar sind?

3. Kann sich der Automatenaufsteller auf die Steuerfreiheit nach Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie berufen?

Rechtssache C462/02

12. Wie den dem Gerichtshof vom vorlegenden Gericht übermittelten Akten zu entnehmen ist, betrieb Herr Akritidis von 1987 bis 1991 in HerneEickel einen Spielsalon. Er veranstaltete dort Roulette sowie Kartenspiele. Gemäß der Erlaubnis, über die er verfügte, mussten diese Glücksspiele nach bestimmten Regeln laut Unbedenklichkeitsbescheinigung der zuständigen Behörden gespielt werden.

13. Von 1989 bis 1991 hielt sich Herr Akritidis weder beim Roulettespiel noch beim Kartenspiel an die Vorgaben der zuständigen Behörden. Unter anderem benutzte er weder die vorgeschriebene Kartentafel, noch hielt er die zulässigen Einsätze ein, noch führte er Aufzeichnungen über die bei den fraglichen Spielen erzielten Umsätze.

14. Das Finanzamt HerneWest schätzte den Umsatz für diesen Zeitraum unter Berücksichtigung der nicht genehmigten Roulette- und Kartenspielumsätze. Auf Einspruch von Herrn Akritidis und unter Berücksichtigung des vorerwähnten Urteils Fischer beließ das Finanzamt HerneWest die Umsätze aus dem Roulettespiel steuerfrei. Es beschloss dagegen, die illegal veranstalteten Kartenspiele als steuerpflichtig zu behandeln, wobei es den Anteil der Kartenspielumsätze an den Gesamtumsätzen schätzte.

15. Herr Akritidis erhob beim Finanzgericht Münster Klage gegen diese Entscheidung. Das Finanzgericht kam zu dem Ergebnis, entsprechend den Grundsätzen des Urteils Fischer seien auch die Umsätze aus dem betreffenden Kartenspiel nach Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie von der Umsatzsteuer zu befreien. Herr Akritidis könne sich vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf diese Vorschrift berufen. Es gebe keinen Grund, die Anwendung der vom Gerichtshof in diesem Urteil aufgestellten Grundsätze auf das Roulettespiel zu beschränken.

16. Seine zum Bundesfinanzhof eingelegte Revision stützt das Finanzamt HerneWest darauf, dass die Grundsätze, auf die sich das Finanzgericht Münster bezogen habe, nicht auf das hier in Rede stehende Kartenspiel übertragbar seien. Anders als bei dem Spiel, um das es im Urteil Fischer gegangen sei, bestehe hier zwischen dem von Herrn Akritidis veranstalteten Kartenspiel und den von den Spielbanken veranstalteten Spielen kein Wettbewerbsverhältnis, da diese Spiele nur bedingt miteinander vergleichbar seien. Herr Akritidis entgegnet, das Kartenspiel entspreche so, wie es in seinen Räumlichkeiten gespielt worden sei, dem in zugelassenen öffentlichen Spielbanken gespielten Black Jack.

17. Da der Bundesfinanzhof der Ansicht ist, dass zur Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits die Auslegung der Sechsten Richtlinie erforderlich sei, hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Verbietet Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie einem Mitgliedstaat, die Veranstaltung eines Kartenspiels bereits dann der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, wenn die Veranstaltung eines Kartenspiels durch eine zugelassene öffentliche Spielbank steuerfrei ist, oder muss zusätzlich feststehen, dass die außerhalb der Spielbanken veranstalteten Kartenspiele in wesentlichen Punkten, wie bei den Spielregeln, beim Höchsteinsatz und beim Höchstgewinn, mit den Kartenspielen in den Spielbanken vergleichbar sind?

2. Kann sich der Veranstalter auf die Steuerfreiheit nach Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie berufen?

18. Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofes vom sind die Rechtssachen C453/02 und C462/02 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage in der Rechtssache C453/02

19. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach § 4 Nummer 9 Buchstabe b UStG die Umsätze, die die zugelassenen öffentlichen Spielbanken mit Glücksspielen oder Glücksspielgeräten erzielen, steuerfrei sind, ohne dass die Form oder die Modalitäten der Veranstaltung und des Betriebes dieser Spiele und Geräte festgelegt sind.

20. Außerdem unterliegen, wie der Bundesfinanzhof in seiner Vorlageentscheidung ausgeführt hat, die zugelassenen öffentlichen Spielbanken hinsichtlich der Glücksspiele und Glücksspielgeräte, die sie veranstalten oder betreiben dürfen, keiner Beschränkung.

21. Daher können Glücksspiele und Glücksspielgeräte wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden unabhängig von den Modalitäten ihrer Veranstaltung oder ihres Betriebes von den zugelassenen öffentlichen Spielbanken veranstaltet oder betrieben werden, ohne dass der damit erzielte Umsatz der Umsatzsteuer unterliegt.

22. Demnach ist die erste Frage in der Rechtssache C453/02 als im Wesentlichen dahin gehend zu verstehen, ob Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie so auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, wonach die Veranstaltung oder der Betrieb von Glücksspielen und Glücksspielgeräten aller Art in zugelassenen öffentlichen Spielbanken steuerfrei ist, während diese Steuerbefreiung für die Ausübung der gleichen Tätigkeit durch Wirtschaftsteilnehmer, die nicht Spielbankbetreiber sind, nicht gilt.

23. Im Hinblick auf die Beantwortung der so umformulierten Frage ist daran zu erinnern, dass sich aus Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie ergibt, dass die Veranstaltung oder der Betrieb von Glücksspielen und Glücksspielgeräten grundsätzlich von der Mehrwertsteuer zu befreien ist, wobei die Mitgliedstaaten aber dafür zuständig bleiben, die Bedingungen und Grenzen dieser Befreiung festzulegen (Urteil Fischer, Randnr. 25).

24. Bei der Ausübung dieser Zuständigkeit müssen die Mitgliedstaaten jedoch den Grundsatz der steuerlichen Neutralität beachten. Wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes hervorgeht, verbietet es dieser Grundsatz insbesondere, gleichartige und deshalb miteinander in Wettbewerb stehende Waren oder Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln. Auf solche Waren oder Dienstleistungen ist daher ein einheitlicher Steuersatz anzuwenden (vgl. u. a. Urteile vom in der Rechtssache C267/99, Adam, Slg. 2001, I7467, Randnr. 36, und vom in der Rechtssache C109/02, Kommission/Deutschland, Slg. 2003, I12691, Randnr. 20).

25. Aus diesen Urteilen sowie aus den Urteilen vom in der Rechtssache C216/97 (Gregg, Slg. 1999, I4947, Randnr. 20) und Fischer geht hervor, dass für die Prüfung der Gleichartigkeit der Waren oder Dienstleistungen die Identität des Herstellers oder des Dienstleistungserbringers und die Rechtsform, in der diese ihre Tätigkeiten ausüben, grundsätzlich nicht von Bedeutung sind.

26. Wie die Generalanwältin in den Nummern 37 und 38 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, hat der Gerichtshof nämlich für die Feststellung der Gleichartigkeit der im Urteil Fischer in Rede stehenden Tätigkeiten nur die Vergleichbarkeit der betreffenden Tätigkeiten geprüft und ist dem Vorbringen, wonach sich die Glücksspiele im Hinblick auf die steuerliche Neutralität allein dadurch unterschieden, dass sie von oder in zugelassenen öffentlichen Spielbanken veranstaltet werden, nicht gefolgt.

27. Daher hat der Gerichtshof in Randnummer 31 des Urteils Fischer entschieden, dass Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie es einem Mitgliedstaat verwehrt, die unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels außerhalb einer zugelassenen öffentlichen Spielbank der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, wenn die Veranstaltung des gleichen Glücksspiels durch eine solche Einrichtung steuerfrei ist.

28. Da es demnach auf die Identität des Veranstalters eines Glücksspiels nicht ankommt für die Feststellung, ob die unerlaubte Veranstaltung dieses Spiels als mit der erlaubten Veranstaltung des gleichen Spiels in Wettbewerb stehend anzusehen ist, muss das Gleiche erst recht für die Feststellung gelten, ob zwei rechtmäßig veranstaltete Glücksspiele oder betriebene Glücksspielgeräte als miteinander in Wettbewerb stehend anzusehen sind.

29. Folglich dürfen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung der ihnen durch Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie zuerkannten Befugnisse, die Bedingungen und Beschränkungen der in dieser Bestimmung vorgesehenen Befreiung der Veranstaltung oder des Betriebes von Glücksspielen und Glücksspielgeräten von der Mehrwertsteuer festzulegen, diese Steuerbefreiung nicht von der Identität des Veranstalters oder Betreibers dieser Spiele oder Geräte abhängig machen.

30. Angesichts dieser Erwägungen ist auf die erste Vorlagefrage in der Rechtssache C453/02 zu antworten, dass Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, wonach die Veranstaltung oder der Betrieb von Glücksspielen und Glücksspielgeräten aller Art in zugelassenen öffentlichen Spielbanken steuerfrei ist, während diese Steuerbefreiung für die Ausübung der gleichen Tätigkeit durch Wirtschaftsteilnehmer, die nicht Spielbankbetreiber sind, nicht gilt.

Zur zweiten Frage in der Rechtssache C453/02 und zur ersten Frage in der Rechtssache C462/02

31. Angesichts der Antwort auf die erste Frage in der Rechtssache C453/02 ist weder die zweite Frage in dieser Rechtssache noch die erste Frage in der Rechtssache C462/02 zu beantworten.

Zur dritten Frage in der Rechtssache C453/02 und zur zweiten Frage in der Rechtssache C462/02

32. Mit diesen Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie unmittelbare Wirkung in dem Sinne hat, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten darauf berufen kann, um die Anwendung mit dieser Bestimmung unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern.

33. Hierzu ist daran zu erinnern, dass sich der Einzelne in Ermangelung fristgemäß erlassener Umsetzungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, gegenüber allen nicht richtlinienkonformen innerstaatlichen Vorschriften berufen kann; er kann sich auf diese Bestimmungen auch berufen, soweit sie so geartet sind, dass sie Rechte festlegen, die der Einzelne dem Staat gegenüber geltend machen kann (vgl. u. a. Urteile vom in der Rechtssache 8/81, Becker, Slg. 1982, 53, Randnr. 25, vom in der Rechtssache C141/00, Kügler, Slg. 2002, I6833, Randnr. 51, und vom in den Rechtssachen C465/00, C138/01 und C139/01, Österreichischer Rundfunk u. a., Slg. 2003, I4989, Randnr. 98).

34. Was im Einzelnen Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie betrifft, so geht aus der Rechtsprechung hervor, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zwar unbestreitbar ein Ermessen bei der Festlegung der Bedingungen für die Anwendung bestimmter darin vorgesehener Steuerbefreiungen einräumt, dass aber gleichwohl ein Mitgliedstaat einem Steuerpflichtigen, der in der Lage ist, zu beweisen, dass er steuerrechtlich unter einen Befreiungstatbestand der Sechsten Richtlinie fällt, nicht die Tatsache entgegenhalten kann, dass er die Vorschriften, die die Anwendung eben dieser Steuerbefreiung erleichtern sollen, nicht erlassen hat (Urteil Becker, Randnr. 33).

35. Der Umstand, dass Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie dieses Ermessen der Mitgliedstaaten durch die Klarstellung bestätigt, dass sie für die Feststellung der Bedingungen und Beschränkungen der Steuerbefreiungen für Glücksspiele mit Geldeinsatz zuständig sind, ist nicht geeignet, diese Auslegung in Frage zu stellen. Da diese Glücksspiele nämlich grundsätzlich von der Mehrwertsteuer befreit sind, kann sich jeder, der sie veranstaltet, unmittelbar auf diese Steuerbefreiung berufen, wenn der betreffende Mitgliedstaat auf die Ausübung der ihm durch Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie ausdrücklich zuerkannten Befugnisse verzichtet oder es unterlassen hat, von diesen Befugnissen Gebrauch zu machen.

36. Ferner ist festzustellen, dass das, was für den Fall gilt, dass ein Mitgliedstaat die ihm durch Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie zuerkannten Befugnisse nicht ausgeübt hat, erst recht für den Fall gelten muss, dass ein Mitgliedstaat in Ausübung dieser Befugnisse innerstaatliche Rechtsvorschriften erlassen hat, die mit dieser Richtlinie nicht vereinbar sind.

37. Wenn wie in den Ausgangsverfahren die Bedingungen oder Beschränkungen, von denen ein Mitgliedstaat die Steuerbefreiung für Glücksspiele mit Geldeinsatz abhängig macht, gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstoßen, kann sich, wie die Generalanwältin in Nummer 72 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, dieser Mitgliedstaat folglich nicht auf diese Bedingungen oder Beschränkungen stützen, um dem Veranstalter solcher Glücksspiele die Steuerbefreiung, auf die dieser nach der Sechsten Richtlinie einen Rechtsanspruch hat, zu verweigern.

38. Somit ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C453/02 und auf die zweite Frage in der Rechtssache C462/02 zu antworten, dass Artikel 13 Teil B Buchstabe f der Sechsten Richtlinie unmittelbare Wirkung in dem Sinne hat, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten darauf berufen kann, um die Anwendung mit dieser Bestimmung unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern.

Zur zeitlichen Wirkung des vorliegenden Urteils

39. Die deutsche Regierung hat in ihren mündlichen Erklärungen darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof die Möglichkeit habe, die zeitliche Wirkung des vorliegenden Urteils zu beschränken, wenn er eine nationale Regelung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende als unvereinbar mit der Sechsten Richtlinie ansehen sollte.

40. Zur Begründung ihres Ersuchens hat die deutsche Regierung den Gerichtshof auf die verhängnisvollen finanziellen Folgen aufmerksam gemacht, die ein Urteil hätte, mit dem die Unvereinbarkeit einer Bestimmung wie des § 4 Nummer 9 UStG mit der Sechsten Richtlinie festgestellt würde. Außerdem habe das Verhalten der Kommission der Europäischen Gemeinschaften im Anschluss an das Urteil vom in der Rechtssache C38/93 (Glawe, Slg. 1994, I1679) die Bundesrepublik Deutschland zu der Ansicht geführt, dass § 4 Nummer 9 UStG mit der Sechsten Richtlinie in Einklang stehe.

41. Dazu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Artikel 234 EG vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Gerichte die Vorschriften in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen (vgl. u. a. Urteile vom 11. August 1995 in den Rechtssachen C367/93 bis C377/93, Roders u. a., Slg. 1995, I2229, Randnr. 42, und vom in der Rechtssache C347/00, Barreira Pérez, Slg. 2002, I8191, Randnr. 44).

42. Der Gerichtshof kann sich nur ausnahmsweise nach dem der Gemeinschaftsrechtsordnung innewohnenden allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit veranlasst sehen, mit Wirkung für die Betroffenen die Möglichkeit zu beschränken, sich auf die Auslegung einer Bestimmung durch den Gerichtshof zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen (vgl. u. a. Urteile vom in der Rechtssache C104/98, Buchner u. a., Slg. 2000, I3625, Randnr. 39, und Barreira Pérez, Randnr. 45).

43. In Bezug auf die Ausgangsverfahren ist erstens festzustellen, dass sich das Vorbringen, § 4 Nummer 9 UStG habe vernünftigerweise als mit der Sechsten Richtlinie in Einklang stehend angesehen werden können, nicht auf das Verhalten der Kommission im Anschluss an das Urteil Glawe stützen lässt. In diesem Urteil ging es nämlich nur um die Bestimmung der Besteuerungsgrundlage des mit dem Betrieb von Geldspielautomaten erzielten Umsatzes und keineswegs um die durch das deutsche Mehrwertsteuerrecht allgemein eingeführte unterschiedliche Behandlung der zugelassenen öffentlichen Spielbanken und der übrigen Glücksspielveranstalter.

44. Zweitens rechtfertigen die finanziellen Konsequenzen, die sich aus einer Vorabentscheidung für einen Mitgliedstaat ergeben können, für sich allein nicht die zeitliche Begrenzung der Wirkungen des betreffenden Urteils (vgl. u. a. Urteile Roders u. a., Randnr. 48, und Buchner u. a., Randnr. 41).

45. Daher ist die zeitliche Wirkung des vorliegenden Urteils nicht zu beschränken.

Kostenentscheidung:

Kosten

46. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Verwaltungsanweisungen:

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




Fundstelle(n):
SAAAB-72831

1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg