FinMin Nordrhein-Westfalen - S 0351

Änderung von Steuerbescheiden nach § 173 AO bei nachträglicher Erklärung von Einkünften aus Kapitalvermögen

I. Rechtslage bis zum Veranlagungszeitraum 2008

1. Grundsatz

Für die Frage, ob eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO - zuungunsten - oder nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO - zugunsten - des Steuerpflichtigen in Betracht kommt, ist auf die steuerliche Auswirkung abzustellen. Nach dem Wortlaut der Vorschrift ("höhere Steuer" bzw. "niedrigere Steuer") ist hierfür allein auf das Ergebnis der Steuerfestsetzung - ohne Berücksichtigung von Steuerabzugsbeträgen wie z.B. Lohnsteuerabzugsbeträgen - abzustellen. Dies entspricht der Gesetzessystematik. Geändert wird nach § 173 AO die festgesetzte Steuer, nicht aber die Abrechnung bzw. die Anrechnungsverfügung. Die Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO sind nur im Steuerfestsetzungsbereich anwendbar; für den Erhebungsbereich sind die §§ 130, 131 AO einschlägig.

Dem steht auch das (BStBl 1990 II 610) nicht entgegen, weil sowohl aus dem Tenor als auch aus den Gründen erkennbar ist, dass die "mit einer Nettolohnvereinbarung zusammenhängenden Besonderheiten [es] ... geboten erscheinen [lassen], bei dem für die §§ 172 Abs. 1 Nr. 2 a und 173 Abs. 1 AO 1977 erforderlichen Vergleich auch die anrechenbaren Abzugssteuern zu berücksichtigen." In dem Urteilsfall war der Betrag, um den die Einkünfte zu erhöhen waren, gleichzeitig der Betrag, der auf die festgesetzte Steuer anzurechnen war. Dies bedeutet, dass mit der Entscheidung im Festsetzungsbereich auch unmittelbar über die Anrechnung dem Grunde und der Höhe nach entschieden worden wäre.

2. Korrektur der Einkommensteuerfestsetzung gem. § 173 AO aufgrund nachträglich bekannt gewordener steuerabzugspflichtiger Kapitalerträge

Werden dem Finanzamt nach bestandskräftig durchgeführter Einkommensteuerfestsetzung bisher nicht erklärte, dem Steuerabzug (Kapitalertragssteuer) unterworfene Kapitalerträge bekannt, die zu einer höheren Steuer führen, so ist die Steuerfestsetzung auch dann nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern, wenn sich nach Anrechnung der Kapitalertragsteuer eine niedrigere verbleibende Einkommensteuerschuld und damit ein Steuererstattungsanspruch ergibt.

3. Anrechnung der Kapitalertragsteuer bei Änderung nach § 173 Abs. 1 AO

Die regelmäßig mit der Einkommensteuerfestsetzung verbundene Anrechnung der Steuerabzugbeträge stellt einen selbständigen Verwaltungsakt "Anrechnungsverfügung" im Erhebungsbereich dar, der zugunsten oder zuungunsten des Steuerpflichtigen nur unter den Voraussetzungen der §§ 129-131 AO korrigiert werden kann (vgl. AEAO zu § 218, Nr. 3; H 213 d - Anrechnung - EStH 2003).

4. Nachträgliche Anrechnung der Kapitalertragssteuer bei Unterbleiben der Änderung nach § 173 Abs. 1 AO

Der nachträglichen Berücksichtigung der Kapitalertragsteuer steht das Korrespondenzprinzip des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG nicht entgegen, wenn die Änderung der Steuerfestsetzung im Hinblick auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge unterbleibt, weil die Einnahmen aus Kapitalvermögen -unter Einbeziehung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge den Werbungskosten-Pauschbetrag (§ 9a EStG) und den Sparer-Freibetrag (§ 20 Abs. 4 EStG) nicht übersteigen oder die Steuerschuld aus anderen Gründen - trotz Berücksichtigung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitaleinkünfte - unverändert bleibt. Auch in solchen Fällen ist von der Erfassung der Kapitaleinkünfte im Sinne des § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG auszugehen, weshalb - bei Vorlage der Steuerbescheinigung - die Kapitalertragsteuer auch in diesen Fällen noch nachträglich angerechnet werden kann.

5. Festsetzungsfrist bei Steuerhinterziehung (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO)

Die Anwendung der 10-jährigen Festsetzungsfrist setzt voraus, dass der Tatbestand der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) objektiv und subjektiv erfüllt ist. Er ist im vorliegenden Zusammenhang in objektiver Hinsicht stets dann erfüllt, wenn die Erfassung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge zu einer höheren Einkommensteuerschuld führt.

Ob der Tatbestand der Steuerhinterziehung in subjektiver Hinsicht - aufgrund vorsätzlichen Handelns des Steuerpflichtigen - erfüllt ist, muss jeweils nach den Verhältnissen des Einzelfalles entschieden werden. Steuerhinterziehung oder auch nur leichtfertige Steuerverkürzung liegen nicht vor, wenn die auf die nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge entfallende anrechnungsfähige Kapitalertragssteuer den Einkommensteuer-Mehrbetrag, der sich bei Erfassung der nachträglich bekannt gewordenen Kapitalerträge ergibt (Unterschiedsbetrag zwischen alter und neuer Einkommensteuerschuld), übersteigt, wenn die Anrechnung der Kapitalertragssteuer also zu einer Steuererstattung führt. Es liegt in diesen Fällen keine vollendete Steuerhinterziehung vor, da der für die Erfüllung des objektiven Tatbestands in § 370 vorausgesetzte Taterfolg der Steuerverkürzung durch die Nichtangabe der Kapitalerträge nicht eingetreten ist. In solchen Fällen ist die 10-jährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 S. 2 AO nicht anwendbar (vgl. BStBl 2008 II S. 659). Nach Ablauf der vierjährigen Steuerfestsetzungsfrist ist in Erstattungsfällen daher keine Änderung der Steuerfestsetzung und aufgrund des Korrespondenzprinzips damit auch keine Anrechnung der Kapitalertragsteuer mehr möglich.

II. Rechtslage ab dem Veranlagungszeitraum 2009

Durch die Einführung der Abgeltungsteuer zum sind Kapitalerträge, die dem abgeltenden Kapitalertragsteuerabzug unterlegen haben, grundsätzlich nicht mehr erklärungspflichtig. Nach § 32d Abs. 4 EStG können Steuerbürger beantragen, dass für Kapitalerträge, die der Kapitalertragsteuer unterlegen haben, eine Steuerfestsetzung entsprechend § 32d Abs. 3 Satz 2 EStG durchgeführt wird, durch die beispielsweise der Steuereinbehalt für bestimmte Kapitalerträge im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung überprüft werden kann. Im übrigen kann der betroffene Steuerbürger als Gläubiger der Kapitalerträge einen Antrag nach § 32d Abs. 6 EStG (Günstigerprüfung) stellen, durch den die Kapitalerträge, die der Abgeltungsteuer unterlegen haben, in die Einkommensteuerveranlagung einbezogen und - sofern dies für den Steuerpflichtigen günstiger ist - der tariflichen Einkommensteuer unterworfen werden. Eine Antragstellung soll nach dem Willen des Gesetzgebers nur bis zum Eintritt der Bestandskraft möglich sein (BT-Drs. 16/4841, 61).

Die nachträgliche Ausübung des Wahlrechts oder eine nachträgliche Antragstellung ist keine neue Tatsache i.S.d. § 173 AO, sondern eine Verfahrenshandlung (). Nichts desto trotz kann es bei nachträglicher Ausübung eines nicht fristgebundenen Antrags zu einer Änderung nach § 173 AO kommen, wenn hierdurch Tatsachen i.S.d. § 173 AO nachträglich bekannt werden (). Etwas anderes gilt jedoch für fristgebundene Anträge, weil hierdurch die Tatsachen nicht nachträglich bekanntwerden, sondern erst durch die Antragstellung eintreten. Zudem sind die Tatsachen durch eine verspätete Antragstellung nicht rechtserheblich, so dass eine Änderung nach § 173 AO ausscheidet ().

Da die Anträge i.S.d. § 32d Abs. 4, 6 EStG nur bis zur Bestandskraft ausgeübt werden können, sind diese fristgebunden. Eine Änderung des Einkommensteuerbescheids nach § 173 AO kommt wegen eines solchen Antrags nach Unanfechtbarkeit nicht in Betracht. Mangels Einkunftserfassung kann die einbehaltene Kapitalertragsteuer in diesen Fällen nicht angerechnet werden (§ 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG). Etwas anderes gilt nur, sofern der Einkommensteuerbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) ergangen ist oder mit zulässigen Einspruch angefochten wurde.

FinMin Nordrhein-Westfalen v. - S 0351

Auf diese Anweisung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



Fundstelle(n):
AO-Kartei NW § 173 AO Karte 801
CAAAD-61706