Vorlagefrage an EuGH zur Auslegung der Reiserichtlinie: Zeitpunkt der zum Rücktritt berechtigenden außergewöhnlichen Umstände
Leitsatz
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV folgende Frage zur Auslegung der Richtlinie (EU) 2015/2302 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über Pauschalreisen und verbundene Reiseleistungen, zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 90/314/EWG des Rates (ABl. EU L 326 S. 1 ff.) vorgelegt:
Ist Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie
1. dahingehend auszulegen, dass für die Beurteilung der Berechtigung des Rücktritts nur jene unvermeidbaren, außergewöhnlichen Umstände maßgeblich sind, die im Zeitpunkt des Rücktritts bereits aufgetreten sind,
2. oder dahingehend, dass auch unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände zu berücksichtigen sind, die nach dem Rücktritt, aber noch vor dem geplanten Beginn der Reise tatsächlich auftreten?
Gesetze: § 651h Abs 1 S 1 BGB, § 651h Abs 1 S 2 BGB, § 651h Abs 1 S 3 BGB, § 651h Abs 3 S 1 BGB, § 651h Abs 3 S 2 BGB, Art 12 Abs 2 EURL 2015/2302, EGV 2006/2004, EURL 83/2011, EWGRL 314/90
Instanzenzug: LG München I Az: 13 S 669/21vorgehend Az: 243 C 10984/20anhängig EuGH Az: C-584/22
Gründe
1Die Vorlagefrage ist in einem Rechtsstreit über einen Anspruch auf Rückzahlung einer Anzahlung für eine Pauschalreise entscheidungserheblich.
2I. Der Kläger buchte im Januar 2020 für sich und seine Ehefrau bei der Beklagten eine Reise nach Japan, die vom 3. bis zum stattfinden und 6.148,00 Euro kosten sollte. Am leistete er eine Anzahlung von 1.230,00 Euro.
3Im Gefolge von Meldungen über das Corona-Virus waren Ende Februar 2020 in Japan Schutzmasken landesweit ausverkauft. Die großen Vergnügungsparks wurden geschlossen, sportliche Großveranstaltungen fanden ohne Publikum oder gar nicht mehr statt. Die japanische Regierung beschloss am , für die kommenden Wochen sämtliche sportlichen, kulturellen oder anderen Großveranstaltungen abzusagen. Am wurden alle Schulen Japans bis mindestens Anfang April 2020 geschlossen.
4Mit Schreiben vom trat der Kläger wegen der vom Corona-Virus ausgehenden Gesundheitsgefährdung von der Reise zurück. Die Beklagte erstellte daraufhin eine Stornorechnung über weitere 307,00 Euro, die der Kläger bezahlte.
5Am erließ Japan ein Einreiseverbot. Der Kläger verlangte hierauf Rückzahlung der geleisteten Beträge. Die Beklagte kam dem nicht nach.
6Das Amtsgericht hat die Beklagte zur Rückzahlung der von dem Kläger geleisteten Anzahlung und der Stornierungskosten verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Klage mit Ausnahme eines Differenzbetrags abgewiesen. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren in vollem Umfang weiter.
7II. Das Berufungsgericht hat angenommen, der Kläger habe von der gebuchten Reise nicht gemäß § 651h Abs. 3 BGB ohne Entschädigungspflicht zurücktreten können.
8Für die Beurteilung der Frage, ob unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände vorlägen, sei eine ex-ante-Betrachtung zum Zeitpunkt des Rücktritts maßgeblich. Dies entspreche dem Wortlaut von Artikel 12 Abs. 2 der Richtlinie und einer verbreiteten Meinung in der Literatur, die zutreffend darauf hinweise, dass bei einer dynamischen Situation mit einer sich verschlechternden, aber auch verbessernden Gefahrenlage die Anwendung der Norm beliebig würde. Zudem liege ansonsten das Risiko der Verschlechterung ausschließlich beim Veranstalter.
9Zum Rücktrittszeitpunkt habe man nicht vom Vorliegen unvermeidbarer außergewöhnlicher Umstände ausgehen können. Die von den japanischen Behörden verfügten Maßnahmen hätten dem Ziel gedient, vorsorglich Infektionen zu verhindern. Allein auf vorsorgende Maßnahmen könne die Schlussfolgerung, dass sich die Infektionslage bis zum erheblich verschlechtern würde, nicht gestützt werden, denn von der Unwirksamkeit dieser Maßnahmen könne nicht ohne weiteres ausgegangen werden. Die Reise sei von diesen Maßnahmen nicht betroffen gewesen.
10III. Die Entscheidung über die Revision hängt von der Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie (EU) 2015/2302 (im Folgenden: Richtlinie) ab.
111. Die Beklagte hat gemäß § 651h Abs. 1 Satz 2 BGB ihren Anspruch auf den Reisepreis verloren, weil der Kläger nach § 651h Abs. 1 Satz 1 BGB wirksam von dem Pauschalreisevertrag zurückgetreten ist. Damit ist die Beklagte zur Rückzahlung der erbrachten Anzahlung verpflichtet.
122. Die Klage ist dennoch unbegründet, wenn die Beklagte diesem Anspruch einen Entschädigungsanspruch aus § 651h Abs. 1 Satz 3 BGB entgegenhalten kann. Ein solcher Entschädigungsanspruch besteht jedoch nicht, wenn die Voraussetzungen des § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB erfüllt sind.
13a) Nach § 651h Abs. 3 Satz 1 BGB kann der Reiseveranstalter bei einem Rücktritt des Reisenden vor Reiseantritt von diesem keine Entschädigung verlangen, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise oder die Beförderung von Personen an den Bestimmungsort erheblich beeinträchtigen.
14aa) Unvermeidbar und außergewöhnlich sind Umstände gemäß § 651h Abs. 3 Satz 2 BGB, wenn sie nicht der Kontrolle der Partei unterliegen, die sich darauf beruft, und sich ihre Folgen auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Vorkehrungen getroffen worden wären.
15Diese Definition wurde aus Art. 3 Nr. 12 der Richtlinie übernommen. Erwägungsgrund 31 der Richtlinie nennt als Beispiele für solche Umstände Kriegshandlungen, andere schwerwiegende Beeinträchtigungen der Sicherheit wie Terrorismus und erhebliche Risiken für die menschliche Gesundheit wie den Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel oder Naturkatastrophen.
16bb) Die daran anknüpfende Regelung in § 651h Abs. 3 BGB dient der Umsetzung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie.
17Nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass der Reisende vor Beginn der Pauschalreise jederzeit vom Vertrag zurücktreten kann. Bei einem Rücktritt kann der Reiseveranstalter die Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr verlangen, wie sie im deutschen Recht in § 651h Abs. 1 Satz 3 und Abs. 2 BGB (als "Entschädigung") vorgesehen ist.
18Nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie hat der Reisende das Recht, vor Beginn der Reise ohne Zahlung einer Rücktrittsgebühr vom Reisevertrag zurückzutreten, wenn die oben genannten, im deutschen Recht in § 651h Abs. 3 BGB normierten Voraussetzungen vorliegen. In diesem Fall hat der Reisende Anspruch auf volle Erstattung aller für die Reise getätigten Zahlungen.
19b) Zu Recht ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass der Tatbestand von § 651h Abs. 3 BGB erfüllt ist, wenn schon vor Beginn der Reise außergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür begründen, dass die Reise oder die Beförderung zum Bestimmungsort erheblich beeinträchtigt ist.
20aa) Eine erhebliche Beeinträchtigung im Sinne von § 651h Abs. 3 BGB liegt nicht nur dann vor, wenn feststeht, dass die Durchführung der Reise nicht möglich ist oder zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Gesundheit oder sonstiger Rechtsgüter des Reisenden führen würde.
21Wie sich insbesondere aus Erwägungsgrund 31 der Richtlinie ergibt, kann eine solche Beeinträchtigung vielmehr schon dann zu bejahen sein, wenn die Durchführung der Reise aufgrund von unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umständen mit erheblichen und nicht zumutbaren Risiken in Bezug auf solche Rechtsgüter verbunden wäre.
22Die Beurteilung, ob solche Risiken bestehen, erfordert eine Prognose vor Reisebeginn.
23bb) Die Beurteilung, ob ein nicht zumutbares Risiko bestand, obliegt nach dem deutschen Prozessrecht im Wesentlichem dem Tatrichter.
24Die tatrichterliche Würdigung ist in der Revisionsinstanz lediglich darauf zu überprüfen, ob ein zutreffender rechtlicher Maßstab angelegt wurde, alle maßgeblichen Umstände des konkreten Einzelfalls in die Würdigung eingeflossen sind, Denkgesetze und Erfahrungssätze berücksichtigt wurden und keinem Umstand eine offensichtlich unangemessene Bedeutung beigemessen worden ist.
25cc) Bei Anwendung dieses Maßstabs erweist sich die Entscheidung des Berufungsgerichts als fehlerhaft.
26(1) Dass es im Zeitpunkt des Rücktritts am nach den getroffenen Feststellungen noch keine Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes oder Risikohinweise des Robert-Koch-Instituts oder der Weltgesundheitsorganisation gab, ist, wie auch das Berufungsgericht nicht verkannt hat, für sich gesehen nicht ausreichend, um eine solche Beeinträchtigung auszuschließen.
27(2) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer Beeinträchtigung aber auch nicht allein deshalb verneint werden, weil es im Zeitpunkt des Rücktritts noch nicht zu einer erheblichen Zahl von Infektionen in Japan gekommen war und die dort getroffenen Maßnahmen vor allem der Verhinderung von Infektionen gedient haben.
28Das Berufungsgericht hätte sich vielmehr mit der Frage befassen müssen, ob die ungewöhnliche Art und Anzahl dieser Maßnahmen schon damals hinreichende Anhaltspunkte dafür begründete, dass eine erhebliche Infektionsgefahr bestand, und nicht sicher war, ob die getroffenen Maßnahmen ausreichen würden, um diese Gefahr abzuwenden.
29Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung dieses Gesichtspunkts zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass eine Reise nach Japan schon aus damaliger Sicht mit ernsthaften und gravierenden Gesundheitsrisiken behaftet war, deren Eingehung einem besonnenen Reisenden nicht zuzumuten war.
30dd) Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat insoweit jedoch verwehrt.
31Ob bei Berücksichtigung der oben genannten Gesichtspunkte schon im Zeitpunkt des Rücktritts zu erwarten war, dass die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigt sein wird, obliegt wie bereits erwähnt im Wesentlichen der Beurteilung des Tatrichters. Der Senat kann diese Beurteilung nicht durch eine eigene Würdigung ersetzen. Er müsste die Sache zur Klärung dieser Frage an das Berufungsgericht zurückverweisen.
32c) Der Senat müsste die Berufung gegen die Entscheidung des Amtsgerichts hingegen ohne weitere Tatsachenfeststellungen zurückweisen, wenn für die Beurteilung nach § 651h Abs. 3 BGB auch Umstände von Bedeutung sind, die erst nach dem Rücktritt aufgetreten sind.
33aa) Die Frage, ob der Reisende auch dann keine Entschädigung schuldet, wenn sich erst nach dem Rücktritt mit der erforderlichen Gewissheit ergibt, dass die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigt ist, wird in der deutschen Literatur und Instanzrechtsprechung unterschiedlich beantwortet.
34Nach einer Auffassung soll allein eine ex-ante-Prognose auf der Grundlage der im Zeitpunkt des Rücktritts verfügbaren Erkenntnisse maßgeblich sein; nachträglichen Änderungen soll demgegenüber keine Bedeutung zukommen (so Staudinger/Achilles-Pujol in Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl. 2021, § 7 Rn. 26; BeckOKBGB/Geib, 62. Edition, Stand , § 651h Rn. 24; Löw, NJW 2020, 1252, 1253; Staudinger/Ruks, DAR 2020, 314, 315; MünchKomm.BGB/Tonner, 8. Aufl. 2020, § 651h Rn. 42; Tonner, RRa 2021, 55, 56/58 [mit Vorbehalten]; AG Frankfurt am Main, NJW-RR 2020, 1315 Rn. 22 ff.; AG Köln, RRa 2021, 70, 71; AG München, RRa 2021, 85 f.; AG Duisburg, RRa 2021, 72 f.).
35Nach einer anderen Auffassung steht dem Reiseveranstalter unabhängig von den Erkenntnismöglichkeiten im Zeitpunkt des Rücktritts keine Entschädigung zu, wenn die Durchführung der Reise objektiv erheblich beeinträchtigt ist (Harke, RRa 2020, 207 ff.; BeckOGKBGB/Harke, Stand , § 651h Rn. 48; Ullenboom, RRa 2021, 155, 162; Führich, NJW 2020, 2137, 2140; Führich, MDR 2021, 777, 779 f. mit Fn. 18; LG Frankfurt am Main, Urteil vom - 24 S 31/21, BeckRS 2021, 23370; Urteil vom - 24 S 40/21, BeckRS 2021, 33155; LG Düsseldorf, RRa 2022, 30; AG München, RRa 2022, 26 Rn. 21 f.; AG Aschaffenburg, Urteil vom - 126 C 1267/20, BeckRS 2021, 3262 Rn. 8; , BeckRS 2020, 30571 Rn. 21).
36bb) Diese Frage ist für die Entscheidung des Streitfalls erheblich.
37Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen der Vorinstanzen war die Durchführung der Reise aufgrund des am verfügten Einreiseverbots nicht möglich. Die Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts ist deshalb ohne weitere Sachaufklärung zurückzuweisen, wenn dieser erst nach dem Rücktritt aufgetretene Umstand zu berücksichtigen ist.
383. Die Auslegung von § 651h Abs. 3 BGB hängt von der Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie ab.
39Wie bereits oben dargelegt wurde, dient § 651h Abs. 3 BGB der Umsetzung der Vorgaben aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie. Die Vorschrift ist deshalb so auszulegen, dass sie diesen Vorgaben entspricht.
404. Aus Sicht des Senats sind nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie auch Umstände zu berücksichtigen, die erst nach dem Rücktritt aufgetreten sind.
41a) Hierfür dürfte die Systematik von Art. 12 Abs. 1 und 2 der Richtlinie sprechen.
42aa) Das in Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehene Recht des Reisenden, jederzeit vom Vertrag zurückzutreten, hat zur Folge, dass ein Rücktritt auch dann wirksam ist, wenn entgegen der Einschätzung des Reisenden zum Zeitpunkt des Rücktritts keine unvermeidbaren und außergewöhnlichen Umstände vorliegen, die die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigen.
43Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie sieht zwar formal einen eigenen Rücktrittstatbestand vor. Der Sache nach ist die Regelung aber nur für die Rechtsfolgen des Rücktritts von Bedeutung, weil der Rücktritt nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie auch ohne Vorliegen eines besonderen Grundes wirksam ist. Die in Art. 12 Abs. 2 vorgesehene Rechtsfolge - der Wegfall des Anspruchs auf Zahlung einer Rücktrittsgebühr - hängt nicht davon ab, auf welche Gründe der Reisende den Rücktritt gestützt hat, sondern allein davon, ob tatsächlich Umstände vorliegen, die die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigen.
44bb) Art. 12 Abs. 1 und 2 der Richtlinie erfordert nach Auffassung des Senats nicht, dass bereits im Zeitpunkt des Rücktritts in allen Einzelheiten feststeht, welche Ansprüche den Vertragsparteien nach dem Rücktritt zustehen.
45Nach Art. 12 Abs. 1 Satz 4 der Richtlinie kann die Höhe der Rücktrittsgebühr anhand der individuellen Umstände des Einzelfalls berechnet werden. Die hierfür maßgeblichen Umstände stehen im Zeitpunkt des Rücktritts typischerweise noch nicht fest. Welche Aufwendungen erspart werden können und in welchem Umfang Reiseleistungen anderweitig verwertet werden können, hängt häufig von Umständen ab, die erst nach dem Rücktritt eintreten oder erkennbar werden. Zumindest in solchen Konstellationen ist eine abschließende Berechnung der Rücktrittsgebühr im Zeitpunkt des Rücktritts nicht möglich. Der Rücktritt ist dennoch wirksam.
46cc) Eine im Zeitraum zwischen Rücktritt und Reisebeginn verbleibende Ungewissheit, ob dem Reiseveranstalter aufgrund des wirksamen Rücktritts überhaupt eine Rücktrittsgebühr zusteht, ist nach Auffassung des Senats nicht anders zu beurteilen.
47Auch wenn ein Anspruch auf Zahlung einer Rücktrittsgebühr dem Grunde nach besteht, kann die Ersparnis von Aufwendungen oder die anderweitige Verwertung der Reiseleistungen dazu führen, dass der Reisende im Ergebnis nichts schuldet.
48Die Möglichkeit, dass nach dem Rücktritt unvermeidbare und außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Reise wesentlich beeinträchtigen und deshalb einen Anspruch auf Zahlung einer Rücktrittsgebühr schon dem Grunde nach ausschließen, führt zu keinem höheren Grad an Ungewissheit und ist deshalb nicht anders zu bewerten.
49dd) Eine abweichende Auslegung, die die Rechtsfolgen eines Rücktritts von der dafür angeführten Begründung abhängig machte, führte demgegenüber zu einem Maß an Rechtsunsicherheit, das mit den Vorgaben aus Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie nicht vereinbar wäre.
50Wäre ein Rücktritt, der auf außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie gestützt ist, nur dann wirksam, wenn diese Umstände im Zeitpunkt des Rücktritts tatsächlich vorliegen, könnte der Reisende zwar die Entstehung einer Rücktrittsgebühr nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie verhindern. Er liefe aber Gefahr, die gesamte Vergütung entrichten zu müssen, wenn er an der Reise nicht teilnimmt, obwohl diese ohne wesentliche Beeinträchtigungen durchgeführt werden kann und durchgeführt wird. Anhaltspunkte dafür, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie den Reisenden diesem Risiko aussetzen will, sind nicht ersichtlich.
51b) Der Zweck der Rücktrittsgebühr spricht nach Auffassung des Senats ebenfalls für die Berücksichtigung von Umständen, die nach dem Rücktritt aufgetreten sind. Dies dürfte unabhängig davon gelten, ob die Rücktrittsgebühr als eine dem Schadensersatz ähnliche Leistung oder als Surrogat für den Reisepreis anzusehen ist.
52aa) Bei der Bemessung eines zu ersetzenden Schadens ist grundsätzlich die gesamte Schadensentwicklung vom Zeitpunkt des anspruchsbegründenden Ereignisses bis zur abschließenden Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch zu berücksichtigen.
53Dies spricht dafür, einen Schaden zu verneinen, wenn sich nach dem Rücktritt ergibt, dass die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigt ist und der Reiseveranstalter deshalb auch ohne den Rücktritt des Reisenden zur vollständigen Rückzahlung des Reisepreises verpflichtet gewesen wäre.
54bb) Wenn die Rücktrittsgebühr als Surrogat für den Reisepreis anzusehen ist, dürfen spätere Entwicklungen, die zum Wegfall des Anspruchs auf den Reisepreis führen, ebenfalls nicht unberücksichtigt bleiben.
55Aus der Qualifikation als Leistung, die an die Stelle des ursprünglich geschuldeten Reisepreises tritt, ergibt sich, dass ein Anspruch auf das Surrogat grundsätzlich nur insoweit besteht, als ohne den Rücktritt des Reisenden ein Anspruch auf Zahlung des Reisepreises bestanden hätte. Dieser Grundsatz findet etwa in Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie Ausdruck, wonach der Reiseveranstalter auch im Falle seines Rücktritts dem Reisenden alle getätigten Zahlungen voll erstatten muss.
56c) Auch der Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes dürfte für eine Berücksichtigung nachträglicher Entwicklungen sprechen.
57aa) Die Richtlinie dient ausweislich ihrer Erwägungsgründe 3 und 6 der Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus.
58Dieses Ziel ist nicht schon dadurch gewahrt, dass den Reiseveranstalter das volle Leistungsrisiko trifft, wenn die Durchführung der Reise schon im Zeitpunkt des Rücktritts erheblich beeinträchtigt ist. Ein hohes Schutzniveau erfordert nach Auffassung des Senats vielmehr, dass der Reisende auch bei einem frühzeitigen Rücktritt vom Reisevertrag keine Zahlungen für eine Reise zu erbringen hat, deren Durchführung sich im weiteren Verlauf als erheblich beeinträchtigt erweist. Anderenfalls könnten Reisende in Situationen der Ungewissheit davon abgehalten werden, frühzeitig von dem ihnen zustehenden Rücktrittsrecht Gebrauch zu machen.
59bb) Entgegen einer in der deutschen Literatur verbreiteten Auffassung (Binger, RRa 2021, 207, 210; Staudinger/Achilles-Pujol in Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl. 2021, § 7 Rn. 26; Ruks, RRa 2022, 12, 14; BeckOKBGB/Geib, 62. Edition, Stand , § 651h Rn. 24; jurisPK/Steinrötter, 9. Aufl. [aktualisiert ], § 651h Rn. 44.1; AG Duisburg, RRa 2021, 72) führt die Möglichkeit eines risikolosen frühen Rücktritts nicht dazu, dass der Reisende auf die Fortdauer einer sich abzeichnenden Krise spekulieren und das Risiko einer erheblichen Beeinträchtigung auf den Reiseveranstalter abwälzen könnte.
60(1) Durch einen frühzeitigen Rücktritt kann der Reisende das Risiko einer Rücktrittsgebühr allerdings in der Regel verringern.
61Die Möglichkeit, Aufwendungen einzusparen oder Reiseleistungen anderweit zu verwerten, ist typischerweise umso größer, je mehr Zeit bis zum Beginn der Reise zur Verfügung steht. Auch eine vertragliche Pauschale ist gemäß Art. 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der Richtlinie und der inhaltsgleichen Regelung in § 651h Abs. 2 Nr. 1 BGB unter anderem nach dem Zeitraum zwischen Kündigungserklärung und Reisebeginn zu bemessen. Ein frühzeitiger Rücktritt eröffnet deshalb die Aussicht, dass die geschuldete Rücktrittsgebühr eher gering ausfällt.
62Dadurch wird jedoch nicht nur das Risiko für den Reisenden verringert, sondern auch das Risiko für den Reiseveranstalter. Dieser gewinnt frühzeitig Klarheit und hat mehr Zeit, um Aufwendungen einzusparen oder Reiseleistungen anderweit zu verwenden.
63Das Risiko, keine Rücktrittsgebühr verlangen zu können, wenn die Durchführung der Reise erheblich beeinträchtigt wird, besteht demgegenüber von Anfang an. Es wird durch einen frühzeitigen Rücktritt nicht erhöht.
64(2) Ein Anreiz zu spekulativem Verhalten bestünde bei dieser Ausgangslage gerade dann, wenn die Pflicht zur Zahlung einer Rücktrittsgebühr nicht nur von der Durchführbarkeit der Reise abhinge, sondern auch vom Zeitpunkt des Rücktritts.
65Dann könnte ein wegen außergewöhnlicher Umstände zum Rücktritt entschlossener Reisender sich veranlasst sehen, zunächst abzuwarten, bis weitere Erkenntnisse vorliegen oder der Reiseveranstalter die Reise von sich aus absagt. Der Reisende liefe dann zwar Gefahr, eine höhere Rücktrittsgebühr zahlen zu müssen, wenn er sich doch noch zum Rücktritt entschließt und die Voraussetzungen des § 651h Abs. 3 BGB nicht vorliegen. Er behielte aber die Aussicht, von der Zahlungspflicht frei zu werden, wenn sich seine Befürchtungen bewahrheiten.
66Umgekehrt könnte der Reiseveranstalter sich veranlasst sehen, von einer Absage der Reise bis kurz vor Reisebeginn abzusehen, um möglichst viele Reisende doch noch zu einem für ihn finanziell günstigeren Rücktritt zu veranlassen.
67d) Die in Art. 12 Abs. 5 Satz 1 der Richtlinie und § 651h Abs. 5 BGB normierte Pflicht des Reiseveranstalters, seiner Pflicht zur Rückerstattung des Reisepreises spätestens innerhalb von vierzehn Tagen nach dem Rücktritt nachzukommen, führt nach Auffassung des Senats nicht zu einer abweichenden Beurteilung.
68Der Betrag, den der Reiseveranstalter innerhalb der genannten Frist zu zahlen hat, hängt zwar auch von der Höhe der ihm zustehenden Rücktrittsgebühr ab, weil er diese auch nach deutschem Recht von dem Erstattungsbetrag abziehen kann, wie dies Art. 12 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie ausdrücklich vorgibt. Hieraus kann aber nicht abgeleitet werden, dass die Höhe der Rücktrittsgebühr in diesem Zeitpunkt bereits abschließend geklärt sein muss und spätere Nach- oder Rückzahlungsforderungen ausgeschlossen sind.
69e) Der Umstand, dass es sich bei § 651h Abs. 3 BGB um eine Ausnahmevorschrift handelt, führt nach Auffassung des Senats ebenfalls nicht zu einer abweichenden Beurteilung.
70Nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen des Unionsrechts sind Abweichungen oder Ausnahmen von einer allgemeinen Regel allerdings grundsätzlich eng auszulegen (vgl. nur , NJW 2012, 3225 Rn. 27 - Mühlleitner). Dies gilt insbesondere für Bestimmungen, die eine Ausnahme von einem Grundsatz oder, spezifischer, von unionsrechtlichen Verbraucherschutzvorschriften darstellen (, NJW 2009, 347 Rn. 17 - Wallentin-Herman; Urteil vom - C-336/03, NJW 2005, 3055 Rn. 21 - easyCar UK Ltd).
71Die Regelungen in Art. 12 Abs. 1 und 2 der Richtlinie stehen jedoch nicht in einem solchen Regel-Ausnahme-Verhältnis. Sie dienen vielmehr einem angemessenen Ausgleich zwischen dem berechtigten Vergütungsinteresse des Reiseveranstalters und dem Ziel eines hohen Verbraucherschutzniveaus. Eine enge Auslegung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie würde dazu führen, dass dem Verbraucher zusätzliche Risiken auferlegt werden. Dies stünde aus den oben dargelegten Gründen in Widerspruch zu dem normierten Ziel eines hohen Verbraucherschutzniveaus.
72IV. Die danach maßgebliche Auslegungsfrage ist nicht so hinreichend geklärt, dass eine Vorlage an den Gerichtshof entbehrlich wäre.
73Dass die Frage in der Rechtsprechung der Instanzgerichte unterschiedlich beurteilt und dass einzelne Instanzgerichte vergleichbare Fragen bereits dem Gerichtshof vorgelegt haben, begründet für sich gesehen allerdings keine relevanten Zweifel an der Richtigkeit des oben dargelegten Verständnisses.
74Der Senat kann eine abweichende Beurteilung der Frage durch den Gerichtshof aber jedenfalls deshalb nicht ausschließen, weil der österreichische Oberste Gerichtshof diese Frage (zusammen mit einer weiteren, hier nicht interessierenden Frage) dem Gerichtshof bereits vorgelegt (Beschluss vom - 8 Ob 130/21, Aktenzeichen des Gerichtshofs: C-193/22) und damit zum Ausdruck gebracht hat, dass er die Rechtslage für nicht hinreichend klar hält.
75V. Bei der Formulierung der Vorlagefrage hat sich der Senat an der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs orientiert.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:020822BXZR53.21.0
Fundstelle(n):
BB 2022 S. 1793 Nr. 32
ZIP 2022 S. 4 Nr. 31
TAAAJ-21119