Strafzumessung: Erforderlichkeit der konkreten Bezifferung der fiktiven Gesamtstrafe bei einem Härteausgleich wegen von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union verhängter Strafen
Leitsatz
Weder der Rahmenbeschluss 2008/675/JI des Rates vom zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren noch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union führt zu einem Verständnis, wonach ein Härteausgleich wegen Strafen, die von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union verhängt wurden, zwingend die konkrete Bezifferung der fiktiven Gesamtstrafe bzw. des vorgenommenen Strafabschlags erfordert.
Gesetze: § 54 Abs 1 S 2 StGB, § 55 Abs 1 StGB, Art 3 Abs 1 EURaBes 675/2008
Instanzenzug: LG Kleve Az: 110 KLs 11/21
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren Wohnungseinbruchdiebstahls, Wohnungseinbruchdiebstahls in acht Fällen, versuchten schweren Wohnungseinbruchdiebstahls in vier Fällen, versuchten Wohnungseinbruchdiebstahls in sieben Fällen und Diebstahls in zwei Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich mit Hausfriedensbruch, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Ferner hat es eine Anrechnungsentscheidung zu der in Polen erlittenen Auslieferungshaft getroffen. Die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, ist unbegründet im Sinne des
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2Der näheren Erörterung bedarf lediglich die vom Landgericht gemäß § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1 Satz 2 StGB vorgenommene Gesamtstrafenbildung, soweit es die von einem polnischen Gericht rechtskräftig verhängte Haftstrafe bei der Bestimmung des Gesamtstrafübels durch Gewährung eines unbezifferten Härteausgleichs berücksichtigt hat (UA S. 50).
31. Die Strafkammer hat zutreffend angenommen, dass es aufgrund dieser Vorverurteilung bei der Bemessung der Gesamtfreiheitsstrafe eines Härteausgleichs bedurft hat.
4Bei der Strafzumessung sind auch solche etwaigen Härten in den Blick zu nehmen, die durch die zusätzliche Vollstreckung von Strafen drohen, die von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union verhängt wurden, wenn diesbezüglich in zeitlicher Hinsicht die Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB erfüllt wären (s. BGH, Beschlüsse vom - 1 StR 252/20, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 26 Rn. 5; vom - 1 StR 406/19, BGHSt 65, 1 Rn. 9; 1 StR 15/20, BGHSt 65, 5 Rn. 18 ff.; vom - 4 StR 599/19, NStZ-RR 2020, 122; vom - 4 StR 256/19, juris; vom - 1 StR 508/18, NJW 2019, 1159 Rn. 6 mwN). Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom - C-171/16, juris Rn. 26; ferner Urteile vom - C-221/19, NJW 2021, 3107 Rn. 50; vom - C-390/16, juris Rn. 28) haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass frühere in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen in gleichem Maße bei der Strafzumessung berücksichtigt werden wie inländische Vorverurteilungen nach innerstaatlichem Recht. Dieser Grundsatz gilt stets und ohne weitere Bedingungen (s. , BGHSt 65, 1 Rn. 11 mwN). Hiernach ist bei zeitigen Freiheitsstrafen ein Härteausgleich vorzunehmen, um den sich daraus ergebenden Nachteil auszugleichen, dass bei einer früheren Verurteilung durch ein Gericht eines anderen EU-Mitgliedstaats keine Gesamtstrafe nach § 55 StGB gebildet werden kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 1 StR 252/20, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 26 Rn. 5; vom - 1 StR 15/20, BGHSt 65, 5 Rn. 14 ff.).
5Im Hinblick auf die dem angefochtenen Urteil vorausgegangene Verurteilung des Angeklagten in Polen wären die Voraussetzungen für eine Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB an sich gegeben gewesen. Das dortige Bezirksgericht in L. sprach ihn mit der Entscheidung vom in Verbindung mit derjenigen vom insgesamt 19 vollendeter oder versuchter Einbruchdiebstähle schuldig und belegte ihn mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten. Diesem Erkenntnis liegen Einzelfreiheitsstrafen von einmal drei Jahren, elfmal einem Jahr und sechs Monaten sowie siebenmal einem Jahr zugrunde. Der Angeklagte beging die hier verfahrensgegenständlichen Taten vor der Verurteilung durch das Bezirksgericht in L. . Die von diesem festgesetzten Strafen sind daher in zeitlicher Hinsicht gesamtstrafenfähig. Sie sind nicht erledigt; vielmehr wurde ein Rest der in Polen festgesetzten Haftstrafe mit Beschluss vom zur Bewährung ausgesetzt.
62. Dass die Strafkammer den aus der fehlenden Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteil nicht konkret ausgewiesen hat, begegnet ebenso wenig revisionsrechtlichen Bedenken.
7Soweit der 1. Strafsenat über die dargelegten bisherigen Anforderungen an den Härteausgleich wegen Strafen, die von Gerichten anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union verhängt wurden, hinausgehend - nicht tragend - eine Bezifferung der fiktiven Gesamtstrafe bzw. des vorgenommenen Strafabschlags für erforderlich gehalten hat (vgl. Beschluss vom - 1 StR 15/20, BGHSt 65, 5 Rn. 18 ff.; ferner Beschlüsse vom - 1 StR 404/20, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 27 Rn. 4; vom - 1 StR 379/20, juris Rn. 6), ist dem nicht beizutreten (zweifelnd bereits BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 37/21, NStZ-RR 2021, 154; vom - 6 StR 142/21, juris). Denn die Notwendigkeit einer Abweichung von der etablierten Rechtsprechung zur Art und Weise der Berücksichtigung des Härteausgleichs ergibt sich weder aus dem vom 1. Strafsenat für seine Rechtsansicht in Bezug genommenen Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom - C-171/16, aaO) noch aus dem der dortigen Entscheidung zugrundeliegenden Rahmenbeschluss 2008/675/JI des Rates vom zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren (ABl. L 220 S. 32 ff.) selbst. Im Einzelnen:
8a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs steht es im Ermessen des Tatgerichts, auf welche Weise es den Härteausgleich vornimmt (Beschlüsse vom - 5 StR 301/11, StV 2012, 596 Rn. 3; vom - 4 StR 441/10, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 20 Rn. 6; Urteil vom - 2 StR 242/04, juris Rn. 12; Beschluss vom - 1 StR 317/97, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 10; Urteile vom - 1 StR 645/84, BGHSt 33, 131, 132; vom - 4 StR 75/82, BGHSt 31, 102, 103; ferner LK/Rissing-van Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., § 55 Rn. 32). Ihm obliegt es, die hierfür maßgeblichen Umstände zu gewichten und die hiernach angemessene Strafe zu bestimmen. Das Revisionsgericht greift - ebenso wie bei der Kontrolle der Gesamtstrafenbildung - nur dann ein, wenn der Umfang des Härteausgleichs nicht mehr ausreichend begründet wurde. Es bleibt dem Tatgericht insbesondere überlassen, ob es zunächst eine "fiktive Gesamtstrafe" bildet und diese um die vollstreckte Strafe mildert oder ob es den Nachteil unmittelbar bei der Festsetzung der neuen Strafe berücksichtigt (BGH, Beschlüsse vom - 4 StR 441/10, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 20 Rn. 6; vom - 5 StR 73/09, StV 2010, 240 Rn. 4; Urteile vom - 1 StR 645/84, BGHSt 33, 131, 132; vom - 4 StR 75/82, BGHSt 31, 102, 103). Erforderlich ist lediglich, dass ein angemessener Härteausgleich vorgenommen wird und dies den Urteilsgründen zu entnehmen ist.
9b) Weder der benannte Rahmenbeschluss noch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union führt zu einem Verständnis, wonach dieses tatrichterliche Ermessen bei einem Härteausgleich wegen einer früheren Verurteilung in einem anderen EU-Mitgliedstaat - als Ausnahme von der Regel - nicht bestehen könnte.
10aa) Art. 3 des Rahmenbeschlusses, der durch Umsetzungsgesetz vom (BGBl. I S. 3214) in innerstaatliches Recht überführt wurde, regelt im Kern die Berücksichtigung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Verurteilung in einem neuen Strafverfahren. Dies hat in demselben Maße zu erfolgen, in dem im Inland ergangene frühere Verurteilungen berücksichtigt werden (Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses). Der Unionsgerichtshof (Urteil vom - C-171/16, juris Rn. 26) hat diese Anordnung dahin präzisiert, dass den früheren Verurteilungen aus einem anderen Mitgliedstaat gleichwertige tatsächliche bzw. verfahrens- oder materiellrechtliche Wirkungen zuzuerkennen sind wie Vorverurteilungen im Inland nach innerstaatlichem Recht. Dabei ist die Abänderung, Aufhebung oder Überprüfung der früheren Entscheidung durch die spätere Entscheidung des anderen Mitgliedstaats nicht vorgesehen (Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses).
11bb) Diesen Vorgaben kann bereits dem Wortlaut nach nicht entnommen werden, dass die in einem anderen Mitgliedstaat ergangene an sich gesamtstrafenfähige Verurteilung ausschließlich durch konkrete Bezifferung einer fiktiven Gesamtstrafe oder eines entsprechenden Strafabschlags unionsrechtskonform berücksichtigt werden kann.
12cc) Auch im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu dem Umsetzungsgesetz vom wurde ein solches Erfordernis konkreter Bezifferung nicht in Betracht gezogen. Wie sich aus der Beschlussempfehlung vom ergibt, ging der Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages davon aus, der Ansatz, dass ausländische Vorverurteilungen zwar nicht formell (über eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung) in die Strafzumessung eingebunden werden können, der Verurteilte aber gleichwohl dadurch möglichst nicht benachteiligt werden soll, entspreche dem in Deutschland von der Rechtsprechung auch bei ausländischen Vorverurteilungen bereits praktizierten Härteausgleich (BT-Drucks. 16/13673 S. 5). Wie sich insbesondere den in den Gesetzesmaterialien zitierten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (s. Beschlüsse vom - 1 StR 317/97, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 10; vom - 1 StR 105/97, BGHSt 43, 79 f.) entnehmen lässt, war damit ersichtlich auch die Möglichkeit eines unbezifferten Härteausgleichs gemeint.
13dd) Die Pflicht zur Bezifferung des Härteausgleichs liegt überdies nach dem Sinn und Zweck der unionsrechtlichen Vorgaben nicht nahe.
14(1) Die wesentliche Wirkung einer Gesamtstrafenbildung nach §§ 54, 55 StGB in Fällen innerstaatlicher Verurteilungen - nämlich der Wegfall der einbezogenen Strafe als selbständig vollstreckbares Erkenntnis - tritt in Fällen verschiedenstaatlicher Verurteilungen, wie sich Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses ausdrücklich entnehmen lässt, gerade nicht ein (ebenso , BGHSt 65, 5 Rn. 13 mwN). Insofern ist die vorliegende Fallkonstellation im Sinne der referierten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht gleichwertig mit Verurteilungen, bei denen innerstaatliche Erkenntnisse tatsächlich auf Gesamtstrafen zurückzuführen sind, wohl aber mit solchen, bei denen aus verschiedenen Gründen auch im Inland verhängte Strafen nicht (mehr) zur Bildung einer Gesamtstrafe herangezogen werden können. Als solcher - eine Gesamtstrafenbildung von vornherein ausschließender (s. LK/Rissing-van Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., § 55 Rn. 8 mwN) - Grund kommt etwa die wesensmäßige Verschiedenartigkeit von Freiheitsstrafe und Jugendstrafe in Betracht, die dazu führt, dass hinsichtlich getrennt nach Erwachsenen- und Jugendrecht abgeurteilten Taten eine Gesamtstrafe nicht gebildet werden kann (s. BGH, Beschlüsse vom - 5 StR 610/19, StV 2020, 660 Rn. 3; vom - 4 StR 316/08, juris Rn. 2; vom - 2 StR 583/06, NStZ-RR 2007, 168; Urteil vom - 1 StR 105/97, BGHSt 43, 79, 80; Beschluss vom - 4 StR 172/95, BGHR StGB § 55 Abs. 1 Satz 1 Härteausgleich 6; Urteile vom - 4 StR 445/89, BGHSt 36, 270, 275; vom - 4 StR 107/60, BGHSt 14, 287, 288 ff.; LK/Rissing-van Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., Rn. 33). Ebenso verhält es sich in Fallkonstellationen, in denen die einzubeziehende Strafe bereits - durch Vollstreckung, Verjährung oder Erlass - erledigt ist (vgl. , BGHSt 43, 79, 80; vom - 5 StR 419/58, BGHSt 12, 94, 95; SSW-StGB/Eschelbach, 5. Aufl., § 55 Rn. 23; LK/Rissing-van Saan/Scholze, StGB, 13. Aufl., Rn. 22 f.; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben/Bosch, StGB, 30. Aufl., § 55 Rn. 21 ff.; NK-StGB/Frister, 5. Aufl., § 55 Rn. 22).
15(2) Aus den vorstehenden Gründen greift schließlich auch die Argumentation, das mit dem Rahmenbeschluss 2008/675/JI umgesetzte Prinzip der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen auf der Grundlage wechselseitigen Vertrauens in die Grundrechtskonformität des Verhaltens sämtlicher Mitgliedstaaten erfordere die Vornahme eines bezifferten Härteausgleichs (, BGHSt 65, 5 Rn. 28 f.), nicht durch. Wenn - wie dargelegt - ein unbezifferter Härteausgleich selbst dann ausreichend ist, wenn in den genannten Fallkonstellationen in zeitlicher Hinsicht gesamtstrafenfähige inländische Erkenntnisse nicht zur Bildung einer Gesamtstrafe herangezogen werden können, kann in Fällen von Erkenntnissen aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union nichts anderes gelten.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2022:260122B3STR461.21.0
Fundstelle(n):
NJW 2022 S. 10 Nr. 15
NJW 2022 S. 1327 Nr. 18
wistra 2022 S. 390 Nr. 9
VAAAI-58563