EuGH Urteil v. - C-676/22

Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 138 Abs. 1 – Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen von Gegenständen – Versagung der Steuerbefreiung – Nachweise – Lieferer der Gegenstände, der die Lieferung der Gegenstände an den in den Steuerunterlagen genannten Empfänger nicht nachweist – Lieferer, der andere Auskünfte erteilt, die nachweisen, dass der tatsächliche Empfänger Steuerpflichtiger ist

Leitsatz

Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
ist dahin auszulegen, dass
einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Lieferer, der Gegenstände in einen anderen Mitgliedstaat geliefert hat, die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen ist, wenn dieser Lieferer nicht nachgewiesen hat, dass die Gegenstände an einen in dem letztgenannten Mitgliedstaat steuerpflichtigen Empfänger geliefert wurden, und – unter Berücksichtigung des Sachverhalts und der vom Lieferer vorgelegten Nachweise – die für die Überprüfung der Steuerpflichtigkeit des Empfängers erforderlichen Informationen fehlen.

Gesetze: RL 2006/112/EG Art. 138 Abs. 1

Instanzenzug:

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der B2 Energy s.r.o. und dem Odvolací finanční ředitelství (Einspruchsfinanzdirektion, Tschechische Republik) (im Folgenden: Finanzdirektion) wegen der Weigerung der Steuerbehörden, mehrere von dieser Gesellschaft bewirkte innergemeinschaftliche Lieferungen von der Mehrwertsteuer zu befreien.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Mehrwertsteuerrichtlinie

3 Art. 131 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“

4 Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten befreien die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der [Europäischen] Gemeinschaft versandt oder befördert werden[,] von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.“

5 Art. 139 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Die Steuerbefreiung nach Artikel 138 Absatz 1 gilt nicht für die Lieferungen von Gegenständen durch Steuerpflichtige, die unter die Steuerbefreiung für Kleinunternehmen nach Maßgabe der Artikel 282 bis 292 fallen.

Ferner gilt die Steuerbefreiung nicht für die Lieferungen von Gegenständen an Steuerpflichtige oder nichtsteuerpflichtige juristische Personen, deren innergemeinschaftliche Erwerbe von Gegenständen gemäß Artikel 3 Absatz 1 nicht der Mehrwertsteuer unterliegen.“

Verordnung (EU) Nr. 904/2010

6 Im siebten Erwägungsgrund der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates vom über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (ABl. 2010, L 268, S. 1) heißt es:

„Für die Erhebung der geschuldeten Steuer sollten die Mitgliedstaaten kooperieren, um die richtige Festsetzung der Mehrwertsteuer sicherzustellen. Daher müssen sie nicht nur die richtige Erhebung der geschuldeten Steuer in ihrem eigenen Hoheitsgebiet kontrollieren, sondern sollten auch anderen Mitgliedstaaten Amtshilfe gewähren, um die richtige Erhebung der Steuer sicherzustellen, die im Zusammenhang mit einer in ihrem Hoheitsgebiet erfolgten Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat geschuldet wird.“

Tschechisches Recht

7 Nach § 92 Abs. 3 des Zákon č. 280/2009 Sb., daňový řád (Gesetz Nr. 280/2009 Slg., Steuerordnung) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung hat der Steuerpflichtige alle Umstände nachzuweisen, die er in der ordentlichen Steuererklärung, einer zusätzlichen Steuererklärung und sonstigen Eingaben anführen muss.

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

8 Das Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen B2 Energy, einer tschechischen Gesellschaft, und der Finanzdirektion wegen der Weigerung der Steuerbehörde, B2 Energy für mehrere Lieferungen von Gegenständen – bei denen es sich um innergemeinschaftliche Lieferungen nach Polen handeln soll – von der Mehrwertsteuer zu befreien, da B2 Energy nicht nachgewiesen habe, dass die Voraussetzungen für diese Befreiung erfüllt seien.

9 Im Jahr 2015 lieferte B2 Energy Rapsöl nach Polen. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts wurden diese Gegenstände nicht an die in den Steuerunterlagen angegebenen Empfänger, sondern an andere in diesem Mitgliedstaat ansässige Empfänger geliefert, von denen einige den Empfang mit ihrem Stempel und ihrer Unterschrift auf internationalen Frachtbriefen bestätigten.

10 Nach Durchführung einer Steuerprüfung für die Monate Februar bis Mai 2015 am stellte die betreffende Steuerbehörde fest, dass B2 Energy auf der Grundlage der vorgelegten Unterlagen nicht nachgewiesen habe, dass sie die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Mehrwertsteuer erfülle. Obwohl die Steuerbehörde die tatsächliche Durchführung des Transports der Gegenstände in einen anderen Mitgliedstaat nicht bestritt, war sie der Ansicht, B2 Energy habe weder nachgewiesen, dass sie die Befähigung, über die Gegenstände wie ein Eigentümer zu verfügen, auf die Personen übertragen habe, die in den Steuerunterlagen als Empfänger der Gegenstände genannt gewesen seien, noch, dass diese Gegenstände an eine in einem anderen Mitgliedstaat steuerlich registrierte Person geliefert worden seien. Die Steuerbehörde war daher der Auffassung, dass B2 Energy die Voraussetzungen, um in den Genuss der Steuerbefreiung kommen zu können, nicht erfülle. Daher stellte sie mit Zahlungsbescheiden vom fest, dass die Mehrwertsteuer für die Monate Februar bis Mai 2015 zu erhöhen sei.

11 Mit Entscheidung vom wies die Finanzdirektion die von B2 Energy gegen diese Zahlungsbescheide eingelegten Einsprüche zurück. Die von B2 Energy gegen diese Entscheidung erhobene Klage wurde vom Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag, Tschechische Republik) mit Urteil vom abgewiesen, im Wesentlichen mit der Begründung, dass B2 Energy auch nicht nachgewiesen habe, dass die betreffenden Gegenstände über die in den Steuerunterlagen angegebenen Empfänger an die Empfänger, die sie als die Endempfänger bezeichnet habe, geliefert worden seien. Insbesondere war der Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag) der Ansicht, dass aus den vorgelegten Unterlagen nicht hervorgehe, wer die Gegenstände im Namen des Empfängers übernommen habe oder an welchen Empfänger die Gegenstände geliefert worden seien. Daher könne nicht festgestellt werden, wer befähigt gewesen sei, wie ein Eigentümer über diese Gegenstände zu verfügen.

12 B2 Energy legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein und machte im Wesentlichen geltend, sie habe nachgewiesen, dass die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Befreiung von der Mehrwertsteuer für die Lieferung von Gegenständen in einen anderen Mitgliedstaat erfüllt gewesen seien. Die vorgelegten Nachweise, die den tatsächlichen Empfang der betreffenden Gegenstände durch andere Gesellschaften als die in den entsprechenden Steuerunterlagen angegebenen Subjekte bestätigten, ermöglichten es nämlich, die Identität der Empfänger festzustellen, auf die die Befähigung, über diese Gegenstände zu verfügen, übertragen worden sei.

13 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hat der Gerichtshof im Urteil vom , Kemwater ProChemie (C‑154/20, EU:C:2021:989), anerkannt, dass die Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt seien, wenn der Lieferer zwar nicht namhaft gemacht worden sei, die Steuerbehörde aber über die Angaben verfüge, die für die Prüfung erforderlich seien, ob der Lieferer Steuerpflichtiger sei. Das vorlegende Gericht fragt sich, ob dieses Urteil auf die Prüfung des Rechts auf Mehrwertsteuerbefreiung von Lieferungen von Gegenständen in einen anderen Mitgliedstaat übertragen werden kann, wenn der Sachverhalt zeige, dass die betreffenden Gegenstände nicht von dem in den Steuerunterlagen angegebenen Empfänger, sondern von einem anderen Empfänger übernommen worden seien, der Steuerpflichtiger sei.

14 Vor diesem Hintergrund hat der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht des Urteils vom , Kemwater ProChemie (C‑154/20, EU:C:2021:989), in dem Sinne auszulegen, dass die geltend gemachte Befreiung von der Mehrwertsteuer für die Lieferung von Gegenständen in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu versagen ist, ohne dass die Steuerbehörde nachweisen muss, dass der Lieferer der Gegenstände an einer Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt war, wenn der Lieferer nicht nachgewiesen hat, dass die Gegenstände an einen bestimmten, in den Steuerunterlagen genannten Empfänger in einem anderen EU-Mitgliedstaat in der Eigenschaft als Steuerpflichtiger geliefert wurden, auch wenn in Anbetracht des Sachverhalts und der vom Steuerpflichtigen erteilten Auskünfte die für die Überprüfung der Tatsache, dass der tatsächliche Empfänger in einem anderen EU-Mitgliedstaat diese Eigenschaft hatte, erforderlichen Informationen verfügbar sind?

Zur Vorlagefrage

15 Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der die Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen betrifft, dahin auszulegen ist, dass einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Lieferer, der Gegenstände in einen anderen Mitgliedstaat geliefert hat und der nicht nachgewiesen hat, dass die Gegenstände an einen Empfänger geliefert wurden, der in diesem Mitgliedstaat steuerpflichtig ist, die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen ist, auch wenn die Steuerbehörde des Abgangsmitgliedstaats in Anbetracht des Sachverhalts und der von diesem Lieferer erteilten Auskünfte über die Informationen verfügt, die erforderlich sind, um zu überprüfen, ob die Person, an die die Gegenstände physisch geliefert wurden, im Bestimmungsmitgliedstaat als Steuerpflichtiger gehandelt hat.

16 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Lieferungen von Gegenständen, die die in dieser Vorschrift aufgezählten Voraussetzungen erfüllen, von der Steuer zu befreien (Urteil vom , Euro Tyre, C‑21/16, , Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

17 Was zum einen die Einstufung eines Umsatzes als innergemeinschaftliche Lieferung betrifft, ergibt sich aus Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung in Verbindung mit Art. 131 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb eines Mitgliedstaats, aber innerhalb der Union versandt oder befördert werden, unter diesen Begriff fallen und unter den Bedingungen, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der Befreiungen auf die betreffenden Lieferungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen, von der Steuer befreit sind, wenn diese Lieferungen an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nicht steuerpflichtige juristische Person bewirkt werden, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.

18 Hierzu ist festzustellen, dass nach Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung die Befreiung eines Umsatzes von der Mehrwertsteuer voraussetzt, dass das Recht, wie ein Eigentümer über einen Gegenstand zu verfügen, auf den Erwerber übertragen worden ist, dass der Lieferer nachweist, dass der Gegenstand in einen anderen Mitgliedstaat versandt oder befördert worden ist, und dass der Gegenstand aufgrund dieses Versands oder dieser Beförderung den Liefermitgliedstaat physisch verlassen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Euro Tyre, C‑21/16, , Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19 Wie zum anderen aus Art. 139 Abs. 1 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie hervorgeht, steht die Steuerbefreiung unter der Bedingung, dass die Lieferung nicht für einen Steuerpflichtigen oder eine nicht steuerpflichtige juristische Person ausgeführt wird, deren innergemeinschaftliche Erwerbe von Gegenständen gemäß Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie nicht der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom , Traum, C‑492/13, EU:C:2014:2267, Rn. 25).

20 Neben diesen Voraussetzungen gerade in Bezug auf die Eigenschaft als Steuerpflichtiger, die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen Gegenstand zu verfügen, und die physische Verbringung der Gegenstände von einem Mitgliedstaat in einen anderen darf keine weitere Voraussetzung für die Einstufung eines Umsatzes als innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen aufgestellt werden, wobei der Begriff der innergemeinschaftlichen Lieferung objektiven Charakter hat und unabhängig von Zweck und Ergebnis der betreffenden Umsätze anwendbar ist (Urteil vom , VSTR, C‑587/10, EU:C:2012:592, Rn. 30).

21 Demnach erfordert der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass die Mehrwertsteuerbefreiung gewährt wird, wenn diese materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat (Urteil vom , Euro Tyre, C‑21/16, , Rn. 36).

22 Unerheblich ist in diesem Kontext die Argumentation der Finanzdirektion mit Art. 138 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie in der durch die Richtlinie (EU) 2018/1910 des Rates vom (ABl. 2018, L 311, S. 3) geänderten Fassung, wonach die Mitgliedstaaten die Lieferungen von Gegenständen, die an einen Ort außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Union versandt oder befördert werden, von der Steuer befreien, wenn der Steuerpflichtige oder die nicht steuerpflichtige juristische Person, für den bzw. die die Lieferung erfolgt, für Mehrwertsteuerzwecke in einem anderen Mitgliedstaat als dem registriert ist, in dem die Versendung oder Beförderung der Gegenstände beginnt, und dem Lieferer die Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer mitgeteilt hat.

23 Diese mit der Richtlinie 2018/1910 eingeführte Bestimmung ist nämlich in zeitlicher Hinsicht nicht auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar.

24 Daher führen die in Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung genannten Voraussetzungen in Bezug auf zum einen das Vorliegen einer Lieferung von einem Mitgliedstaat in einen anderen und zum anderen die Eigenschaft des Erwerbers als Steuerpflichtiger, wonach der Erwerber ein „Steuerpflichtige[r sein muss], der … als [solcher] in einem anderen Mitgliedstaat … handelt“, als solche nicht dazu, dass die physische Lieferung der betreffenden Gegenstände an den in den Steuerunterlagen angegebenen Empfänger erfolgen muss.

25 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Steuerbehörde B2 Energy die Befreiung von der Mehrwertsteuer mit der Begründung versagt hat, dass diese Gesellschaft weder nachgewiesen habe, dass die betreffenden Gegenstände an die in den Steuerunterlagen angegebenen Empfänger geliefert worden seien, noch, dass sie an eine in einem anderen Mitgliedstaat für Mehrwertsteuerzwecke registrierte Person geliefert worden seien.

26 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gibt es nur zwei Fälle, in denen die Nichteinhaltung einer formellen Anforderung den Verlust des Rechts auf Mehrwertsteuerbefreiung nach sich ziehen kann (Urteil vom , Euro Tyre, C‑21/16, , Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27 Erstens kann sich ein Steuerpflichtiger, der sich vorsätzlich an einer das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdenden Steuerhinterziehung beteiligt hat, für die Zwecke der Mehrwertsteuerbefreiung nicht auf den Grundsatz der Steuerneutralität berufen. Es verstößt nämlich nicht gegen das Unionsrecht, von einem Wirtschaftsteilnehmer zu fordern, dass er in gutem Glauben handelt und alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt. Sollte der betreffende Steuerpflichtige gewusst haben oder hätte er wissen müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war, und hat er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um diese zu verhindern, müsste ihm der Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung versagt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Cartrans Spedition, C‑495/17, , Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28 Zweitens kann der Verstoß gegen eine formelle Anforderung zur Versagung der Mehrwertsteuerbefreiung führen, wenn er den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (Urteil vom , Cartrans Spedition, C‑495/17, , Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Bereits aus der Voraussetzung, von der die Versagung der Mehrwertsteuerbefreiung abhängig gemacht wird, ergibt sich jedoch, dass die Verwaltung keine zusätzlichen Voraussetzungen festlegen darf, die die Ausübung des Rechts des Steuerpflichtigen auf Befreiung vereiteln können, wenn sie über die Angaben verfügt, die für die Feststellung erforderlich sind, dass die materiellen Anforderungen erfüllt sind (Urteil vom , Plöckl, C‑24/15, , Rn. 47) und die Gegenstände insbesondere an einen Steuerpflichtigen geliefert wurden, der als solcher handelt.

29 Hierzu ist anzumerken, dass sich das vorlegende Gericht darauf beschränkt, den Gerichtshof zu fragen, ob es notwendig ist, die Steuerpflichtigeneigenschaft des Erwerbers festzustellen, ohne auf den Fall einer Steuerhinterziehung Bezug zu nehmen. Unter diesen Umständen ist die Frage des vorlegenden Gerichts so zu verstehen, dass sie sich auf die Nachweismodalitäten bezieht, die dem Lieferer zum Nachweis der Erfüllung der Voraussetzungen für die Mehrwertsteuerbefreiung bei der Lieferung von Gegenständen in einen anderen Mitgliedstaat auferlegt werden können, insbesondere der Voraussetzung der Steuerpflichtigeneigenschaft des Erwerbers.

30 Folglich ist darauf hinzuweisen, dass in Ermangelung einer Bestimmung in der Mehrwertsteuerrichtlinie bezüglich der Nachweise, die Steuerpflichtige erbringen müssen, um in den Genuss der Mehrwertsteuerbefreiung zu gelangen, die Mitgliedstaaten dafür zuständig sind, gemäß Art. 131 dieser Richtlinie die Bedingungen festzulegen, unter denen sie innergemeinschaftliche Umsätze befreien, um eine korrekte und einfache Anwendung der Befreiungen zu gewährleisten und um Steuerhinterziehung, Steuerumgehung und Missbrauch zu verhindern. Die Mitgliedstaaten müssen bei der Ausübung ihrer Befugnisse die allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten, die Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind und zu denen insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit zählen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Cartrans Spedition, C‑495/17, , Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31 In dieser Hinsicht ist festzustellen, dass es für die Finanzverwaltung seit dem Wegfall der Kontrollen an den Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten schwierig ist, sich zu vergewissern, ob die Waren einen Mitgliedstaat physisch verlassen haben. Diese Prüfung führen die nationalen Finanzbehörden daher in erster Linie anhand der von den Steuerpflichtigen vorgelegten Beweise und abgegebenen Erklärungen durch (Urteil vom , Mecsek-Gabona, C‑273/11, EU:C:2012:547, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32 Insbesondere hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass die Nachweispflichten eines Steuerpflichtigen nach den im nationalen Recht dafür ausdrücklich vorgesehenen Voraussetzungen und nach der für ähnliche Geschäfte üblichen Praxis zu bestimmen sind (Urteil vom , Cartrans Spedition, C‑495/17, , Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33 In diesem Zusammenhang scheint das vorlegende Gericht anzugeben, dass B2 Energy, ohne nachzuweisen, dass sie die betreffenden Gegenstände an die angegebenen Empfänger geliefert habe, der Steuerbehörde die Steuerunterlagen zu den erbrachten Leistungen einschließlich mehrerer Anlagen wie Lieferscheinen, internationalen Frachtbriefen, Wiegescheinen und Kontoauszügen vorgelegt habe, aus denen sich ergebe, dass die Gegenstände in einen anderen Mitgliedstaat geliefert worden seien, in dem ihr Empfang von anderen als den von B2 Energy angegebenen oder den von ihr als Endempfänger dieser Gegenstände bezeichneten Subjekten bescheinigt worden sei.

34 Aus der Vorlageentscheidung und unmittelbar aus dem Wortlaut der Vorlagefrage ergibt sich auch, dass diese Frage auf der Annahme beruht, dass die Steuerbehörde über die Angaben verfügte, die erforderlich waren, um anhand des Sachverhalts zu überprüfen, dass die tatsächlichen Empfänger Steuerpflichtige waren. Insbesondere weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Transport von Rapsöl aus der Tschechischen Republik nach Polen und seine Entladung bei Empfängern, die die Klägerin des Ausgangsverfahrens in ihren Steuererklärungen nicht namhaft gemacht habe, von der Steuerbehörde nicht bestritten worden seien. Außerdem beträfen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Lieferungen Gegenstände, die ihrer Art nach dafür bestimmt zu sein schienen, im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit genutzt zu werden.

35 Allerdings könnte der Umstand, dass die Gegenstände von anderen als den in den Steuerunterlagen genannten Subjekten empfangen wurden, darauf hindeuten, dass sie Gegenstand eines Handelsgeschäfts waren, dessen Zeitpunkt für die Anwendung der Befreiung entscheidend sein kann. Die Einstufung der von dem Lieferer, der die Steuerbefreiung in Anspruch nimmt, vorgenommenen und in den Steuerunterlagen angegebenen Lieferung als innergemeinschaftliche Lieferung hängt nämlich davon ab, ob die Beförderung tatsächlich dieser Lieferung zugerechnet werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , VSTR, C‑587/10, EU:C:2012:592, Rn. 31).

36 Insoweit ist hervorzuheben, dass die Steuerbehörden im Hinblick auf die Mehrwertsteuerbefreiung alle in ihrem Besitz befindlichen Nachweise, wie die vom vorlegenden Gericht angeführten Dokumente, gebührend berücksichtigen müssen, um zu prüfen, ob diese Dokumente gegebenenfalls das wahrscheinliche Vorliegen einer tatsächlichen Lieferung der in einen anderen Mitgliedstaat als den Mitgliedstaat des Beginns der Beförderung oder Versendung beförderten Gegenstände untermauern können (vgl. entsprechend Urteil vom , Cartrans Spedition, C‑495/17, , Rn. 66 und 67).

37 Im Übrigen kann im Hinblick auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität vom Steuerpflichtigen nicht verlangt werden, dass er in allen Fällen, wenn der Empfänger der betreffenden Gegenstände nicht namhaft gemacht worden ist, nachweist, dass dieser Empfänger Steuerpflichtiger ist, um sein Recht auf Mehrwertsteuerbefreiung ausüben zu können, soweit sich aus den tatsächlichen Umständen mit Sicherheit ergibt, dass dieser Empfänger zwangsläufig Steuerpflichtiger war (vgl. entsprechend Urteil vom , Kemwater ProChemie, C‑154/20, EU:C:2021:989, Rn. 40).

38 Unter diesen Umständen haben die zuständigen Steuerbehörden und nationalen Gerichte auf der Grundlage aller vorgelegten Dokumente, einschließlich der Dokumente, die sich im Besitz des Lieferers befanden, zu prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen für die Mehrwertsteuerbefreiung erfüllt waren.

39 Nur dann, wenn unter Berücksichtigung der tatsächlichen Umstände und trotz der vom Steuerpflichtigen vorgelegten Nachweise die zur Überprüfung der Erfüllung der Voraussetzungen von Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie erforderlichen Angaben fehlen, ist ihm die Mehrwertsteuerbefreiung zu versagen, ohne dass die Steuerbehörde nachweisen müsste, dass dieser Steuerpflichtige an einer Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt war.

40 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Lieferer, der Gegenstände in einen anderen Mitgliedstaat geliefert hat, die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen ist, wenn dieser Lieferer nicht nachgewiesen hat, dass die Gegenstände an einen in dem letztgenannten Mitgliedstaat steuerpflichtigen Empfänger geliefert wurden, und – unter Berücksichtigung des Sachverhalts und der vom Lieferer vorgelegten Nachweise – die für die Überprüfung der Steuerpflichtigkeit des Empfängers erforderlichen Informationen fehlen.

Kosten

41 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 138 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
ist dahin auszulegen, dass
einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Lieferer, der Gegenstände in einen anderen Mitgliedstaat geliefert hat, die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu versagen ist, wenn dieser Lieferer nicht nachgewiesen hat, dass die Gegenstände an einen in dem letztgenannten Mitgliedstaat steuerpflichtigen Empfänger geliefert wurden, und – unter Berücksichtigung des Sachverhalts und der vom Lieferer vorgelegten Nachweise – die für die Überprüfung der Steuerpflichtigkeit des Empfängers erforderlichen Informationen fehlen.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2024:186

Fundstelle(n):
XAAAJ-64004