Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verwaltungsgutachten als alleinige Entscheidungsgrundlage des Tatsachengerichts
Gesetze: § 103 S 1 Halbs 1 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG, § 128 Abs 1 S 1 SGG, § 128 Abs 1 S 2 SGG, § 136 Abs 1 Nr 6 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 411a ZPO, § 415 ZPO, §§ 415ff ZPO
Instanzenzug: Az: S 11 R 56/19 Urteilvorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz Az: L 6 R 302/20 Urteil
Gründe
1I. Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
2Die Beklagte lehnte den Rentenantrag mit Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ab, nachdem sie Gutachten der Allgemeinmedizinerin F vom und des Neurologen und Psychiaters L vom eingeholt hatte. Die dagegen gerichtete Klage hat das SG nach Einholung eines Gutachtens auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet beim Sachverständigen B vom abgewiesen (Urteil vom ). Das LSG hat in dem von der Klägerin angestrengten Berufungsverfahren eine ergänzende Stellungnahme beim Sachverständigen B vom eingeholt. Mit Urteil vom hat es die Berufung zurückgewiesen. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der begehrten Rente hätten letztmals am vorgelegen. Ein spätestens zu diesem Zeitpunkt eingetretener Versicherungsfall lasse sich nicht nachweisen. Nach den schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten der Sachverständigen F und des Sachverständigen L, die im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung im Wege des Urkundenbeweises verwertbar seien, habe die Klägerin bezogen auf den jeweiligen Begutachtungszeitpunkt noch über ein Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten mit qualitativen Einschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verfügt. Es könne offenbleiben, ob ihr Leistungsvermögen seit Mai 2019 vollständig aufgehoben sei, wie der Sachverständige B annehme. Bezogen auf diesen Zeitpunkt fehle es jedenfalls an den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen. Die Annahme des Sachverständigen B in seiner ergänzenden Stellungnahme, teilweise Erwerbsminderung sei bereits im Jahr 2017 eingetreten, lasse sich anhand der seinerzeit erhobenen Befunde nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nachweisen. Weitere Ermittlungen zum Zeitpunkt des Eintritts des Leistungsfalls seien nicht veranlasst.
3Die Klägerin hat gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung Beschwerde zum BSG eingelegt, die sie mit Schriftsatz vom begründet hat.
4II. 1. Nach Schließung des 13. Senats zum durch Erlass des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 130 Abs 1 Satz 2 GVG) ist nach dem Geschäftsverteilungsplan nunmehr der 5. Senat des BSG zuständig.
52. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig, weil sie nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form begründet wird. Sie ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG zu verwerfen. Die Klägerin bezeichnet die von ihr geltend gemachten Verfahrensmängel nicht anforderungsgerecht.
6Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die den Verfahrensfehler (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist es erforderlich darzulegen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Den sich daraus ergebenden Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
7a) Die Klägerin rügt eine Verletzung der Begründungspflicht (§ 128 Abs 1 Satz 2 SGG und § 136 Abs 1 Nr 6 SGG), indem das LSG sich auf die Gutachten von Frau F und Herrn L gestützt habe, ohne hinreichend zu erörtern, dass diese die Mindestanforderungen an wissenschaftliche Gutachten erfüllen und im Wege des Urkundsbeweises herangezogen würden. Nach den genannten Vorschriften sind im Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Das Gericht muss nicht jeden Gesichtspunkt, der erwähnt werden könnte, ausdrücklich abhandeln. Aus den Entscheidungsgründen muss aber ersichtlich sein, auf welchen Erwägungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht die Entscheidung beruht (stRspr; vgl zB - juris RdNr 9 mwN). Bezüglich ärztlicher Gutachten aus dem Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren gilt, dass diese grundsätzlich als Urkunden iS des § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 415 ff ZPO verwertet werden können (grundlegend 9a RV 29/83 - SozR 1500 § 128 Nr 24 S 19; aus jüngerer Zeit zB - juris RdNr 9; - juris RdNr 10 mwN). Ein Tatsachengericht kann ein solches Verwaltungsgutachten zur alleinigen Entscheidungsgrundlage machen (vgl zB - BSGE 128, 78 = SozR 4-2700 § 200 Nr 5, RdNr 14; - BSGE 131, 10 = SozR 4-4200 § 22 Nr 110, RdNr 24) und ihm entgegen einem Gerichtsgutachten folgen (vgl zB - juris RdNr 4; - juris RdNr 6). Dies setzt allerdings voraus, dass das Gutachten bestimmten Mindestanforderungen entspricht ( 9a RV 45/82 - juris RdNr 12; vgl zu den aktuellen wissenschaftlichen Standards AWMF-Leitlinie "Allgemeine Grundlagen der medizinischen Gutachtung"; Überarbeitungsstand: 01/2019). Zudem muss dem Gericht der besondere Beweiswert des Gutachtens bewusst sein (vgl - juris RdNr 6). Hieraus wird für die Begründungspflicht des § 128 Abs 1 Satz 2 SGG abgeleitet, das Gericht habe in seiner Entscheidung zu erörtern und festzustellen, dass das Verwaltungsgutachten in Form und Inhalt den (Mindest-)Anforderungen entspreche, die an ein wissenschaftlich begründetes Sachverständigengutachten zu stellen sind. Zudem müsse es erkennen lassen, dass es das Verwaltungsgutachten gerade nicht als Sachverständigengutachten verwertet habe und ihm die Besonderheiten des Urkundenbeweises bewusst gewesen seien (so - juris RdNr 9; - BSGE 128, 78 = SozR 4-2700 § 200 Nr 5, RdNr 14; vgl auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 128 RdNr 7f). Die Beschwerdebegründung zeigt nicht auf, dass es hieran im angegriffenen Urteil fehlen könne.
8Es ist nicht hinreichend dargetan, dass das LSG den Beweiswert der Verwaltungsgutachten verkannt haben könne. Die Klägerin behauptet zwar unter Bezugnahme auf das ), das LSG habe nicht zum Ausdruck gebracht, dass es die Verwaltungsgutachten im Wege des Urkundsbeweises werte und ihm dessen Besonderheiten bewusst seien. Wie sie selbst mitteilt, hat das LSG jedoch in den Entscheidungsgründen festgehalten, die Gutachten von Frau F und Herrn L seien im Verwaltungs- bzw Widerspruchsverfahren eingeholt worden und würden im Wege des Urkundsbeweises verwertet. Hiermit setzt die Klägerin sich nicht auseinander. Soweit sie darauf abstellt, das LSG habe die von der Beklagten beauftragten Ärzte unzutreffend als "Sachverständige" bezeichnet, zeigt sie nicht auf, inwiefern allein dies Ausdruck eines vom LSG verkannten Beweiswerts der herangezogenen Gutachten sein könne, trotz seiner Ausführungen zum Urkundsbeweis und der ausdrücklichen Bezugnahme auf § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 415 ff ZPO. Hierbei hätte es nahegelegen darauf einzugehen, dass der Begriff "Sachverständiger" weder im SGG noch in der ZPO definiert wird (zur Abgrenzung vom Zeugen vgl zB Gehle in Anders/Gehle <vormals Baumbach/Lauterbach/Hartmann/Anders/Gehle>, Zivilprozessordnung, 79. Aufl 2021, Vor § 402 RdNr 4 mwN). Es hätte auch erwogen werden können, ob die Formulierung "gerichtlich oder staatsanwaltschaftlich eingeholte(s) Sachverständigengutachten" in § 411a ZPO nicht dafür spricht, dass der Begriff "Sachverständiger" auch andere als die vom Gericht bestellten Experten umfasst.
9Ebenso wenig ist mit der Beschwerdebegründung das Fehlen von Ausführungen im LSG-Urteil zu Form und Inhalt der Verwaltungsgutachten hinreichend dargetan. Die Klägerin bezieht sich auch insoweit auf das ). Im dort zugrundeliegenden Rechtsstreits war ein Verwertungsverbot bezüglich eines möglicherweise verfahrensfehlerhaft erstellten Verwaltungsgutachtens zu prüfen. Die Klägerin zeigt nicht auf, inwiefern im hier zugrundeliegenden Rechtsstreit eine vergleichbare Situation vorliegen könnte. Sie trägt nichts zu einer etwaigen Unverwertbarkeit der Gutachten von Frau F und Herrn L vor. Ungeachtet dessen bringt sie zwar vor, das LSG habe an keiner Stelle - ausdrücklich - ausgeführt, warum die herangezogenen Verwaltungsgutachten den Anforderungen an ein wissenschaftlich begründetes Sachverständigengutachten entsprechen würden. Sie setzt sich jedoch nicht damit auseinander, dass das LSG, wie sie selbst darstellt, sich auf knapp zwei Seiten mit den von Frau F bzw Herrn L erhobenen Befunden befasst und dazu ausgeführt, die darauf gestützten Beurteilungen seien jeweils schlüssig und nachvollziehbar.
10Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang vorbringt, das LSG habe nach ihrem Dafürhalten der Einschätzung des Sachverständigen B folgen müssen, wendet sie sich letztlich gegen die vorgenommene Beweiswürdigung. Auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG kann eine Nichtzulassungsbeschwerde jedoch wie ausgeführt nicht gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
11b) Die Klägerin rügt zudem eine Verletzung der tatrichterlichen Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 Satz 1 Halbsatz 1 SGG), indem das LSG ihrem in der Berufungsverhandlung "hilfsweise" gestellten Antrag auf Einholung eines weiteren neurologisch-psychiatrischen Gutachtens zu der Frage, ob ihre Erwerbsminderung spätestens am eingetreten sei, nicht gefolgt sei. Auch den Anforderungen an die Bezeichnung eines solchen Verfahrensmangels (vgl dazu zB - juris RdNr 8; - juris RdNr 7 mwN) wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Die Klägerin zeigt jedenfalls nicht auf, aus welchen Gründen sich das LSG insoweit zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen.
12Die Klägerin wiederholt insoweit ihren Vorwurf, das LSG habe im Berufungsurteil nicht hinreichend dargestellt, dass die Gutachten von Frau F und Herrn L die Mindestanforderungen an wissenschaftliche Gutachten erfüllen und im Wege des Urkundsbeweises herangezogen würden. Damit macht sie letztlich geltend, das LSG habe sich nicht auf die Verwaltungsgutachten stützen dürfen, und wendet sich wiederum unzulässigerweise gegen die Beweiswürdigung des LSG. Gleiches gilt für ihr Vorbringen, es habe lediglich ein Sachverständigengutachten vorgelegen, sodass die Ausführungen des LSG zur Beurteilung divergierender Sachverständigengutachten und der Nichterforderlichkeit eines sog Obergutachtens verfehlt seien. Soweit die Klägerin die Notwendigkeit weiterer Sachverhaltsermittlungen mit den Ausführungen in verschiedenen medizinischen Unterlagen begründet (Gutachten des Jobcenters vom ; Arztbrief des Dipl.-Psych. N vom ; Arztbrief der Neurologin E) setzt sie sich nicht damit auseinander, dass das LSG im Rahmen seiner Beweiswürdigung auch hierauf eingegangen ist.
13Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
143. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4 SGG.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2021:221221BB5R17521B0
Fundstelle(n):
OAAAI-04251