BSG Beschluss v. - B 8 SO 57/21 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwerfung der Berufung als unzulässig wegen Versäumung der Berufungsfrist - Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - unverschuldete Verhinderung - rechtzeitige Absendung der Berufungsschrift

Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 158 S 1 SGG, § 151 Abs 1 SGG, § 67 Abs 1 SGG, § 2 Nr 3 S 1 PUDLV

Instanzenzug: Az: S 48 SO 305/19 Urteilvorgehend Bayerisches Landessozialgericht Az: L 8 SO 84/21 Beschluss

Gründe

1I. Zwischen den Beteiligten steht die Versagung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) im Streit.

2Die miteinander verheirateten Kläger beziehen beide eine Altersrente von der Beigeladenen. Nachdem der Beklagte die Kläger mehrfach unter Hinweis auf die Folgen fehlender Mitwirkung zur Einreichung von Unterlagen aufgefordert hatte, versagte der Beklagte die Leistungen der Grundsicherung (Bescheid vom ). Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom ; Urteil Sozialgericht <SG> München vom ). Das Urteil des SG wurde den Klägern per Postzustellungsurkunde (PZU) am zugestellt. Hiergegen haben die Kläger mit einem am eingegangenen Einwurf-Einschreiben jeweils Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Nach gerichtlichem Hinweis haben sie mitgeteilt, dass die Berufungen innerhalb gesetzter Frist per Einschreiben abgesandt worden seien.

3Das LSG hat durch Beschluss vom die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ua ausgeführt, beide Berufungsschreiben seien zwar formgerecht, aber nicht mehr innerhalb der Monatsfrist gemäß § 151 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingelegt worden. Die einmonatige Frist zur Einlegung der Berufung habe am Tag nach der laut PZU wirksamen Zustellung am zu laufen begonnen und die Frist damit am Dienstag, den geendet. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG komme nicht in Betracht. Es liege im Risiko und Verantwortungsbereich der Kläger als Rechtsmittelführer, fristwahrende Schreiben so rechtzeitig abzusenden, dass sie noch innerhalb laufender Fristen mit dem Eingang rechnen können.

4II. Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Beschluss des LSG ist zulässig, denn sie haben einen Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör nach Art 103 Abs 1 Grundgesetz (GG) und damit einen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Der gerügte Mangel liegt auch vor. Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 SGG macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

5Das LSG hat zu Unrecht durch Prozessurteil und nicht in der Sache entschieden. Darin liegt ein Verfahrensmangel (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), denn bei einem Prozessurteil handelt es sich im Vergleich zum Sachurteil um eine qualitativ andere Entscheidung (stRspr; vgl nur - RdNr 5 - 6; - RdNr 9; - RdNr 5, jeweils mwN).

6Die Behandlung der Berufung der Kläger als verfristet begründet einen Verfahrensmangel. Zwar hat die Frist des § 151 Abs 1 SGG mit Zustellung des SG-Urteils, die laut PZU am (einem Samstag) erfolgt ist, zu laufen begonnen (§ 64 Abs 1 SGG). Fristbeginn ist damit der und die Frist hat am Dienstag, den um 24.00 Uhr geendet (§ 64 Abs 2 Satz 1 iVm Abs 3 SGG). Der Eingang der Berufungsschrift am erfolgte damit nicht mehr innerhalb der Berufungsfrist, wovon auch das LSG ausgegangen ist.

7Die Kläger haben indes zutreffend einen Verstoß gegen § 67 SGG gerügt, auf dem der Beschluss des LSG beruhen kann. Das LSG hätte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern hätte Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist gewähren und sodann über die Berufung in der Sache entscheiden müssen. Nach § 67 Abs 1 SGG ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) liegt ein Verschulden grundsätzlich vor, wenn die von einem gewissenhaften Prozessführenden im prozessualen Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen worden ist ( - RdNr 4).

8Ein solcher Fall des Verschuldens liegt hier nicht vor. Ausweislich des frankierten aktenkundigen Einwurf-Einschreibens wurde die Berufungsschrift am (einem Freitag) adressiert und ausreichend frankiert an das LSG zur Post gegeben. Zwar ist entscheidend für die Wahrung der Frist der Eingang beim Rechtsmittelgericht, dennoch spricht für eine im Rahmen der Wiedereinsetzung zu beachtende Schuldlosigkeit der Wiedereinsetzung, wenn die Berufungsschrift so rechtzeitig abgesandt wurde, dass nach üblichen Postlaufzeiten zu erwarten war, dass sie noch innerhalb der Berufungsfrist bei dem Rechtsmittelgericht eingehen würde. Dies gilt nicht bei voraussehbarer Verzögerung wegen außergewöhnlicher Ereignisse, insbesondere wenn die Verzögerungsgefahren bekannt gemacht worden sind oder offenkundig waren und wenn die Beteiligten Kenntnis davon haben mussten, dass eine konkrete Gefahr von Verzögerungen bestand, wie dies zB bei längerfristigen Streiks der Fall ist ( - RdNr 6; vgl Bundesverfassungsgericht <BVerfG> vom - 2 BvR 106/93 - NJW 1995, 1210; Bundesgerichtshof <BGH> vom - VIII ZB 30/92 - NJW 1993, 1332, 1333; siehe dazu nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 67 RdNr 6c). Solche Umstände sind indes vorliegend nicht ersichtlich. Vielmehr durften die Kläger davon ausgehen, dass nach Aufgabe des Briefes bei der Deutschen Post AG am Freitag, den im Hinblick auf § 2 Nr 3 Satz 1 Post-Universaldienstleistungsverordnung (PUDLV) vom (BGBl I 2418) diese am folgenden Werktag (Samstag, den ), spätestens aber am folgenden Montag, den zugehen würde (vgl - RdNr 9).

9Die Entscheidung des LSG beruht auch auf diesem Verfahrensfehler. Wäre es nicht von einer Verfristung der Berufung ausgegangen, so hätte es den Rechtsstreit in der Sache entscheiden müssen. Insoweit gilt, dass eine für die Kläger günstigere Entscheidung vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BSG (vgl nur - BSGE 116, 86 = SozR 4-4200 § 21 Nr 18; daran anschließend - BSGE 117, 240 = SozR 4-4200 § 21 Nr 19; - vorgesehen in BSGE und SozR 4-4200 § 21 Nr 21) nicht ausgeschlossen erscheint.

10Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.                Bieresborn                Luik                Bieresborn

        für die an der Unterschrift

        gehinderte Vorsitzende

        Richterin am BSG Krauß

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2022:190522BB8SO5721B0

Fundstelle(n):
NJW 2022 S. 3384 Nr. 46
WAAAJ-18731