BSG Urteil v. - B 1 KR 35/20 R

Instanzenzug: Az: S 13 KR 3667/13 Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 11 KR 717/18 ZVW Urteil

Tatbestand

1Die Beteiligten streiten über die Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung.

2Die Klägerin ist Trägerin eines nach § 108 SGB V zugelassenen Krankenhauses. Sie behandelte einen bei der beklagten Krankenkasse Versicherten vollstationär vom 19.1. bis wegen eines generalisierten epileptischen Anfalls mit Verdacht auf Aspirationspneumonie und Tachypnoe. In der Zeit vom 27.1. (23:10 Uhr) bis 1.2. (15:00 Uhr) wurde er bei klinischem Bild einer Sepsis mit Tachypnoe und peripherem Kreislaufversagen intensivmedizinisch versorgt und zur Stabilisierung der Atmungs- und Kreislaufsituation über das Maskensystem Evita 4 intermittierend nicht invasiv beatmet (NIV-Beatmung). Das Maskensystem unterstützte die Atmung des Versicherten kalendertäglich jeweils mehr als sechs Stunden. Die reine Beatmungszeit betrug 77 Stunden. In den Spontanatmungsphasen kam Sauerstoffinsufflation zum Einsatz. Die Klägerin berechnete die Fallpauschale (Diagnosis Related Group 2011 <DRG>) A13G (Beatmung > 95 und < 250 Stunden ohne komplexe oder bestimmte OR-Prozedur, ohne intensivmedizinische Komplexbehandlung > 552 Punkte, ohne kompliz. Konstellation, Alter > 15 Jahre, oder verstorben oder verlegt < 9 Tage, ohne kompl. Diagnose, ohne kompl. Prozedur) und erhielt hierfür 10 685,48 Euro. Die Beklagte forderte später vergeblich 6174,49 Euro auf der Grundlage mehrerer Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zurück. Abzurechnen sei die geringer vergütete DRG B76C (Anfälle, mehr als ein Belegungstag, ohne komplexe Diagnostik und Therapie, mit schw. CC, Alter < 3 Jahre oder mit komplexer Diagnose oder mit äußerst schw. CC, Alter > 15 Jahre oder ohne äußerst schw. oder schw. CC, mit EEG, mit kompl. Diagnose). Die Beklagte kürzte in dieser Höhe unstreitige Rechnungsbeträge für die Vergütung der Behandlung anderer Versicherter. Das SG hat die Beklagte - ua nach Einholung eines anästhesiologischen Gutachtens - verurteilt, der Klägerin 6174,49 Euro nebst Zinsen zu zahlen (Urteil vom ). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Die beatmungsfreien Intervalle seien zur Beatmungszeit hinzuzurechnen, die damit über 95 Stunden betrage. Dies folge aus einer strengen Wortlautauslegung der Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) für 2011: Die Beatmung ende nach einer Periode der Entwöhnung. Das Ende der Entwöhnung könne nur retrospektiv nach Eintreten einer stabilen respiratorischen Situation festgestellt werden; als Zeitraum einer vollständigen Spontanatmung ohne maschinelle Unterstützung würden für Patienten, die (inklusive Entwöhnung) bis zu sieben Tage beatmet würden, 24 Stunden definiert. Weitere Anforderungen, etwa, dass eine Entwöhnung die vorherige Gewöhnung an das Atemgerät voraussetze, könnten den DKR nicht entnommen werden (Urteil vom ).

3Der erkennende Senat hat das LSG-Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen: Die für die Kodierung von Spontanatmungsstunden als Beatmungsstunden erforderliche Entwöhnung setze eine vorherige Gewöhnung des Patienten an die maschinelle Beatmung und den Einsatz einer Methode der Entwöhnung voraus. Hierzu habe das LSG noch weitere Feststellungen zu treffen (Urteil vom - B 1 KR 18/17 R - SozR 4-5562 § 9 Nr 8). Das LSG hat im wiedereröffneten Berufungsverfahren nach Einholung eines Sachverständigengutachtens bei Prof. Dr. B., Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik V, Klinikum der L-M-Universität M. und Vorlage weiterer Gutachten durch die Beteiligten das SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen: Nach der BSG-Rechtsprechung sei der Begriff der Entwöhnung im Sinne der DKR 1001h enger zu verstehen als der in der medizinischen Fachsprache anzutreffende Begriff des sog Weaning. Er setze einschränkend voraus, dass die eigene Spontanatmung des Patienten nicht alleine aufgrund der behandelten Erkrankung beeinträchtigt, sondern gerade auch durch eine Adaption des Patienten an das Beatmungsgerät eingeschränkt werde, etwa weil die Atemmuskulatur infolge der maschinellen Beatmung an Leistungskraft verloren habe, Lungengewebe durch den Beatmungsdruck zerstört oder die Atemregulation gestört worden sei. Denkbar sei ebenfalls, dass sich ein von Geburt an beatmeter Säugling an die maschinelle Beatmung gewöhnt habe, weil er bislang zu keinem Zeitpunkt spontan geatmet habe. Unter Beachtung dieser Vorgaben lasse sich eine "Gewöhnung" des Versicherten an die Beatmung in dem dargestellten Sinn nicht feststellen. Der Senat folge dem Gutachten von Prof. Dr. B. insoweit nicht, denn dieser begründe die von ihm ab dem - 23:20 Uhr angenommene Gewöhnung des Versicherten an die maschinelle Beatmung mit der durch den Beginn der maschinellen Beatmung belegten Abhängigkeit vom Respirator. Lasse sich eine Gewöhnung nicht feststellen, liege nach der BSG-Rechtsprechung keine Entwöhnung vor und die beatmungsfreien Intervalle könnten zur Gesamtdauer der Beatmungszeit nicht hinzugerechnet werden. Insoweit komme es auch nicht mehr entscheidend darauf an, dass vorliegend anhand der Aufzeichnungen in der Patientenakte nicht feststellbar sei, ob der Versicherte zielgerichtet mit einer Methode der Entwöhnung behandelt worden sei. Auch die fehlende Dokumentation einer zielgerichteten Entwöhnung, für die das Krankenhaus die Beweislast trage, stehe der Hinzurechnung der beatmungsfreien Intervalle zur Gesamtbeatmungszeit entgegen (Urteil vom ).

4Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 109 Abs 4 Satz 3 SGB V iVm § 17b des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, § 1 Abs 1, § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 1, § 9 Abs 1 Nr 1 und 3 des Krankenhausentgeltgesetzes und den Regelungen der DKR zur Berechnung der Beatmungsdauer: Das LSG habe den Begriff der Entwöhnung im Sinne der DKR unzutreffend und abweichend von der Rechtsprechung des erkennenden Senats angewandt.

7Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Gründe

8Die zulässige Revision des klagenden Krankenhauses ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG hat den Vergütungsanspruch des Krankenhauses verneint, da weder die für die Kodierung der abgerechneten Beatmungsstunden erforderliche Gewöhnung des Versicherten an die maschinelle Beatmung, noch der Einsatz einer Methode der Entwöhnung habe nachgewiesen werden können. Es ist hierbei davon ausgegangen, der Begriff der Entwöhnung iS der DKR 1001h setze nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats über den medizinischen Sprachgebrauch in Bezug auf das sog Weaning hinaus einschränkend voraus, dass die eigene Spontanatmung des Patienten nicht alleine aufgrund der behandelten Erkrankung beeinträchtigt, sondern gerade auch durch eine Adaption des Patienten an das Beatmungsgerät eingeschränkt worden sei, etwa weil die Atemmuskulatur infolge der maschinellen Beatmung an Leistungskraft verloren habe, Lungengewebe durch den Beatmungsdruck zerstört oder die Atemregulation gestört worden sei. Es ist weiter davon ausgegangen, dass auch die fehlende Dokumentation einer zielgerichteten Entwöhnung der Hinzurechnung der beatmungsfreien Intervalle zur Gesamtbeatmungszeit entgegenstehe.

101. Vor dem Hintergrund der an dem Begriff der "Gewöhnung" geübten Kritik hat der erkennende Senat zwischenzeitlich - nach der angefochtenen Entscheidung des LSG - klargestellt, dass die "Gewöhnung an die maschinelle Beatmung" als Voraussetzung für eine Entwöhnung vom Beatmungsgerät im Sinne der DKR 1001h lediglich "die erhebliche Einschränkung oder den Verlust der Fähigkeit erfordert, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können" (vgl - juris RdNr 19; vgl auch schon - SozR 4-5562 § 9 Nr 8 RdNr 16). Hierfür genügt weder, dass die Beatmung als solche medizinisch notwendig ist, noch sind weitere Voraussetzungen zu erfüllen, etwa eine Adaption des Patienten an den Respirator oder eine beatmungsbedingte Schwächung der Atemmuskulatur (vgl hierzu im Einzelnen aaO, RdNr 17 ff mwN).

11Das LSG muss daher im wiedereröffneten Berufungsverfahren feststellen, ob und ggf wann eine Gewöhnung (iS von Abhängigkeit) an den Respirator nach diesen Grundsätzen eingetreten ist und wie lange sie ggf angedauert hat. Hierzu genügt nicht die Feststellung, dass die Beatmung medizinisch notwendig war. Vielmehr ist die Feststellung erforderlich, dass der Patient während der Spontanatmungsphasen in seiner Fähigkeit eingeschränkt war, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können. Es richtet sich nach den medizinischen Umständen des Einzelfalls, ob eine stabile respiratorische Situation vorlag, oder eine Entwöhnung von maschineller Beatmung pulmologisch erforderlich war.

122. Weitere Voraussetzung der DKR 1001h neben der Gewöhnung in dem vorbeschriebenen Sinne ist die Anwendung einer Methode der Entwöhnung, dh ein methodisch geleitetes Vorgehen zur Beseitigung der Abhängigkeit von der maschinellen Beatmung. Es genügt hierfür nicht, dass ein Patient aus anderen Gründen - etwa wegen einer noch nicht hinreichend antibiotisch beherrschten Sepsis - nach Intervallen mit Spontanatmung wieder maschinelle nicht-invasive Beatmung erhält. Auch insoweit fehlen ausreichende Feststellungen des LSG. Es hat vielmehr lediglich festgestellt, dass eine zielgerichtete Entwöhnung des Versicherten nicht dokumentiert sei. Indes ist die den Tatsachengerichten obliegende Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) in Krankenhausvergütungsstreitigkeiten nicht auf die Auswertung der Patientendokumentation beschränkt. Insofern ist zur Feststellung, dass tatsächlich eine Methode der Entwöhnung angewandt wurde, zwar zunächst auf die Dokumentation des Krankenhauses zurückzugreifen (vgl zur sozialrechtlichen Dokumentationspflicht - SozR 4-2500 § 109 Nr 77 RdNr 16 ff mwN; zur Amtsermittlungspflicht vgl - SozR 4-7645 Art 9 Nr 1 RdNr 22; zur Vereinbarkeit der gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung mit den datenschutzrechtlichen Vorgaben vgl - BSGE 125, 91 = SozR 4-1500 § 120 Nr 3, RdNr 15 ff). Ihr Beweiswert ist hierbei jeweils im Einzelfall tatrichterlich zu bewerten, ggf unter Heranziehung sachverständiger Hilfe oder Rückgriff auf bereits vorliegende Sachverständigengutachten. Verbleiben danach aber Zweifel an Rechtserheblichem, muss das Gericht den Sachverhalt ergänzend aufklären, etwa durch Vernehmung der behandelnden Ärzte und der behandelten Versicherten (vgl - SozR 4-2500 § 109 Nr 77 RdNr 19). Lässt sich nach Ausschöpfen der gebotenen Aufklärung nicht feststellen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der abgerechneten Fallpauschale erfüllt gewesen sind, trägt das Krankenhaus die objektive Beweislast für das Vorliegen dieser tatbestandlichen Voraussetzungen (vgl dazu zB - BSGE 117, 82 = SozR 4-2500 § 109 Nr 40, RdNr 17 f).

13Das LSG muss daher unter Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Beweismittel weiter feststellen, ob das Krankenhaus eine Methode der Entwöhnung tatsächlich eingesetzt hat und die kodierten Spontanatmungsstunden in die Periode der Entwöhnung im dargelegten Sinn fielen.

143. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

154. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 GKG.                 Schlegel                 Bockholdt                 Scholz

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2022:100322UB1KR3520R0

Fundstelle(n):
PAAAI-62968