BGH Beschluss v. - 2 StR 362/21

Erneute Anordnung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Fehlerhafte Anordnung eines teilweisen Vorwegvollzugs einer zeitigen Freiheitsstrafe; Prognose der Therapiedauer

Gesetze: § 64 StGB, § 67 Abs 1 StGB, § 67 Abs 2 S 2 StGB, § 67 Abs 3 StGB, § 67f StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Instanzenzug: LG Marburg Az: 3 Ks 4 Js 13261/20

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Brandstiftung und mit versuchter Brandstiftung mit Todesfolge sowie wegen unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln an eine Person unter 18 Jahren als Person über 21 Jahre in Tateinheit mit Bestimmen einer Person unter 18 Jahren zur Förderung des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln als Person über 21 Jahre und mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zu neun Jahren und sechs Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Es hat ferner die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) angeordnet und bestimmt, dass ein Jahr und neun Monate der Strafe vor der Maßregel zu vollstrecken sind. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

21. Die auf die Sachrüge gebotene umfassende Nachprüfung des angefochtenen Urteils hat zum Schuld- und zum Strafausspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Auch die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hält rechtlicher Nachprüfung stand.

32. Indes kann der Ausspruch über die Anordnung des Vorwegvollzugs keinen Bestand haben.

4a) Das Landgericht hat zu deren Begründung ausgeführt, durch den Vollzug eines Teils der Gesamtfreiheitsstrafe vor der Maßregel sei deren Zweck leichter zu erreichen. Zu dem gemäß § 67 Abs. 2 Satz 3 StGB zu bemessenden Teil der Freiheitsstrafe hat sich das Landgericht ebenfalls dem Sachverständigen angeschlossen: Mit Blick auf die lange Konsumdauer des Angeklagten und mögliche Sprachbarrieren sei eine Therapiedauer zwischen zwei und vier Jahren erforderlich. Die Strafkammer nehme eine voraussichtlich notwendige Behandlungsdauer von drei Jahren an, da der Angeklagte in dem aus einer vorangehenden Verurteilung bereits laufenden Maßregelvollzug nach eigenen Angaben bereits viel gelernt habe, was den Schluss zulasse, dass keine durchgreifenden Sprachschwierigkeiten bestehen.

5b) Diese Ausführungen stoßen in mehrfacher Hinsicht auf durchgreifende rechtliche Bedenken.

6(1) Nach § 67 Abs. 2 Satz 1 StGB bestimmt das Gericht die Vorwegvollziehung der Strafe oder eines Teils der Strafe, wenn der Zweck der Maßregel dadurch leichter erreicht wird. Ob diese Voraussetzung gegeben ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls (vgl. , NStZ-RR 2019, 208, 209 mwN). Vorliegend hätte die Strafkammer mit Rücksicht auf die ausweislich der Urteilsgründe positiv verlaufende Unterbringung des Angeklagten nach § 64 StGB in anderer Sache prüfen müssen, ob ausnahmsweise von der Sollvorschrift des § 67 Abs. 2 Satz 2 StGB abzuweichen und von der Anordnung des Vorwegvollzugs abzusehen war. Denn die nunmehr erneut angeordnete Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hätte nach § 67f StGB im Fall ihrer Rechtskraft die Erledigung der bereits vollzogenen Unterbringung zur Folge. Die in deren Rahmen erfolgversprechend begonnene Therapie könnte gemäß § 67 Abs. 1 StGB dann nur fortgesetzt werden, wenn sie nicht zum Zwecke eines Vorwegvollzugs unterbrochen wird. In einem solchen Fall kann von der Entscheidung über den Vorwegvollzug abgesehen werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 170/20, NStZ-RR 2020, 209; vom - 3 StR 243/18, NStZ-RR 2019, 208, 209). Die Gründe des angefochtenen Urteils lassen nicht erkennen, dass die Strafkammer dies bedacht hat.

7(2) Ferner ist die vom Landgericht vorgenommene Bestimmung der Dauer des Vorwegvollzugs der Maßregel nicht nachvollziehbar und daher rechtsfehlerhaft. Zwar hat die Strafkammer zutreffend erkannt, dass sich die Anordnung des Vorwegvollzugs eines Teils der Strafe nach § 67 Abs. 2 Sätze 2 und 3 StGB richtet (vgl. , NJW 2020, 1826, 1827) und dass - hiervon ausgehend - eine Prognose darüber zu treffen ist, wie lange die Unterbringung in der Maßregel voraussichtlich erforderlich sein wird (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 448/10; vom - 1 StR 478/08, NStZ 2009, 87, 88). Auch hat sie rechtsfehlerfrei aufgrund eigener Beobachtung in der Hauptverhandlung festgestellt, dass keine einen Therapieerfolg hindernden Sprachschwierigkeiten beim Angeklagten bestehen (zu den erforderlichen Sprachkenntnissen vgl. Senat, Beschluss vom - 2 StR 91/21, NStZ-RR 2022, 10, 11). Indes vermag weder dieser Gesichtspunkt noch der weitere Hinweis der Strafkammer auf die erfahrungsgemäß gegen Ende der Therapie erfolgenden Lockerungen tragfähig zu begründen, warum innerhalb der vom Sachverständigen für erforderlich gehaltenen Therapiedauer zwischen zwei und vier Jahren eine solche von drei Jahren anzusetzen ist; ebenso wenig liefert der floskelhafte Hinweis auf die „Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls“ hierfür eine nachvollziehbare Begründung. Damit genügt das Urteil nicht den Begründungsanforderungen, die zu stellen sind, wenn das Tatgericht für eine Frage, für deren Beantwortung es sachverständige Hilfe in Anspruch genommen hat, in Abweichung zum Gutachten beantworten will (vgl. Rn. 9 mwN; Senat, Beschluss vom - 2 StR 284/19 Rn. 19). Das Landgericht hat auch nicht erkennbar bedacht, dass in Fällen, in denen für die zu prognostizierende Therapiedauer im Ergebnis unterschiedliche Zeiträume in Betracht kommen, es ungeachtet der Möglichkeit späterer Entscheidungen nach § 67 Abs. 3 StGB nach dem Zweifelssatz geboten ist, die für den Angeklagten im Urteilszeitpunkt konkret günstigere Möglichkeit zu wählen ( Rn. 2).

83. Über die Anordnung eines Vorwegvollzugs ist daher erneut zu entscheiden. Dem Senat ist es verwehrt, in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO selbst darüber zu befinden, weil die Entscheidung Wertungen und Beurteilungen erfordert, die dem Tatgericht vorbehalten sind.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:081221B2STR362.21.0

Fundstelle(n):
WAAAI-61505