Misshandlung von Schutzbefohlenen: Anforderungen an ein rohes Misshandeln
Gesetze: § 225 Abs 1 StGB
Instanzenzug: LG Hildesheim Az: 14 KLs 17 Js 22765/20
Gründe
1Das Landgericht hat die Angeklagte wegen schwerer Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die auf die Sachrüge gestützte Revision der Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
21. Nach den Feststellungen stach die Angeklagte im Zeitraum von 2004 bis 2007 mit einer Kuchengabel in den Unterarm ihres 1992 geborenen Sohnes S. . Im selben Zeitraum schnitt sie mit einem Cuttermesser in seine Hand (Fälle 1 und 2). 2006 oder 2007 fesselte sie die Hände ihres Sohnes auf dem Rücken und stieß mit dem Stiel einer Fliegenklatsche gegen seinen Brustkorb, wodurch er starke Schmerzen und zahlreiche Hämatome erlitt (Fall 3).
3Im Jahr 2020 versorgte die Angeklagte ihren 2013 geborenen Sohn A. nicht ausreichend mit Nahrung. Sie verweigerte ihm Essen, obwohl er äußerte, Hunger zu haben. Zudem schloss sie ihn gelegentlich für mehrere Stunden im Badezimmer ein, wenn sie die Wohnung verließ. A. verlor von Februar bis Mitte Juni 2020 zwanzig Prozent seines ohnehin schon geringen Körpergewichts, war extrem abgemagert und hatte ein „Greisengesicht“. Sein Ernährungszustand war potentiell lebensbedrohlich. Nach seinem Auffinden durch die Polizei musste er mehrere Wochen stationär behandelt werden (Fall 4). Wenige Tage vor der Krankenhauseinweisung hatte die Angeklagte mehrfach wuchtig mit einer Thermoskanne auf den Kopf ihres Sohnes geschlagen, der hierdurch erhebliche Schmerzen, eine Schwellung sowie mehrere Hämatome erlitt (Fall 5).
4Die Strafkammer, die keine konkreten Anlässe für die Misshandlungen hat feststellen können, hat in den Fällen 1 bis 3 und 5 gemäß § 225 Abs. 1 StGB jeweils die Tatmodalität des rohen Misshandelns und im Fall 4 die des Quälens sowie die Qualifikationen gemäß § 225 Abs. 1, 3 Nr. 1 2. Alt. und Nr. 2 StGB als erfüllt angesehen.
52. Die Schuldsprüche in den Fällen 1 bis 3 sowie 5 halten rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil Feststellungen zur jeweiligen Tathandlung lückenhaft sind.
6Ein rohes Misshandeln im Sinne des § 225 Abs. 1 StGB liegt vor, wenn der Täter einem anderen eine Körperverletzung aus gefühlloser Gesinnung zufügt, die sich in erheblichen Handlungsfolgen äußert. Eine gefühllose Gesinnung ist gegeben, wenn der Täter bei der Misshandlung das - notwendig als Hemmung wirkende - Gefühl für das Leiden des Misshandelten verloren hat, das sich bei jedem menschlich und verständlich Denkenden eingestellt hätte (st. Rspr.; vgl. , NStZ 2007, 405; Urteile vom - 3 StR 633/14, NStZ-RR 2015, 369, 370; vom - 1 StR 404/17, NStZ-RR 2018, 209, 210). Das Tatbestandsmerkmal erfordert eine sorgfältige Darstellung nicht nur der objektiven Tatseite, sondern auch der Gesinnung des Täters (vgl. ).
7Daran fehlt es. Den Urteilsgründen ist zu entnehmen, dass sich die anfänglich liebevolle Beziehung der Angeklagten zu ihren Kindern mit deren zunehmender Selbständigkeit veränderte. Es sei zu den Tathandlungen gekommen, weil der Angeklagten „irgendetwas an dem Verhalten ihres Sohnes nicht passte“ oder sie sich „über ein nicht mehr feststellbares Verhalten ärgerte“. Diese Ausführungen belegen eine gefühllose Gesinnung nicht, zumal die Strafkammer festgestellt hat, dass die Angeklagte mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert war.
83. Der Schuldspruch in Fall 4 hat Bestand. Aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe, insbesondere den Feststellungen zum erkennbar schlechten Zustand des Kindes, ergibt sich noch hinreichend, dass die durch die Misshandlung verursachte Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung vom Vorsatz der Angeklagten umfasst war (vgl. zum Erfordernis des Vorsatzes mwN).
94. Die Aufhebung der Schuldsprüche zieht im Fall 5 die Aufhebung der an sich rechtsfehlerfrei festgestellten tateinheitlichen Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) nach sich. Darüber hinaus entzieht sie dem Gesamtstrafenausspruch die Grundlage. Hingegen können die rechtsfehlerfreien Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Ergänzende Feststellungen dürfen getroffen werden, wenn sie den bisherigen nicht widersprechen.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:021121B6STR462.21.0
Fundstelle(n):
TAAAI-01974