BAG Urteil v. - 9 AZR 425/10

Verfall des Urlaubsanspruchs nach Genesung eines langfristig arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers

Gesetze: § 7 Abs 3 BUrlG, Art 7 EGRL 88/2003

Instanzenzug: ArbG Aachen Az: 4 Ca 2559/09 Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Köln Az: 12 Sa 38/10 Urteil

Tatbestand

1Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger Erholungsurlaub aus den Jahren 2005 bis 2007 zusteht.

2Der Kläger ist seit dem bei der Beklagten, einem Verkehrsunternehmen mit Sitz in Nordrhein-Westfalen, als Busfahrer und Fahrausweisprüfer beschäftigt. Er hat einen jährlichen Anspruch auf 30 Arbeitstage Erholungsurlaub. Gemäß § 7 des die Parteien verbindenden Formulararbeitsvertrags vom (ArbV) finden auf das Arbeitsverhältnis die für die Beklagte geltenden Tarifverträge Anwendung.

Der mit Wirkung zum in Kraft getretene Spartentarifvertrag Nahverkehrsbetriebe idF des Überleitungstarifvertrags vom (TV-N NW) regelt für Arbeitnehmer, die - wie der Kläger - bis in den Dienst der Beklagten traten, ua. Folgendes:

4In den Kalenderjahren 2005 bis 2007 erhielt der Kläger keinen Erholungsurlaub. Ab war er krankheitsbedingt arbeitsunfähig. Am nahm er seine Arbeit wieder auf.

5Im weiteren Verlauf des Jahres 2008 gewährte die Beklagte dem Kläger an 30 Arbeitstagen Erholungsurlaub.

6Mit Schreiben vom , das der Beklagten am zuging, machte der Kläger erfolglos Urlaub aus den Jahren 2005 bis 2007 geltend.

7Der Kläger hat die Rechtsauffassung vertreten, die Beklagte sei verpflichtet, ihm den in den Jahren 2005 bis 2007 erworbenen Erholungsurlaub zu gewähren. § 7 Abs. 3 BUrlG gelte nur für den Urlaub des jeweiligen Kalenderjahres.

Der Kläger hat zuletzt beantragt

9Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie ist der Ansicht, die Urlaubsansprüche des Klägers seien befristet und deshalb mit Ablauf des verfallen.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Gründe

11A. Die Revision ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht zurückgewiesen. Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.

12I. Die Feststellungsklage ist zulässig.

131. Der Kläger hat ein rechtliches Interesse daran, durch das Gericht feststellen zu lassen, ob ihm gegen die Beklagte aus den Jahren 2005 bis 2007 resultierende Urlaubsansprüche zustehen (§ 256 Abs. 1 ZPO).

142. Der grundsätzlich geltende Vorrang der Leistungsklage (vgl.  - zu I der Gründe, EzA ZPO § 256 Nr. 59) steht der Zulässigkeit einer Klage, mit der ein Arbeitnehmer den Umfang des ihm zustehenden Urlaubs gerichtlich festgestellt wissen will, nicht entgegen (hierzu ausführlich:  - Rn. 13 bis 15, NZA 2011, 1050).

15II. Die Klage ist nicht begründet. Dem Kläger steht ein in den Jahren 2005 bis 2007 entstandener Anspruch auf Erholungsurlaub nicht zu. Für die von dem Kläger begehrte Feststellung fehlt es an einer Rechtsgrundlage. Selbst wenn der Senat zugunsten des Klägers unterstellt, dass ein langfristig arbeitsunfähiger Arbeitnehmer Urlaubsansprüche, die aus dem Zeitraum seiner Arbeitsunfähigkeit resultieren, uneingeschränkt kumulieren kann (dagegen:  - LAGE BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 27), ist der Urlaubsanspruch mit Ablauf des Urlaubsjahres 2008 am untergegangen. Denn der Urlaubsanspruch, der aus einem früheren Urlaubsjahr übertragen wird, tritt zu dem Urlaubsanspruch, der zu Beginn des Urlaubsjahres entsteht, hinzu. Beide zusammen bilden einen einheitlichen Urlaubsanspruch. Sofern nicht abweichende arbeits- oder tarifvertragliche Regelungen eingreifen, ist der Teil des Urlaubsanspruchs, der zu Beginn des Urlaubsjahres entstanden ist, an das Urlaubsjahr gebunden (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG); der Teil des Urlaubsanspruchs, der übertragen wurde, unterliegt grundsätzlich dem besonderen Zeitregime des § 7 Abs. 3 Satz 3 und Satz 4 BUrlG. Der Urlaubsanspruch erlischt demnach trotz langwieriger krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit, wenn der Arbeitnehmer im Kalenderjahr einschließlich des Übertragungszeitraums so rechtzeitig gesund und arbeitsfähig wird, dass er in der verbleibenden Zeit seinen Urlaub nehmen kann. Davon ist das Landesarbeitsgericht zu Recht ausgegangen.

161. Unter der Prämisse, dass ein Arbeitnehmer, der über einen langen Zeitraum aufgrund von Krankheit arbeitsunfähig ist, Urlaub unbeschränkt ansammeln kann, betrug der aus den Jahren 2005 bis 2007 resultierende Urlaubsanspruch des Klägers nach Ende seiner nahezu dreieinhalb Jahre währenden Arbeitsunfähigkeit im Jahr 2008 90 Arbeitstage. Dem Kläger stehen jährlich 30 Arbeitstage Erholungsurlaub zu.

172. Dieser Urlaubsanspruch des Klägers ist mit Ablauf des Urlaubsjahres 2008 am untergegangen.

18a) Mangels abweichender arbeits- oder tarifvertraglicher Regelungen ist der Anspruch des Arbeitnehmers auf Erholungsurlaub befristet. Sofern kein Übertragungsgrund nach § 7 Abs. 3 BUrlG gegeben ist, verfällt der am Ende des Urlaubsjahres nicht genommene Urlaub (vgl.  - zu II 1 a der Gründe, AP InsO § 55 Nr. 11 = EzA BUrlG § 7 Nr. 114; - 9 AZR 253/04 - zu III 2 a der Gründe, EzA BUrlG § 7 Abgeltung Nr. 13; - 9 AZR 405/99 - zu II 2 b cc der Gründe, BAGE 95, 104). Dies gilt jedenfalls in den Fällen, in denen der Arbeitnehmer nicht aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen, etwa aufgrund von Arbeitsunfähigkeit (siehe hierzu:  - Rn. 47 ff., BAGE 130, 119), an der Urlaubsnahme gehindert ist. Die tarifvertragliche Regelung des § 15 Abs. 9 Satz 1 TV-N NW, die aufgrund der Verweisung in § 7 ArbV auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung findet, enthält keine von § 7 Abs. 3 BUrlG abweichende Regelung.

19b) Das Fristenregime des BUrlG beruht auf einem perpetuierenden System (vgl. zu tarifvertraglichen Regelungen:  - zu I 4 der Gründe, BAGE 84, 23). Der Senat hat für einen Urlaubsanspruch aus dem Vorjahr, der nach § 7 Abs. 3 BUrlG auf das Folgejahr übertragen wurde, angenommen, er unterscheide sich im gesetzlich befristeten Übertragungszeitraum des § 7 Abs. 3 BUrlG nicht von dem Urlaubsanspruch des laufenden Urlaubsjahres ( - zu III 4 b cc (1) der Gründe, BAGE 109, 285). Er tritt zu dem am 1. Januar des Urlaubsjahres neu erworbenen Urlaubsanspruch hinzu. Er ist einem „Übertrag” in einer laufenden Rechnung vergleichbar ( - zu 2 a der Gründe, BAGE 56, 53). Dauert das krankheitsbedingte Hindernis für die Inanspruchnahme an oder tritt ein neues in § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG geregeltes Hindernis - dringende betriebliche oder personenbedingte Gründe - an dessen Stelle, so bleibt der Urlaubsanspruch durch weitere Übertragungen erhalten, es sei denn, eine aus Art. 9 des Übereinkommens Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation über den bezahlten Jahresurlaub vom (im Folgenden: Übereinkommen Nr. 132 der IAO; Näheres dazu unter A II 2 f der Gründe) abzuleitende Begrenzung der Höchstübertragungsdauer greift ein. Zum Urlaubsanspruch gehört folglich nicht nur der jeweils neueste, am 1. Januar eines jeden Kalenderjahres entstehende Anspruch, sondern auch der infolge der Übertragung hinzutretende, noch zu erfüllende Anspruch aus dem Vorjahr. Auf diese kumulierende Weise wächst der Urlaubsanspruch an. Nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG besteht nur die Besonderheit, dass der Arbeitgeber im Interesse einer zeitnahen Erholung den Anteil des Urlaubsanspruchs, der vor dem laufenden Urlaubsjahr entstanden ist, innerhalb des ersten Quartals gewähren muss. Geht der aus dem Vorjahr übertragene Urlaubsanspruch trotz Ablaufs des Übertragungszeitraums - etwa wegen andauernder krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers (siehe hierzu:  - Rn. 45, BAGE 130, 119) - nicht unter, ist dieser Teil des Urlaubsanspruchs gegenüber dem Teil, den der Arbeitnehmer zu Beginn des aktuellen Urlaubsjahres erworben hat, nicht privilegiert. Er unterliegt dem Fristenregime des § 7 Abs. 3 BUrlG. Die in den Schlussanträgen der Generalanwältin am Gerichtshof der Europäischen Union Trstenjak erörterte Frage, ob der Arbeitnehmer auf diese Weise Urlaub über mehrere Jahre hinweg ansammeln kann oder Art. 9 des Übereinkommens Nr. 132 der IAO eine zeitliche Begrenzung zu entnehmen ist (vgl. Schlussanträge vom - C-214/10 - [KHS AG gegen Schulte]), lässt der Senat offen. Sie ist im Streitfall nicht entscheidungserheblich.

20c) Konsequenz der Befristungsregelungen ist, dass der Urlaubsanspruch trotz langwieriger krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit erlischt, wenn der Arbeitnehmer im Kalenderjahr oder im Übertragungszeitraum so rechtzeitig gesund und arbeitsfähig wird, dass er in der verbleibenden Zeit seinen Urlaub nehmen kann (vgl. ErfK/Dörner/Gallner 11. Aufl. § 7 BUrlG Rn. 39m). Anderenfalls käme es zu einer nicht gerechtfertigten Privilegierung des ehemals arbeitsunfähig erkrankten, nun aber genesenen Arbeitnehmers gegenüber den übrigen Arbeitnehmern. Während jener Urlaubsansprüche jenseits der Befristungsregelungen des § 7 Abs. 3 BUrlG erworben hätte, obläge es diesen, den Urlaub binnen der in § 7 Abs. 3 BUrlG bestimmten Fristen zu nehmen. Eine solche Ungleichbehandlung ist sachlich nicht gerechtfertigt.

21d) In Anwendung dieser Grundsätze verfiel der Urlaubsanspruch des Klägers, der aus dem streitgegenständlichen Zeitraum der Jahre 2005 bis 2007 herrührte, spätestens mit Ablauf des Urlaubsjahres 2008. Dies gilt unabhängig davon, ob es dem Arbeitnehmer im Fall einer langfristigen Arbeitsunfähigkeit überhaupt rechtlich möglich ist, Urlaub unbeschränkt anzusammeln. Legt man für die Berechnung der Arbeitstage eine Fünf-Tage-Woche zugrunde und berücksichtigt man die für Nordrhein-Westfalen geltenden Feiertage, die im Jahr 2008 nicht auf einen Samstag oder Sonntag fielen, lagen zwischen der Wiederaufnahme der Arbeit am und dem Ablauf des Urlaubsjahres am 145 Arbeitstage. Der Kläger hätte den Urlaub, den er für die Jahre 2005 bis 2007 geltend macht (90 Arbeitstage), und den Urlaub, den er am erwarb (30 Arbeitstage), in dem Zeitraum bis zum nehmen können. Der Kläger hat Umstände, die zur Übertragung des Urlaubs in das Folgejahr führten (§ 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG) nicht vorgetragen; im Übrigen sind sie nicht ersichtlich.

22e) Unionsrecht steht der zeitlichen Befristung des Urlaubsanspruchs nicht entgegen, sofern der Arbeitnehmer die Möglichkeit hat, den Urlaubsanspruch vor dem Ende des Übertragungszeitraums zu realisieren. Der EuGH hält eine nationale Regelung, die einen Übertragungszeitraum für den am Ende des Bezugszeitraums nicht genommenen Jahresurlaub vorsieht, für zulässig. Denn sie eröffnet einem Arbeitnehmer, der daran gehindert war, seinen Jahresurlaub zu nehmen, eine zusätzliche Möglichkeit, in den Genuss des Urlaubs zu kommen. Die Regelung darf grundsätzlich auch den Verlust des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub am Ende eines Bezugs- oder Übertragungszeitraums beinhalten. Der EuGH billigt damit grundsätzlich den Regelungszweck des § 7 Abs. 3 Satz 2 und Satz 3 BUrlG, den Arbeitnehmer durch den drohenden Verlust des Urlaubsanspruchs anzuhalten, den Urlaub als Unterbrechung der Arbeit möglichst im laufenden Jahr zu nehmen oder - soweit dies aus betrieblichen oder persönlichen Gründen nicht möglich ist - den zeitlichen Abstand zum Urlaubsjahr gering zu halten. Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. EU L 299 vom S. 9) dient damit sowohl der Sicherheit als auch der Gesundheit des Arbeitnehmers. Dieses Regelungsziel erfordert eine zeitnahe Inanspruchnahme des Urlaubs. Je größer der zeitliche Abstand zwischen Urlaubsjahr und Urlaubsgewährung ist, desto größer ist die Gefahr, dass der Zweck des Urlaubs verfehlt wird. Eine Ausnahme ist - unter weiteren Voraussetzungen - lediglich in den Fällen angebracht, in denen die in § 7 Abs. 3 BUrlG bestimmte Frist nicht ausreicht, um den durch Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleisteten Gesamturlaub als Summe aus dem alten und neuen Urlaub tatsächlich zu nehmen (vgl. und C-520/06 - [Schultz-Hoff] Rn. 43, Slg. 2009, I-179).

23f) Die in § 7 Abs. 3 BUrlG geregelte Befristung des Urlaubsanspruchs ist auch mit den von der Bundesrepublik Deutschland durch die Ratifizierung des Übereinkommens Nr. 132 der IAO übernommenen Verpflichtungen vereinbar (vgl.  - zu A II 1 der Gründe, BAGE 84, 140). Das Übereinkommen wirkt nicht unmittelbar auf Arbeitsverhältnisse in der Weise ein, dass es deren Inhalt normativ ausgestaltete. Vielmehr hat der Bundesgesetzgeber das deutsche Urlaubsrecht durch die Verabschiedung des Heimarbeitsänderungsgesetzes vom (BGBl. I S. 2879) den Vorgaben des Übereinkommens Nr. 132 der IAO entsprechend angepasst (ausführlich dazu:  - zu I 5 der Gründe, BAGE 75, 171). Danach hat der deutsche Gesetzgeber die Frist für die Inanspruchnahme des übertragenen Teils des Urlaubsanspruchs, die im Verhältnis zu Art. 9 Abs. 1 des Übereinkommens Nr. 132 der IAO erheblich kürzer ist, nicht geändert. Das steht nicht im Widerspruch zur Vorgabe des Übereinkommens Nr. 132 der IAO; dieses setzt mit 12 bzw. 18 Monaten lediglich eine Höchstfrist, die unterschritten werden darf, um den Arbeitnehmer zu einer zeitnahen Urlaubsnahme anzuhalten.

24g) Vertrauensgesichtspunkte vermag der Kläger nicht mit Erfolg ins Feld zu führen. Der Kläger kann deshalb nicht einwenden, er habe mit der ihn treffenden Obliegenheit, den Urlaub, den er - möglicherweise - in den Jahren 2005 bis 2007 ansammelte, bis zum zu nehmen, nicht rechnen müssen. Der Verfall von Urlaub am Ende des Urlaubsjahres respektive des Übertragungszeitraums entsprach der damaligen Rechtsprechung des Senats.

B. Der Kläger hat die Kosten der ohne Erfolg eingelegten Revision zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO.

Fundstelle(n):
GAAAI-19305