NWB Nr. 23 vom Seite 1593

Billigkeitserlass im Kontext von Aktienveräußerungsverlusten?

Prof. Dr. Jürgen Mertes | StB/WP | Geschäftsführer der GKM GmbH Steuerberatungsgesellschaft in Bonn und Professor für externe Rechnungslegung und Steuerrecht an der Hochschule Koblenz

Entscheidungen des

Nachdem der VIII. Senat des (BStBl 2021 II S. 562) dem BVerfG die Frage nach der Vereinbarkeit der Verlustverrechnungsbeschränkung des § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG mit dem Grundgesetz vorgelegt hatte (Az. beim BVerfG: 2 BvL 3/21), musste sich vor Kurzem das FG Baden-Württemberg auch mit einer möglichen Verfassungswidrigkeit der vor Inkrafttreten des UntStRefG 2008 für Aktienveräußerungsverluste geltenden Verlustverrechnungsbeschränkung in § 23 Abs. 3 Satz 8 EStG befassen (Urteil v.  - ). Trotz des aktuellen Vorlagebeschlusses des BFH zu § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG verneinte das Finanzgericht einen Verfassungsverstoß. Anders als § 20 Abs. 6 Satz 4 EStG, der innerhalb der Kapitaleinkünfte einen besonderen Verlustkreislauf für Aktienveräußerungsverluste regele, sei in § 23 Abs. 3 Satz 8 EStG 2008 ein Verrechnungsverbot der Aktienveräußerungsverluste mit anderen Einkunftsarten vorgesehen gewesen, welches der BFH in seinem Vorlagebeschluss jedoch gerade nicht beanstandet habe.

Unabhängig von der Frage der Verfassungswidrigkeit der Verrechnungsbeschränkungen für Aktienveräußerungsverluste nach altem oder neuem Recht könnte für die Praxis aber auch die am gleichen Tag ergangene Entscheidung des FG Baden-Württemberg zu der parallel vom Kläger erhobenen Untätigkeitsklage von Interesse sein (Az. ). Der Kläger hatte beim Finanzamt erfolglos eine abweichende Festsetzung der Einkommensteuer aus Billigkeitsgründen nach § 163 Abs. 1 AO beantragt. Das Finanzgericht monierte in Bezug auf das Streitjahr 2007, dass das Finanzamt „einen möglichen Verstoß gegen das subjektive Nettoprinzip bzw. gegen das Übermaßverbot“ nicht in seine Ermessenserwägungen einbezogen habe. Denn der Kläger habe die festgesetzte Einkommensteuer nicht aus seinen laufenden Einkünften begleichen können. Der festgesetzten Einkommensteuer in Höhe von rd. 900.000 € standen nämlich unter Berücksichtigung der tatsächlich erlittenen, steuerlich aber unberücksichtigt gebliebenen Aktienveräußerungsverluste lediglich Einkünfte in Höhe von rd. 500.000 € gegenüber.

Diese Entscheidung könnte insbesondere Steuerpflichtige mit hohen nicht verrechenbaren Aktienveräußerungsverlusten dazu veranlassen, eine Liquiditätsberechnung durchzuführen und bei negativem Saldo eine Billigkeitsfestsetzung (§ 163 AO) oder einen Billigkeitserlass (§ 227 AO) zu beantragen. Ein solcher Antrag wird aber wohl in nur sehr wenigen Fällen Erfolg haben. Denn ein negativer Liquiditätssaldo kann per se keine sachliche Unbilligkeit begründen. Vielmehr muss es sich um einen aytpischen Einzelfall handeln, bei dem gerade das Zusammenwirken verschiedener Regelungen zu einer Einkommensteuerschuld führt, der in Wirklichkeit keinerlei Zuwachs an Leistungsfähigkeit gegenübersteht. In dem vom FG Baden-Württemberg entschiedenen Fall standen die aus den Aktiengeschäften erlittenen Verluste in engem Zusammenhang mit der Ausgabe von Call-Optionen und den hierfür vereinnahmten Stillhalterprämien. Ohne einen solchen oder ähnlichen Zusammenhang dürften wohl nur Fälle sog. Definitivverluste eine sachliche Unbilligkeit wegen Verstoßes gegen das Leistungsfähigkeitsprinzip rechtfertigen.

Jürgen Mertes

Fundstelle(n):
NWB 2022 Seite 1593
NWB EAAAI-63024