Unzulässiges Teilurteil - Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht - Eingruppierung einer Retail Operative - Berücksichtigung von Tätigkeitsjahren bei anderen Arbeitgebern bei der tariflichen Einstufung im Einzelhandel Nordrhein-Westfalen
Gesetze: § 301 ZPO, § 318 ZPO, § 538 ZPO, § 557 ZPO, § 1 TVG
Instanzenzug: ArbG Bielefeld Az: 1 Ca 1071/20 Teilurteilvorgehend Landesarbeitsgericht Hamm (Westfalen) Az: 18 Sa 1097/20 Urteil
Tatbestand
1Die Parteien streiten über die zutreffende Eingliederung der Klägerin in die Beschäftigungsgruppen des Gehaltstarifvertrags für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen.
2Die Beklagte, ein Unternehmen des Einzelhandels, vertreibt vor allem Mode- und Kosmetikartikel. Sie schloss am mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft - ver.di (ver.di) einen Anerkennungs- und Übergangstarifvertrag (AÜTV), nach dessen § 2 Nr. 1 bei der Beklagten ab dem die regionalen Tarifverträge für den Einzelhandel, geschlossen zwischen ver.di und den Arbeitgeberverbänden des Einzelhandels, dynamisch in ihrer jeweiligen Fassung Anwendung finden. § 11 AÜTV lautet auszugsweise wie folgt:
3Die Klägerin - seit Mai 2019 Mitglied von ver.di -, die weder eine kaufmännische noch eine anderweitige Ausbildung absolviert hat, war seit dem Jahr 2001 insgesamt mehr als 12 Jahre bei verschiedenen Unternehmen des Einzelhandels tätig. Bei der Beklagten war sie in der Zeit vom bis zum als „Retail Operative“ in der Filiale B überwiegend im Verkauf und an der Kasse beschäftigt. Nach § 3.1 des Arbeitsvertrags vom 19./ finden „sofern der Arbeitgeber im Heimatstore des Arbeitnehmers an Tarifverträge gebunden ist, … diese Tarifverträge - auch aus Gründen der Gleichstellung mit den unmittelbar tarifgebundenen Arbeitnehmern - in ihrer jeweils geltenden Fassung auf das Arbeitsverhältnis Anwendung“. Die Beklagte vergütete die Klägerin zunächst nach Beschäftigungsgruppe A (im ersten Jahr der Tätigkeit) des zwischen dem Handelsverband Nordrhein-Westfalen e.V. und ver.di geschlossenen Gehaltstarifvertrags für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen (GTV). Zuletzt erhielt die Klägerin eine Vergütung nach Beschäftigungsgruppe A (im dritten Jahr der Tätigkeit) GTV.
4Nach erfolgloser Geltendmachung mit Schreiben vom hat die Klägerin mit ihrer Klage einen Anspruch auf Vergütung nach Beschäftigungsgruppe B Gehaltsgruppe I (nach dem 6. Berufsjahr) GTV verfolgt. Sie hat die Auffassung vertreten, aufgrund ihrer langjährigen Tätigkeit in verschiedenen Unternehmen des Einzelhandels sei sie nach Beschäftigungsgruppe B GTV zu vergüten. Die Tarifvertragsparteien hätten in § 3 A Abs. 2 Satz 1 GTV eine dreijährige Tätigkeit im Einzelhandel mit einer abgeschlossenen kaufmännischen Berufsausbildung gleichgesetzt. Dabei seien alle Jahre einer Tätigkeit im Einzelhandel zu berücksichtigen. Nach dem Tarifvertrag solle auch durch Ausübung einer Tätigkeit gewonnene Berufserfahrung honoriert werden.
5Die Klägerin hat ursprünglich beantragt,
6Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen und zur Begründung ausgeführt, als Tätigkeitsjahre iSd. GTV seien nur Beschäftigungszeiten beim aktuellen Arbeitgeber zu berücksichtigen. Eine Gleichsetzung von Tätigkeiten bei anderen Arbeitgebern mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung sei zwar in früheren Fassungen des GTV enthalten gewesen, aber bereits mit Inkrafttreten des GTV vom entfallen. Es sollten nunmehr der Beginn und der Abschluss einer Ausbildung besonders honoriert werden.
7Das Arbeitsgericht hat dem Zahlungsantrag zu 1. und dem Feststellungsantrag durch Teilurteil stattgegeben. Der Antrag zu 3. ist nach wie vor beim Arbeitsgericht anhängig. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten das Teilurteil abgeändert, den Antrag zu 2. für den Zeitraum vom bis zum als unzulässig und im Übrigen die Anträge zu 1. und zu 2. als unbegründet abgewiesen. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Anträge zu 1. und zu 2. insoweit weiter, als das Berufungsgericht die Klage als unbegründet abgewiesen hat.
Gründe
8Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Das Teilurteil des Arbeitsgerichts war unzulässig. Dies führt zur Aufhebung des Berufungsurteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 ZPO).
9I. Das Landesarbeitsgericht ist rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, die Voraussetzungen für den Erlass eines Teilurteils nach § 301 ZPO durch das Arbeitsgericht hätten vorgelegen.
101. Der Erlass eines unzulässigen Teilurteils stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Das Revisionsgericht ist daher auch ohne eine entsprechende Verfahrensrüge gemäß § 557 Abs. 3 Satz 2 ZPO von Amts wegen gehalten, die Zulässigkeit eines Teilurteils zu prüfen ( - Rn. 19; - 4 AZR 361/11 - Rn. 15).
112. Ist von mehreren in einer Klage geltend gemachten Ansprüchen nur der eine zur Endentscheidung reif, so hat das Gericht diese durch Endurteil (Teilurteil) zu erlassen (§ 301 Abs. 1 ZPO). Entscheidungsreife besteht nur, wenn das Teilurteil unabhängig vom Schlussurteil erlassen werden kann und die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen - auch infolge abweichender Beurteilung durch das Rechtsmittelgericht - ausgeschlossen ist ( - Rn. 19, BAGE 170, 327; - Rn. 17, BGHZ 230, 120). Eine Gefahr sich widersprechender Entscheidungen ist gegeben, wenn in einem Teilurteil eine Frage entschieden wird, die sich dem Gericht im weiteren Verfahren über andere Ansprüche oder Anspruchsteile noch einmal stellt oder stellen kann ( - Rn. 12; - aaO; - IX ZR 121/16 - Rn. 10). Dies ist ua. der Fall, wenn bei einer Mehrheit selbständiger prozessualer Ansprüche zwischen diesen eine materiell-rechtliche Verzahnung besteht ( - aaO; - 4 AZR 361/11 - aaO; - Rn. 30, BGHZ 209, 157). Ein Teilurteil darf nur ergehen, wenn der weitere Verlauf des Prozesses die zu treffende Entscheidung unter keinen Umständen mehr berühren kann ( - Rn. 18).
12Die notwendige Widerspruchsfreiheit bezieht sich allerdings weder auf den Tenor des Teilurteils - dieser bindet das Gericht nach § 318 ZPO ohnehin - noch auf die Beantwortung abstrakter Rechtsfragen im Teilurteil, die für den weiteren Teil des Rechtsstreits von Bedeutung sind oder sein können ( - Rn. 12; - 4 AZR 361/11 - Rn. 13 mwN).
133. Nach diesen Grundsätzen hat das Arbeitsgericht ein unzulässiges Teilurteil erlassen, indem es über Zahlungsansprüche für die Monate Februar 2019 bis März 2020 und den Feststellungsantrag, nicht aber über diejenigen für die Monate April bis Juni 2020 entschieden hat. Insoweit bestand die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen.
14a) Die Klägerin hat sich für den geltend gemachten Anspruch einer Vergütung nach Beschäftigungsgruppe B Gehaltsgruppe I (ab dem 6. Berufsjahr) GTV hinsichtlich aller Zeiträume auf ihre unveränderte Tätigkeit gestützt. In Anbetracht der gleichen tariflichen Voraussetzungen kann daher eine Eingliederung in die begehrte Gehaltsgruppe nur einheitlich für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum angenommen werden. Der gleichbleibende Anspruchsgrund führt zu einer materiell-rechtlichen Verzahnung sämtlicher Begehren. Bei der zutreffenden Eingliederung handelt es sich auch nicht um eine abstrakte Rechtsfrage, sondern um die konkrete Beurteilung des von der Klägerin zur Entscheidung gestellten Lebenssachverhalts. Für die Zulässigkeit des Teilurteils ist es ohne Bedeutung, dass es sich hinsichtlich der unterschiedlichen Monate um verschiedene Streitgegenstände handelt. Soweit der Senat in seiner Entscheidung vom (- 4 AZR 996/12 - Rn. 13) davon ausgegangen ist, die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen bestehe nicht, wenn sich ein Zahlungs- und ein Feststellungsantrag auf verschiedene Zeiträume beziehen würden, wird hieran aus den dargestellten Gründen nicht festgehalten.
15b) Die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen ist nicht aufgrund der über § 318 ZPO eintretenden Bindungswirkung ausgeschlossen.
16aa) Nach § 318 ZPO ist das Gericht an die Entscheidung, die in den von ihm erlassenen End- und Zwischenurteilen enthalten ist, gebunden. Die Bindungswirkung erstreckt sich auf den Urteilsausspruch, nicht jedoch auf die gerichtlich festgestellten Tatsachen und deren rechtliche Bewertung ( - zu II 2 der Gründe, BAGE 114, 194; - Rn. 22). Sie besteht vom Erlass der Entscheidung bis zu deren Aufhebung ( - Rn. 3; - IVa ZR 209/87 - zu IV der Gründe, BGHZ 106, 219).
17bb) Der Ausspruch hinsichtlich des Zahlungsantrags zu 1. hat nur hinsichtlich des Bestands und der Höhe des Anspruchs für die jeweiligen Monate Bindungswirkung entfaltet, nicht aber in Bezug auf die Begründung, die zutreffende Eingliederung sei gegeben. Mit dem Tenor ist zwar in Bezug auf den Feststellungsantrag, der die begehrte Gehaltsgruppe des GTV enthielt, insoweit zunächst eine Bindungswirkung eingetreten. Das Landesarbeitsgericht hat aber - zutreffend (vgl. - Rn. 17; - 4 AZR 173/19 - Rn. 46 mwN, BAGE 170, 214) - den Feststellungsantrag für den Zeitraum bis Juni 2020 als unzulässig angesehen und damit die Bindungswirkung aufgehoben. Aufgrund dieser möglichen abweichenden rechtlichen Beurteilung durch das Rechtsmittelgericht bestand von Anfang an die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen.
18c) Das Teilurteil ist auch nicht deshalb zulässig, weil das Arbeitsgericht das Verfahren hinsichtlich des Antrags zu 3. nicht weiter betrieben hat. Eine solche Vorgehensweise ist - ebenso wie eine förmliche Aussetzung oder die Anordnung des Ruhens des Verfahrens - nicht geeignet, die Beschränkungen für den Erlass eines Teilurteils außer Kraft zu setzen ( - Rn. 19; ausführlich - VIII ZR 42/10 - Rn. 16 ff., BGHZ 189, 356).
194. Diesen Verfahrensmangel hat das Landesarbeitsgericht nicht erkannt. Es hat sich nicht ausdrücklich mit der Zulässigkeit des arbeitsgerichtlichen Teilurteils befasst, dieses jedoch, indem es über die Berufungsanträge in der Sache, nicht aber über den beim Arbeitsgericht verbliebenen Antrag entschieden hat, inzident als zulässig angesehen.
20II. Der Verfahrensfehler führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils (§ 562 Abs. 1 ZPO) und zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht (§ 563 Abs. 1 ZPO).
211. Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat nicht möglich.
22a) Der Senat kann den noch nicht beschiedenen Teil des Rechtsstreits nicht an sich ziehen und anstelle des Berufungsgerichts darüber entscheiden. Nach § 557 Abs. 1 ZPO ist die Nachprüfung des Berufungsurteils durch die Revisionsanträge begrenzt ( - zu II 5 der Gründe, BAGE 114, 194; - zu III der Gründe). Während für das Berufungsverfahren mit der Regelung in § 538 ZPO eine Ausnahme vom Grundsatz der Bindung an die Berufungsanträge (§ 528 Satz 1 ZPO) besteht, existiert eine solche Bestimmung nicht für das Revisionsverfahren (zum Verhältnis von § 528 ZPO zu § 538 ZPO vgl. - zu 4 d der Gründe).
23b) Ob im Hinblick auf den arbeitsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz (§ 9 Abs. 1 ArbGG) unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen zuzulassen sind (so - zu B I 4 c der Gründe, BAGE 113, 21; zuletzt offen gelassen in - Rn. 15; - 7 AZR 689/16 - Rn. 21; - 3 AZR 874/11 - Rn. 14), kann dahinstehen. Jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem bereits das Arbeitsgericht ein unzulässiges Teilurteil erlassen und das Landesarbeitsgericht über den in erster Instanz verbliebenen Teil nicht entschieden hat, kann das Revisionsgericht den Rechtsstreit nicht an sich ziehen. Anderenfalls würde über den Anspruch keine Entscheidung in den Tatsacheninstanzen ergehen. Den Parteien würde nicht nur in einer Tatsacheninstanz, sondern insgesamt die Möglichkeit zu weiterem Vorbringen genommen. Eine derartige Einschränkung der prozessualen Möglichkeiten kann nicht mit dem Beschleunigungsgebot gerechtfertigt werden.
242. Die Sache ist, obwohl das unzulässige Teilurteil durch das Arbeitsgericht erlassen worden ist, nicht an dieses, sondern an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Das Bundesarbeitsgericht kann den Rechtsstreit zwar an das Arbeitsgericht zurückverweisen, wenn schon das Landesarbeitsgericht die Sache an das Arbeitsgericht hätte zurückverweisen müssen ( - Rn. 33; - 5 AZR 712/19 - Rn. 19, BAGE 172, 372; jew. für den Fall einer fehlenden Urteilsverkündung durch das Arbeitsgericht). Im Streitfall hätte das Landesarbeitsgericht den noch beim Arbeitsgericht anhängigen Teil des Rechtsstreits aber an sich ziehen und hierüber ebenfalls entscheiden müssen.
25a) Nach einem unzulässigen Teilurteil darf das Berufungsgericht die Sache an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverweisen oder den noch in erster Instanz befindlichen Teil an sich ziehen. Das ist nach § 538 Abs. 2 Satz 3 ZPO auch ohne Antrag und ohne Einverständnis der Parteien möglich ( - Rn. 7; vgl. weiterhin - Rn. 23). Die Entscheidung zwischen der Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 ZPO und der eigenen Sachentscheidung durch das Berufungsgericht gemäß § 538 Abs. 1 ZPO steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts. Dabei hat es zu erwägen, dass eine Zurückverweisung der Sache in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreits sowie zu weiteren Nachteilen führen und dies den schützenswerten Interessen der Parteien entgegenstehen kann ( - Rn. 7; - VII ZR 220/03 - zu II 2 der Gründe). Eine Zurückverweisung darf daher nur erfolgen, wenn die weitere Verhandlung der Sache vor dem Gericht des ersten Rechtszuges erforderlich ist (zu den Voraussetzungen etwa - Rn. 16). Daran fehlt es, wenn der Rechtsstreit ohne weitere Verhandlung zur Endentscheidung reif ist ( - zu II 4 der Gründe; vgl. auch - Rn. 17).
26b) Danach hätte das Landesarbeitsgericht im Hinblick auf die Prozesswirtschaftlichkeit den in erster Instanz verbliebenen Teil des Rechtsstreits an sich ziehen und die Klage insgesamt abweisen müssen. Es ist zutreffend von der Zulässigkeit, aber Unbegründetheit der Klage für die Zeiträume Februar 2019 bis März 2020 (Antrag zu 1.) und ab Juli 2020 (Antrag zu 2.) ausgegangen. Da sich die Tätigkeit der Klägerin in den dazwischenliegenden Monaten nicht geändert hat, waren keine weiteren Feststellungen für die Abweisung des Antrags zu 3. erforderlich.
27aa) Die Klage ist, soweit noch streitgegenständlich, zulässig.
28(1) Die Klägerin verfolgt ihr Begehren nicht im Wege einer unzulässigen, weil gegen das Bestimmtheitsgebot des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO verstoßenden, alternativen Klagehäufung (zu dieser - Rn. 18 mwN). Für den Zeitraum von Februar 2019 bis April 2019 beruft sie sich für die Anwendung des AÜTV und die darin enthaltene Verweisung auf den GTV allein auf die arbeitsvertragliche Bezugnahmeregelung. Für die Zeit ab Mai 2019 ist die Klage auch auf die beiderseitige Tarifgebundenheit der Parteien (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG) und damit auf zwei verschiedene Streitgegenstände (vgl. - Rn. 19; - 4 AZR 517/15 - Rn. 74, BAGE 158, 54) gestützt. Die Klägerin war daher nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO gehalten, für diesen Zeitraum eine Rangfolge zu bestimmen, in der das Gericht die Prüfung der einzelnen Streitgegenstände vorzunehmen hat (vgl. hierzu - Rn. 45, BAGE 168, 345; ausführlich - 6 AZR 437/17 - Rn. 18, BAGE 163, 205). Das Landesarbeitsgericht ist davon ausgegangen, die Klägerin stütze ihr Begehren vorrangig auf die beiderseitige Tarifgebundenheit und lediglich hilfsweise auf die Anwendbarkeit der tariflichen Bestimmungen aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme. Dem ist die Klägerin nicht entgegengetreten.
29(2) Für den noch anhängigen Feststellungsantrag (Juli und August 2020) besteht das erforderliche Feststellungsinteresse nach § 256 Abs. 1 ZPO. Es handelt sich nach dem zutreffenden Verständnis des Landesarbeitsgerichts um einen Eingruppierungsfeststellungsantrag, der auch gegenüber der Beklagten als einem privatwirtschaftlichen Unternehmen zulässig ist (vgl. - Rn. 13; - 4 AZR 76/15 - Rn. 13). Er ist nach gebotener Auslegung hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Im Antrag fehlt zwar die genaue Bezeichnung des Tarifvertrags, aus dem sich die begehrte Vergütungsverpflichtung der Beklagten ergeben soll (zu diesem Erfordernis - Rn. 18, BAGE 158, 54). Aus der Klagebegründung ergibt sich aber, dass es sich - vermittelt über den AÜTV - um den jeweils geltenden, zwischen dem Handelsverband Nordrhein-Westfalen e.V. und ver.di abgeschlossenen Gehaltstarifvertrag handelt.
30bb) Die Klage ist unbegründet. Die Beklagte war nicht verpflichtet, der Klägerin eine Vergütung nach Beschäftigungsgruppe B Gehaltsgruppe I (nach dem 6. Berufsjahr) GTV zu zahlen.
31(1) Auf das Arbeitsverhältnis fanden über § 2 Abs. 1, § 11 Abs. 2 AÜTV der Manteltarifvertrag für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen vom (MTV) sowie zunächst der GTV vom und ab dem der GTV vom Anwendung. Die beiden Gehaltstarifverträge sind - mit Ausnahme der Höhe der Vergütung und soweit vorliegend von Belang - inhaltsgleich.
32(2) Die für die Eingruppierung zuletzt maßgebenden Bestimmungen des MTV und GTV lauten:
33(3) Zugunsten der Klägerin kann davon ausgegangen werden, dass sie im Streitzeitraum nach § 10 Abs. 1 Satz 2 MTV, § 2 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 GTV überwiegend einfache kaufmännische Tätigkeiten iSd. Beschäftigungsgruppe B Gehaltsgruppe I GTV des § 3 GTV ausgeübt hat.
34(4) Eine Einstufung in Beschäftigungsgruppe B Gehaltsgruppe I GTV nach § 3 A Abs. 2 GTV könnte, da die Klägerin nicht über eine Ausbildung iSd. § 3 B Abs. 1 oder Abs. 2, § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 GTV verfügt, erst nach drei Tätigkeitsjahren bei der Beklagten erfolgen. Sie war jedoch lediglich vom bis zum und damit kürzer als drei Jahre bei ihr beschäftigt. Ihre Tätigkeitszeiten bei anderen Arbeitgebern sind keine iSd. § 3 A Abs. 2 GTV. Dies ergibt die Auslegung des GTV (zu den Auslegungsgrundsätzen - Rn. 21 mwN).
35(a) Dem Wortlaut des GTV lässt sich nicht entnehmen, ob unter dem in § 3 A Abs. 2 GTV verwendeten Begriff „Tätigkeitsjahre“ lediglich solche zu verstehen sind, die beim aktuellen Arbeitgeber verbracht wurden.
36(aa) Die tariflichen Regelungen enthalten keine Definition des Begriffs „Tätigkeitsjahr“. Als Tätigkeit wird allgemein die Gesamtheit derjenigen Verrichtungen, mit denen jemand in Ausübung seines Berufs zu tun hat, das Tätigsein, das Sichbeschäftigen mit etwas verstanden ( - Rn. 21). Damit wird aber noch keine Aussage darüber getroffen, ob die Tätigkeit nur beim derzeitigen Arbeitgeber erbracht werden kann.
37(bb) Die Verwendung des Begriffs „Tätigkeit“ statt „Betriebszugehörigkeit“ lässt nicht den Schluss zu, diese sei unabhängig von der Betriebszugehörigkeit zu berücksichtigen (so aber - zu II B 2 a cc (2) (a) der Gründe). Für die Eingliederung wird auf die „Tätigkeit“ beim jeweiligen Arbeitgeber abgestellt (§ 2 Abs. 1 GTV, § 10 MTV), die sich während der Dauer der Betriebszugehörigkeit ändern kann. Es handelt sich daher um in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendete Begriffe, deren Bedeutung eigenständig zu ermitteln ist.
38(b) Systematische Erwägungen sprechen dafür, als Tätigkeitsjahre nur Beschäftigungsjahre beim derzeitigen Arbeitgeber anzusehen.
39(aa) Nach § 2 Abs. 3 GTV über die Gleichsetzung anderer Ausbildungen mit der abgeschlossenen kaufmännischen Ausbildung sind nur „kaufmännische Tätigkeiten“ (§ 2 Abs. 3 Buchst. a GTV) zu berücksichtigen. Darüber hinaus erfolgt eine Anrechnung von „Berufs- bzw. Tätigkeitsjahren“ nur bei „Beschäftigung entsprechend dem erlernten Beruf“ (§ 2 Abs. 3 Satz 2 GTV). Soll für diese Einschränkungen auf bestimmte Tätigkeiten ein Anwendungsbereich für eine Einstufung in Beschäftigungsgruppe B Gehaltsgruppe I GTV verbleiben, steht dies einem Verständnis entgegen, nach § 3 A Abs. 2 GTV seien auch jegliche Tätigkeiten bei vorherigen Arbeitgebern zu berücksichtigen.
40(bb) Den tariflichen Bestimmungen kann zudem keine ausdrückliche Regelung entnommen werden, welche „Tätigkeiten“ bei anderen Arbeitgebern für eine Stufenzuordnung Berücksichtigung finden können. Es wird weder eine kaufmännische Tätigkeit noch eine solche „in der Gehaltsgruppe“ gefordert. Eine Definition ist allerdings auch entbehrlich, wenn nur die konkrete, eingruppierungsrelevante Tätigkeit beim derzeitigen Arbeitgeber (§ 2 Abs. 1 GTV, § 10 MTV) maßgebend sein soll. Die abweichende Auffassung der Klägerin würde zu erheblichen Problemen bei der praktischen Durchführung des Tarifvertrags und der Bestimmung von anrechenbaren Tätigkeiten führen (vgl. - zu II B 4 d der Gründe). Jedenfalls soweit Tätigkeiten außerhalb des fachlichen Geltungsbereichs des GTV in Rede stehen, wäre zu erwarten gewesen, dass die Tarifvertragsparteien erkennbar zum Ausdruck bringen, dass auch diese für die Einstufung Berücksichtigung finden sollen (vgl. -; ähnlich - zu II B 4 der Gründe).
41(cc) Dieses Verständnis wird durch § 10 MTV bestätigt. Nach dessen Abs. 9 und Abs. 10 sind bestimmte Zeiträume der Unterbrechung von Arbeitsverhältnissen und Zeiten der Arbeitslosigkeit als Berufsjahre, nicht aber als Tätigkeitsjahre anrechenbar. Die Unterbrechung der Tätigkeit - nicht eines Arbeitsverhältnisses - aus Anlass der Niederkunft ist demgegenüber für Berufs- bzw. Tätigkeitsjahre zu berücksichtigen (§ 10 Abs. 11 MTV). Diese Regelungen sprechen ebenfalls dafür, dass Berufsjahre außerhalb des derzeitigen Arbeitsverhältnisses erbracht werden können, nicht aber Tätigkeitsjahre.
42(dd) Die Klägerin kann sich für ihr Verständnis des Tarifbegriffs nicht auf § 11 Abs. 4 AÜTV stützen. Der AÜTV ist zeitlich erst nach der streitgegenständlichen Regelung und zudem von anderen Tarifvertragsparteien abgeschlossen worden. Für eine nur ausnahmsweise mögliche tarifvertragsübergreifende Auslegung liegen die erforderlichen Voraussetzungen nicht vor (dazu - Rn. 44, BAGE 131, 197). Im Übrigen fehlt es an Anhaltspunkten, die Tarifvertragsparteien des AÜTV hätten bewusst eine vom GTV abweichende Regelung treffen wollen. Davon ist das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgegangen.
43(ee) Bei der Auslegung des Begriffs „Tätigkeitsjahre“ können allerdings die durch das Landesarbeitsgericht zitierten gesetzlichen Regelungen (§ 1 Abs. 1 KSchG, § 622 BGB, § 8 Abs. 1 TzBfG) nicht herangezogen werden. Diese lassen ebenso wenig wie die durch die Klägerin zitierten tarifvertraglichen Vorschriften (zB § 3 Gehalts- und Lohntarifvertrag Niedersachsen, § 3 Gehalts- und Lohntarifvertrag Bremen, § 2 Gehaltstarifvertrag für den bayerischen Einzelhandel) einen Rückschluss auf das Verständnis der streitgegenständlichen Tarifbestimmungen zu, weil sie andere Fallgestaltungen betreffen oder abweichende Formulierungen enthalten.
44(c) Gegen eine Anrechnung jeglicher Tätigkeitszeiten bei früheren Arbeitgebern sprechen auch Sinn und Zweck der Eingliederungsregelungen des GTV. Es sollen erkennbar der Abschluss einer Ausbildung oder zumindest Ausbildungszeiten durch höhere Vergütungen gefördert werden. Angestellte ohne abgeschlossene Ausbildung erhalten (zunächst) eine geringere Vergütung, wobei sich jede - also auch eine fachfremde - Ausbildung positiv auf die Vergütung auswirkt (§ 2 Abs. 3 Buchst. b GTV). Dieses Ziel würde nicht erreicht, wenn bereits bei Beginn des Arbeitsverhältnisses alle Vorbeschäftigungszeiten bei anderen Arbeitgebern zu berücksichtigen wären.
45(d) Schließlich bestätigt die Entstehungsgeschichte der Eingliederungsbestimmungen des GTV das Auslegungsergebnis, im Rahmen des § 3 A Abs. 2 GTV nur Tätigkeiten zu berücksichtigen, die beim derzeitigen Arbeitgeber erbracht worden sind.
46(aa) §§ 2 und 3 GTV idF vom (GTV 2009) lauteten auszugsweise wie folgt:
47(bb) Nach § 2 Abs. 3 Buchst. b GTV 2009 war „eine kaufmännische Berufstätigkeit überwiegend im Verkauf von drei Jahren, im übrigen von vier Jahren“ einer abgeschlossenen kaufmännischen Berufsausbildung gleichgesetzt. Angestellte mit einer solchen Erfahrung konnten damit - unter Anrechnung der in diesem Beruf zurückgelegten Tätigkeitsjahre - direkt in die Beschäftigungsgruppe B GTV 2009 eingestuft werden. Demgegenüber konnten Angestellte ohne abgeschlossene Ausbildung oder Angestellte, die die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 Buchst. a, b oder c GTV 2009 nicht erfüllten, die Gehaltsgruppen nach Beschäftigungsgruppe B überhaupt nicht erreichen. Dies war nach § 3 Abs. 2 GTV 2009 allein den in § 2 Abs. 3 Buchst. a, b und c GTV 2009 genannten Arbeitnehmern vorbehalten.
48Mit Streichung des § 2 Abs. 3 Buchst. b GTV 2009 durch den GTV idF vom ist gleichzeitig in § 3 Abs. 2 GTV durch die bis heute unveränderte Regelung allen Angestellten ohne Ausbildung die Möglichkeit eröffnet worden, zumindest eine Vergütung nach Beschäftigungsgruppe B Gehaltsgruppe I GTV zu erreichen. Hinsichtlich dieser Angestellten fehlt aber seither eine Regelung zur Anrechnung von Vorbeschäftigungszeiten „in diesem Beruf“. Das lässt nur den Schluss zu, dass eine solche nicht erfolgen soll. In der Folge sind als Tätigkeitsjahre nur die beim derzeitigen Arbeitgeber zu berücksichtigen.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2022:230222.U.4AZR250.21.0
Fundstelle(n):
BB 2022 S. 1651 Nr. 28
FAAAI-61314