BGH Beschluss v. - 2 StR 307/20

Revisionsrüge der vorschriftswidrige Besetzung des Gerichts: Berufsbedingte Verhinderung eines Schöffen

Gesetze: § 54 Abs 1 S 1 GVG, § 54 Abs 1 S 2 GVG, § 77 Abs 1 GVG, § 77 Abs 3 S 3 GVG, § 229 StPO, § 338 Nr 1 Buchst b DBuchst bb StPO

Instanzenzug: Az: 2 StR 307/20 Beschlussvorgehend LG Gießen Az: 702 Js 8610/12 - 7 KLsnachgehend Az: 2 StR 307/20 Beschluss

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum unerlaubten Umgang mit gefährlichen Abfällen in 56 Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 350 Tagessätzen zu je 150 Euro verurteilt. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten dringt mit der Rüge der vorschriftswidrigen Gerichtsbesetzung (§ 338 Nr. 1 Buchst. b) bb) StPO) durch; auf die Sachrüge kommt es damit nicht an.

I.

2Der Rüge, mit der die Revision geltend macht, die Strafkammer sei in der Person der Schöffin Gö.  nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, liegt im Wesentlichen folgendes Verfahrensgeschehen zu Grunde:

3Mit Verfügung vom bestimmte der Vorsitzende der Strafkammer Termin zur Hauptverhandlung auf den mit zunächst 19 Fortsetzungsterminen im Zeitraum vom bis zum , darunter der , der und der . Die zur Mitwirkung an der Hauptverhandlung berufene Schöffin D.   teilte telefonisch und unter Vorlage einer Bescheinigung mit, dass sie dienstlich als betreuende Lehrkraft im Zeitraum vom 4. bis zum bei einer Klassenfahrt in den Niederlanden eingesetzt sei und bat um Freistellung. Mit Verfügung vom entband der Vorsitzende diese Schöffin von ihrer Dienstleistung, wobei er ein Formular verwandte, auf dem als Freistellungsgrund „Urlaub“ angekreuzt und handschriftlich „Klassenfahrt Holland“ ergänzt war.

4Vor Beginn der Vernehmung zur Sache rügte der Angeklagte in der Hauptverhandlung die Besetzung der Strafkammer. In seiner hierdurch veranlassten dienstlichen Erklärung gab der Vorsitzende mit Bezug auf die Schöffin D.    unter anderem an, das Ankreuzen des Feldes „Urlaub“ sei missverständlich. Ihm sei klar gewesen, dass es sich um eine beruflich begründete Verhinderung dieser Schöffin gehandelt habe, bei der erkennbar gewesen sei, dass sie sich nicht verschieben oder durch eine Vertretung habe wahrnehmen lassen. Eine Aufhebung des Termins am sei vor dem Hintergrund des Verfahrensalters dieser Nichthaftsache und des voraussichtlichen Erfordernisses weiterer Termine nicht in Betracht gekommen.

5Mit Beschluss vom wies die Strafkammer den Besetzungseinwand des Angeklagten zurück. Auch wenn für den noch keine Zeugen geladen worden seien und eine Aufhebung des Termins unter Wahrung der Höchstfrist des § 229 StPO möglich gewesen sei, sei es nicht fehlerhaft gewesen, dass der Vorsitzende an dem Termin vom festgehalten habe. Einer Erstreckung von Verhandlungsterminen oder einer Terminierung von mehr als zwei Tagen wöchentlich stehe ausweislich eines ärztlichen Gutachtens auch der Gesundheitszustand des Angeklagten G.   entgegen.

6Für die Schöffin D.   nahm sodann die Schöffin Gö.   an der 49-tägigen, vom bis zum andauernden Hauptverhandlung teil.

II.

7Die auch im Sinne des § 338 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b) bb) StPO zulässige Verfahrensrüge hat Erfolg.

81. Die auf der Grundlage des § 77 Abs. 1 GVG in Verbindung mit § 54 Abs. 1 GVG erfolgte Entscheidung über die Entbindung der Schöffin D.    ist angesichts der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung der § 54 Abs. 3 Satz 1 GVG, § 336 Satz 2 1. Alt. StPO grundsätzlich nicht anfechtbar. Sie ist daher vom Revisionsgericht nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur darauf hin zu überprüfen, ob sie sich unter Berücksichtigung des Grundgedankens des § 54 GVG als unvertretbar und damit als objektiv willkürlich erweist (Senat, Urteil vom - 2 StR 32/82, BGHSt 31, 3, 5; , BGHSt 59, 75; Beschluss vom - 5 StR 276/15, NStZ 2015, 714). Willkür in diesem Sinne liegt freilich nicht erst bei einer bewussten Fehlentscheidung, sondern bereits dann vor, wenn die mit der Entbindung der Schöffin verbundene Bestimmung des gesetzlichen Richters grob fehlerhaft ist (Senat, Urteil vom - 2 StR 32/82, BGHSt 31, 3, 5) und sich so weit vom Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, dass sie nicht mehr gerechtfertigt werden kann (BVerfGE 23, 288, 320; Senat, Urteil vom - 2 StR 105/70, BGHSt 25, 66, 71).

92. Dies ist hier der Fall. Die Entscheidung des Vorsitzenden vom , der Schöffin D.    könne eine Dienstleistung nicht zugemutet werden, lässt besorgen, dass sie auf unzutreffender tatsächlicher Grundlage getroffen wurde und damit einhergehend die Bedeutung des grundrechtsgleichen Rechts des Angeklagten auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) außer Acht gelassen hat.

10a) Der Begriff der Verhinderung (§ 54 Abs. 1 Satz 2 GVG) ist streng auszulegen; Bedeutung und Gewicht des Schöffenamtes verlangen, dass der Schöffe in zumutbaren Grenzen berufliche und private Interessen zurückstellt (, NJW 1977, 443 mwN). Während der auf anberaumte Sitzungstage fallende und mit Ortsabwesenheit einhergehende Erholungsurlaub eines Schöffen ein Umstand ist, der in der Regel zur Unzumutbarkeit der Dienstleistung führt (vgl. , NStZ 2018, 616), rechtfertigen berufliche Gründe nur ausnahmsweise die Verhinderung eines Schöffen (st. Rspr., vgl. nur Senat, Urteil vom − 2 StR 76/14, NStZ 2015, 350, 351 mwN).

11b) Über die Anerkennung der Unzumutbarkeit der Schöffendienstleistung hat der zur Entscheidung berufene Richter unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere unter Berücksichtigung der Belange des Schöffen, des Verfahrensstands und der voraussichtlichen Dauer des Verfahrens, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden (Senat, Urteile vom - 2 StR 76/14, NStZ 2015, 350, 351 und - 2 StR 342/15, NStZ 2017, 491, 492; , BGHSt 28, 61, 66). Dabei hat er stets zu beachten, dass die hohe Bedeutung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nicht nur strenge materiell-rechtliche Maßstäbe bei der Anwendung des § 54 Abs. 1 GVG fordert, sondern auch entsprechende formale Anforderungen an die Überzeugungsbildung des zur Entscheidung berufenen Richters stellt (vgl. Senat, Urteil vom - 2 StR 76/14, NStZ 2015, 350, 352). Diejenigen Umstände, welche die Annahme der Unzumutbarkeit der Schöffendienstleistung tragen, sind - zumindest in gedrängter Form - aktenkundig zu machen. Nur durch deren ausreichende Dokumentation ist dem Rechtsmittelgericht in Fällen, in denen die Unzumutbarkeit der Schöffendienstleistung nicht auf der Hand liegt, eine Überprüfung der Ermessensentscheidung am Maßstab der Willkür möglich (vgl. Senat, Urteil vom - 2 StR 342/15, NStZ 2017, 491, 492). Dies gilt jedenfalls bei einer - wie hier - Verhinderung aus beruflichen Gründen (vgl. ).

12c) Gemessen hieran ist die Entscheidung des Vorsitzenden vom nicht mehr vertretbar. Soweit in dem zur Begründung der Entscheidung in Bezug genommenen Vermerk der Geschäftsstelle als Grund für das Freistellungsgesuch der Schöffin „Urlaub von 4.6. bis 8.6“ angekreuzt ist, ist der angenommene Verhinderungsgrund unzutreffend. Es handelte sich nicht um eine Urlaubsreise der Schöffin, sondern um eine beruflich veranlasste Ortsabwesenheit. Allein der handschriftliche Vermerk „Klassenfahrt“ lässt nicht erkennen, ob die unterschiedlichen Voraussetzungen für die Annahme einer Unzumutbarkeit der Schöffendienstleistung bei urlaubs- und bei berufsbedingter Abwesenheit sowie die daraus folgende Bedeutung des genauen Verhinderungsgrunds der Schöffin beachtet wurden. Dies wird der Bedeutung des Rechts auf den gesetzlichen Richter nicht gerecht (vgl. Senat, Urteil vom - 2 StR 76/14, NStZ 2015, 350, 352). Es ist weder erkennbar, ob der Schöffin beispielsweise eine kurze Unterbrechung der Klassenfahrt zumutbar hätte sein können, oder ihrer nur einen von 19 bereits terminierten Verhandlungstagen betreffende Verhinderung auf andere Weise, etwa durch eine Unterbrechung der Hauptverhandlung (§ 229 StPO), hätte Rechnung getragen werden können, noch ist in Ermangelung einer weitergehenden, wenigstens schlagwortartigen Dokumentation der Ermessenserwägungen ersichtlich, ob dies überhaupt - wie von Gesetzes wegen geboten - geprüft wurde.

133. Die nachträglich, erst im Zusammenhang mit dem Ablehnungsgesuch aktenkundig gemachten Erwägungen des Vorsitzenden dazu, dass eine Aufhebung des bereits anberaumten Fortsetzungstermins vom „nicht geboten“ gewesen sei, vermögen schon mit Blick auf den Zeitpunkt ihrer Abgabe die Entbindungsentscheidung nicht zu rechtfertigen (vgl. Senat, Urteil vom − 2 StR 342/15, NStZ 2017, 491, 492).

14Sie wären aber auch in der Sache nicht tragfähig. Die im Nachhinein gegebene Begründung, „vor dem Hintergrund des Verfahrensalters und des voraussichtlichen Erfordernisses weiterer Termine“ sei eine Aufhebung des Termins vom „nicht geboten“ gewesen, ist schon in sich widersprüchlich, denn die ohnedies gegebene Notwendigkeit weiterer Termine spricht für und nicht gegen eine Verlegung des Termins vom . Aus dem Umstand, dass ein Vorsitzender, dem die Terminierung der Hauptverhandlung obliegt, nicht verpflichtet ist, mit sämtlichen Prozessbeteiligten vor der Terminierung Fühlung aufzunehmen, um etwaige Verhinderungsgründe zu ermitteln und zu berücksichtigen, insbesondere auch nicht mit Schöffen, weil das GVG deren möglicher Verhinderung durch die Bereitstellung von Hilfsschöffen Rechnung trägt (vgl. , Rn. 5), folgt nicht, dass eine zeitweise Verhinderung eines Schöffen zwangsläufig die Notwendigkeit nach sich zieht, diesen von der Dienstleistung zu entbinden. Vielmehr hat der Vorsitzende unter Beachtung des ihm auch nach § 54 Abs. 1 Satz 1, § 77 Abs. 3 Satz 3 GVG eingeräumten Ermessens zu entscheiden, ob namentlich bei einer beruflichen Verhinderung eines Schöffen dieser durch Terminsverschiebung oder durch eine Unterbrechung der Verhandlung (§ 229 StPO) Rechnung getragen werden kann, insbesondere, wenn es sich - wie hier - um eine verhältnismäßig kurze Ortsabwesenheit handelt (vgl. , NJW 1977, 443). Bei der vorliegend gegebenen Sachverhaltslage ist nicht erkennbar, dass ein prozessordnungsgemäß mögliches Aufheben oder Verlegen des einzigen von der Verhinderung der Schöffin betroffenen Termins vom zu einer Verfahrensverzögerung in diesem oder in einem anderen bei der Strafkammer anhängigen Verfahren hätte führen können. Dies gilt insbesondere, weil - wie sich aus der dienstlichen Stellungnahme des Vorsitzenden ergibt - ohnehin weitere Termine erforderlich, der Verlauf der umfangreichen Hauptverhandlung nicht absehbar und für den noch kein Beweisprogramm vorgesehen waren und - wie sich aus der Zurückweisung des Besetzungseinwandes durch die Strafkammer ergibt - der Gesundheitszustand des Angeklagten die Dauer eines Verhandlungstags auf vier bis fünf Stunden begrenzte. Eine durch die Verlegung des Termins bedingte mögliche Erschwerung des Ablaufs der Hauptverhandlung, der Beweisführung oder gar ein drohender Beweismittelverlust ist ebenfalls nicht ersichtlich. Nicht nachvollziehbar ist auch der - pauschale - Hinweis darauf, dass Kapazitäten der Strafkammer für vorrangig zu behandelnde Verfahren freizuhalten seien; bei einer Aufhebung oder Verlegung des Termins vom hätte dieser gerade für solche vorrangig zu behandelnden Verfahren zur Verfügung gestanden.

153. Die damit notwendige Aufhebung des Urteils hat auch die Aufhebung der Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO) zur Folge (vgl. MüKo-StPO/Knauer/Kudlich, 1. Aufl., StPO, § 353 Rn. 38). Die Sache bedarf insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:050821B2STR307.20.0

Fundstelle(n):
NJW 2021 S. 10 Nr. 47
NJW 2021 S. 3735 Nr. 51
wistra 2022 S. 115 Nr. 3
wistra 2022 S. 3 Nr. 1
SAAAH-94356