BFH Urteil v. - X R 24/99 BStBl 2002 II S. 244

Haushaltszugehörigkeit eines behinderten Kindes bei Heimunterbringung

Leitsatz

Ein behindertes Kind, das in einem Heim mit der Möglichkeit der Schulausbildung und der späteren Arbeit in einer Werkstatt für Behinderte untergebracht ist, lebt grundsätzlich weiterhin in der für die Annahme der Haushaltszugehörigkeit erforderlichen Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft mit seinen Eltern.

Gesetze: EStG §§ 34 f Abs. 3, 10 e Abs. 1

Instanzenzug: Niedersächsisches FG (EFG 1999, 336) (Verfahrensverlauf),

Tatbestand

I.

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) nahmen für das im Streitjahr 1993 fertig gestellte und eigenen Wohnzwecken dienende Einfamilienhaus die Grundförderung nach § 10 e Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in Anspruch. Sie beantragten außerdem die Steuerermäßigung nach § 34 f EStG für ihre 1983 geborene Tochter. Diese ist zu 100 % mit den Merkmalen G, aG, H und RF behindert und seit 1989 in einem Heim für geistig- und körperbehinderte Kinder und Jugendliche untergebracht.

Der dem Aufenthalt der Tochter zugrunde liegende Heimvertrag, auf den das Finanzgericht (FG) Bezug genommen hat, nennt in § 2 als Leistungen des Heimes die schulische Bildungsmöglichkeit durch den Besuch der Sonderschule G und nach der Schulentlassung die Aufnahme in eine Behindertenwerkstatt. Der Heimvertrag endet mit Vollendung des 24. Lebensjahres der Tochter und bestimmt, dass der gesetzliche Vertreter zwischen dem 20. und dem 24. Lebensjahr für eine anderweitige, erwachsenengerechte Unterbringung des Heimbewohners sorgen muss. Die Kündigungsfrist beträgt für den Heimbewohner einen Monat jeweils zum Monatsende. Im Fall eines ,,Entlassungsversuchs'', der vom Heim befürwortet wird, ist das Heim verpflichtet, innerhalb einer Frist von einem Jahr den Heimbewohner wieder aufzunehmen.

Die Tochter verbrachte im Streitjahr folgende Zeiten zusammen mit ihren Eltern außerhalb des Heims: 1. bis 10. Januar, 24. Februar bis 6. März, 4. bis 11. April, 1. bis 7. Mai, 25. Juni bis 4. Juli, 22. August bis 5. September, 29. Oktober bis 7. November, 26. bis 31. Dezember. Während dieser Zeiten hielt sich die Tochter der Kläger zweimal besuchsweise bei ihren Großeltern auf. Nach einer Bestätigung des Heimes war die Tochter in den Jahren 1994 bis 1996 jeweils sechsmal zu ihren Eltern nach Hause gefahren.

In dem nach § 10 e EStG begünstigten Objekt stand der Tochter ein eigener Wohnbereich (Kinderzimmer/Bad) zur Verfügung.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) versagte die Steuerermäßigung nach § 34 f EStG, weil er die Haushaltszugehörigkeit der Tochter verneinte.

Das FG gab in dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 336 veröffentlichten Urteil der Klage statt.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung des § 34 f EStG. Es bringt zur Begründung vor:

Die Unterbringung zur dauernden Pflege in einem Pflegeheim, die im Streitfall nach dem Heimvertrag bis zur Vollendung des 24. Lebensjahres vorgesehen sei, stelle nach herrschender Meinung keinen nur vorübergehenden Aufenthalt außerhalb der Wohnung des Steuerpflichtigen dar. Nur ein tatsächlicher ,,Entlassungsversuch'' hätte eine auf Dauer angelegte Aufnahme in den Haushalt der Kläger begründen können, nicht dagegen die Zeit, die das Kind gemeinsam mit den Eltern verbracht habe, und das auf die speziellen Bedürfnisse dieses Kindes ausgerichtete Kinderzimmer. Anderenfalls müssten auch die besuchsweisen Aufenthalte unterhaltsberechtigter Kinder bei dem unterhaltsverpflichteten Elternteil im Fall getrennt lebender oder geschiedener Eltern zur Gewährung der Steuervergünstigung des § 34 f EStG führen. Mit einem ,,Entlassungsversuch'' werde die Integration in den Familienhaushalt beabsichtigt, während es sich bei den besuchsweisen Aufenthalten bei den Eltern lediglich um kurze Unterbrechungen des ansonsten weiterhin beabsichtigten Heimaufenthalts handele.

Das FA beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Gründe

II.

Die Revision ist unbegründet.

Zu Recht hat das FG die Voraussetzungen für die Gewährung von Baukindergeld nach § 34 f Abs. 3 EStG bejaht.

1. Nach § 34 f Abs. 3 Sätze 1 und 2 EStG i. d. F. des Steueränderungsgesetzes (StÄndG) 1992 vom (BGBl. I 1992, 297, BStBl I 1992, 146) setzt die Steuerermäßigung für Steuerpflichtige mit Kindern voraus, dass

- sie die Steuerbegünstigungen für eigengenutztes Wohneigentum nach § 10 e Abs. 1, 2, 4 und 5 EStG in Anspruch nehmen und

- die Kinder zum Haushalt des Steuerpflichtigen gehören oder in dem für die Steuerbegünstigung maßgebenden Zeitraum gehört haben, wenn diese Haushaltszugehörigkeit auf Dauer angelegt ist oder war.

2. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben. Die Kläger haben die Vergünstigung des § 10 e EStG i. S. des § 34 f Abs. 3 EStG ,,in Anspruch genommen''. Das behinderte Kind gehört zu ihrem Haushalt.

a) Mit dem Begriff der Haushaltszugehörigkeit ist ein komplexer Sachverhalt umschrieben, den Merkmale verschiedener Art prägen und der z. B. in § 4 Abs. 2 Satz 1 des Wohngeldgesetzes (WoGG) und § 18 Abs. 1 des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung in der ab geltenden Fassung (BGBl. I 2001, 2376) als Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft bezeichnet wird. Danach entsteht Haushaltszugehörigkeit aus dem Zusammenwirken örtlicher Gegebenheiten sowie materieller und immaterieller Faktoren. So verlangt Haushaltszugehörigkeit eine Familienwohnung, die vom Steuerpflichtigen und der Person, die zu seinem Haushalt gehört, genutzt wird. Haushaltszugehörigkeit erfordert ferner, dass der Steuerpflichtige Verantwortung für das materielle Wohl des Haushaltsangehörigen trägt und dass zwischen den Personen familiäre Bindungen bestehen und unterhalten werden, was sich auch in der Fürsorge für den Haushaltsangehörigen niederschlägt (vgl. , SozR 3-5870, § 2 BKGG Nr. 22; Deutsches Steuerrecht - DStR - 1994, 627).

Diese im Sozialrecht verwendete Begriffsbestimmung wird der Entwicklung junger Menschen zu mehr persönlicher Entfaltung und Selbständigkeit sowie ihrer erhöhten Mobilität bei gleichzeitig unveränderter bzw. sogar gesteigerter finanzieller Abhängigkeit besser gerecht als das Abstellen auf eine einheitliche Wirtschaftsführung unter Leitung des Steuerpflichtigen (vgl. hierzu , BFHE 157, 80, BStBl II 1989, 776; vom X R 11/97, BFHE 188, 330, BStBl II 1999, 594, m. w. N.; vom X R 19/96, BFHE 193, 349, BStBl II 2001, 383; R 213 a Abs. 3 Satz 1 der Einkommensteuer-Richtlinien - EStR - 1999; Clausen in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 34 f EStG Rz. 44; Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, § 34 f Rz. 15; Blümich/Erhard, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, § 34 f EStG Rz. 87; Stuhrmann in Bordewin/Brandt, Einkommensteuergesetz, § 34 f Rz. 35), zumal die Frage der Leitung der Wirtschaftsführung selbst bei massivem Eindringen in die persönlichen Verhältnisse einer Familie nur schwer zu beantworten ist (so zutreffend , BFHE 145, 551, BStBl II 1986, 344).

b) Die Kläger verfügen über eine Familienwohnung. Sie nutzen sie gemeinsam mit ihrem behinderten Kind, dem ein auf seine besonderen Bedürfnisse ausgerichtetes Zimmer mit WC zur Verfügung steht, das von ihm auch im ausreichenden Maß tatsächlich bewohnt wird.

Die Aufenthalte des Kindes in der Wohnung der Kläger stellen keine bloßen Besuche dar. Anders wäre es nur dann, wenn das Kind außerhalb der gemeinsamen Familienwohnung in einem anderen entweder fremden oder eigenen Haushalt so leben würde, dass es dort und nicht mehr im elterlichen Haushalt den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen begründet hätte (vgl. , BFH/NV 2000, 16; vom X R 37/94, BFHE 176, 431, BStBl II 1995, 378, und vom X R 121/94, BFH/NV 1998, 159).

c) Gegen die Begründung des Mittelpunktes der Lebensinteressen des Kindes außerhalb der elterlichen Familienwohnung sprechen die fortwirkende Verantwortung der Kläger für das materielle Wohl ihres Kindes und das Maß der Fürsorge, die sie ihrem Kind ungeachtet seiner auswärtigen Unterbringung zuwenden.

aa) Ihre Verantwortung für das materielle Wohl ihres Kindes und die Zuwendung an Fürsorge zeigen sich darin, dass die Kläger ihr Kind zu wiederholten Malen zumeist mindestens eine Woche lang zu sich nach Hause holen, ihm so das Wohnen in der Familienwohnung ermöglichen und gemeinsame Zeit verbringen. Die Anzahl der Aufenthalte und ihre Dauer ermöglichen es dem Kind, seine Zugehörigkeit zum Haushalt seiner Eltern und zur eigenen Familie real zu erleben. Dagegen sprechen nicht die Besuchsfahrten und Aufenthalte bei den Großeltern. Sie unterstreichen im Gegenteil die Bindungen des Kindes an seine Verwandten und die Zugehörigkeit zu seiner Familie.

bb) Berücksichtigt werden muss schließlich, dass die Tochter der Kläger bis zum Beginn der Schulpflicht im Haushalt ihrer Eltern lebte, von wo aus sie einen ihren besonderen Bedürfnissen gerecht werdenden Kindergarten aufsuchen konnte. Erst mit der Schulpflicht und dem dadurch veränderten Förderungsbedarf und veränderten Förderungsmöglichkeiten suchten die Kläger für ihre Tochter eine Einrichtung, die eine umfassendere Betreuung des behinderten Kindes ermöglichte und mit der eine auswärtige Unterbringung verbunden war.

d) Damit ist der Sachverhalt dem Fall vergleichbar, dass ein Kind sich mit Einwilligung der Eltern zum Zwecke der Schulausbildung in einem Internat befindet. In beiden Fällen wird das Kind weder in einen anderen Haushalt aufgenommen, noch begründet es eine eigene Haushaltsführung. Die Eltern sind weiter für das materielle Wohl ihres Kindes verantwortlich, sie üben die Fürsorge für das Kind aus und es bestehen zwischen ihnen und dem Kind familiäre Bindungen.

Entsprechendes gilt bei einer auswärtigen Unterbringung, wenn das Kind während seines Studiums am Studienort untergebracht ist, ihm aber im Elternhaus noch ein Zimmer zur Verfügung steht, in das es z. B. an den Wochenenden und in den Semesterferien regelmäßig zurückkehrt (vgl. Beschluss des Senats vom X B 107/97, BFH/NV 1999, 39) oder im Fall des Wehrdienstes, des Ersatzdienstes oder der Berufsausbildung (vgl. Stephan in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, § 34 f EStG Rz. 36; Blümich/Erhard, a. a. O., § 34 f EStG Rz. 87).

e) Allein diese Betrachtung wird der besonderen Situation von Steuerpflichtigen mit einem behinderten Kind gerecht. Sie ist durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) geboten, damit insbesondere Steuerpflichtige mit behinderten Kindern, die ihre Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft behindertengerecht organisieren müssen, nicht allein aus diesem Grunde von staatlichen Leistungen ausgeschlossen werden. Das Bestreben der Eltern eines solchen Kindes ist im Allgemeinen darauf gerichtet, ihr Kind soweit wie möglich zu fördern - dies bedingt in sehr vielen Fällen die Notwendigkeit auswärtiger Unterbringung - und gleichzeitig die Verbindung zu ihrem Kind so intensiv zu gestalten, dass sich das Kind trotz der auswärtigen Heimunterbringung unverändert zu einer privaten Familie gehörig wissen und fühlen kann. Auf diese Weise können die Eltern am besten die Voraussetzungen dafür schaffen, dass ihr behindertes Kind einen Heimaufenthalt durch Rückkehr in die Familie beenden kann, bzw. Vorsorge für den Fall treffen, dass ein Heimaufenthalt aus nicht vorhersehbaren Gründen abgebrochen werden muss.

3. Haben die Steuerpflichtigen - wie im Streitfall - die Wohnverhältnisse in ihrem nach § 10 e EStG geförderten Haus so gestaltet, dass die speziellen Bedürfnisse des behinderten Kindes berücksichtigt sind, so trägt die Gewährung des Baukindergeldes seinem Ziel Rechnung, zur Finanzierung des durch Kinder erhöhten Wohnbedarfs beizutragen und damit die Bildung von Wohneigentum gerade von Familien zu fördern (vgl. Urteil des Senats vom X R 9/91, BFHE 166, 85, BStBl II 1992, 241).

4. Aus der auf die speziellen Bedürfnisse ihrer behinderten Tochter abgestellten Gestaltung der Wohnverhältnisse ist zu folgern, dass die Haushaltszugehörigkeit des Kindes auf Dauer angelegt war. Infolgedessen steht der Gewährung des Baukindergeldes weder im Streitjahr noch in den folgenden Jahren der Umstand entgegen, dass die Dauer der Aufenthalte in den späteren Jahren zurückgegangen ist, wobei es sich immer noch um jährlich sechs Aufenthalte handelte.

5. Diesem Auslegungsergebnis kann mit Erfolg nicht die in der Literatur vertretene Ansicht entgegengehalten werden, wonach die Zugehörigkeit eines behinderten Kindes zum Haushalt der Eltern dann zu verneinen ist, wenn das behinderte Kind dauernd in einem Pflegeheim untergebracht ist (so Blümich/Erhard, a. a. O.; Kleeberg in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, Einkommensteuergesetz, § 34 f Rz. C 8; Schmidt/Drenseck, a. a. O.; Dankmeyer/Giloy, Einkommensteuer, § 34 f EStG Rz. 30, und Wacker, Eigenheimzulagengesetz, 3. Aufl., § 9 Rz. 155; a. A. Clausen in Herrmann/Heuer/Raupach, a. a. O.; Jachmann in Kirchhof, Einkommensteuergesetz, § 34 f Rn. 9). Dieser Auffassung könnte allenfalls zugestimmt werden, wenn das behinderte Kind in einem Pflegeheim zur dauernden Pflege ohne die Aussicht, jemals das Heim verlassen zu können, untergebracht ist, seine Eltern ihm keinerlei persönliche Fürsorge mehr zuwenden und es infolgedessen an Aufenthalten in der Wohnung der Eltern fehlt.

Fundstelle(n):
BStBl 2002 II Seite 244
BB 2002 S. 345 Nr. 7
BFH/NV 2002 S. 429 Nr. 3
BFHE S. 296 Nr. 197
BStBl II 2002 S. 244 Nr. 7
DStRE 2002 S. 219 Nr. 4
FR 2002 S. 353 Nr. 6
KÖSDI 2002 S. 13201 Nr. 3
HAAAA-89172