Jugendstrafsache: Verhängung einer Jugendstrafe wegen schädlicher Neigungen
Gesetze: § 17 Abs 2 JGG
Instanzenzug: LG Hanau Az: 3361 Js 10347/18 - 2 KLs
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten S. wegen gefährlicher Körperverletzung tateinheitlich mit Sachbeschädigung zu einer Jugendstrafe von neun Monaten verurteilt und die Vollstreckung dieser Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Den Angeklagten J. hat es wegen dieser Taten und zudem wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt und diese Strafe ebenfalls zur Bewährung ausgesetzt. Außerdem hat es eine Entscheidung nach § 69a StGB getroffen. Die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft haben den aus der Urteilsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen sind sie unbegründet.
I.
21. Nach den Feststellungen des Landgerichts arbeitete der Nebenkläger U. seit einiger Zeit in der Firma C. des Angeklagten J. ohne Beanstandungen. Kurz vor dem , dem Tattag, gab es allerdings eine Beschwerde eines Kunden, wonach während der Reinigung seines Fahrzeugs ein Brandloch im Fahrersitz verursacht worden sei. Die Betriebshaftpflichtversicherung des Angeklagten J. lehnte die Regulierung des Schadens ab; der Nebenkläger bestritt, den Schaden verursacht zu haben.
3Am erschien der Nebenkläger zur Arbeit, wurde aber von einem Kollegen, der ihm dies von dem Angeklagten J. ausrichtete, wieder nach Hause geschickt. Daraufhin rief U. den Angeklagten S. an, der mit seiner Firma eng mit dem Angeklagten J. zusammenarbeitete. Dieser teilte ihm mit, dass keine Arbeit für ihn da sei. Der Nebenkläger fuhr sodann nach H. , um dort mit einem Bekannten Kaffee zu trinken. Der Angeklagte J. hatte unmittelbar zuvor am Arbeitsplatz des Nebenklägers festgestellt, dass an einem von diesem gereinigten Fahrzeug mit einem verschmutzten Schwamm der Lack verkratzt worden war. Er ärgerte sich hierüber und über die vorangegangene Beschädigung, für die er den Nebenkläger verantwortlich machte. Deswegen folgte er dessen Fahrzeug und nahm hierbei den Mitangeklagten S. mit. Im Laufe der Fahrt verständigten sich die Angeklagten, „dem Nebenkläger mittels einer mitgeführten Metallstange und Pfefferspray dessen vermeintliches Fehlverhalten zu verdeutlichen“.
4Der Nebenkläger parkte gegen 10.45 Uhr - in H. angekommen - sein Fahrzeug. Die Angeklagten liefen zu ihm hin. Ohne Vorankündigung und ohne mit ihm über die gegen ihn im Raum stehenden Vorwürfe zu sprechen, schlug der Angeklagte S. mit der Metallstange zunächst die Front- und Heckscheibe und anschließend die Seitenscheiben auf der Fahrerseite ein. Nachdem U. ausgestiegen war, sprühte der Angeklagte J. ihm unvermittelt ohne weitere Erklärung Pfefferspray ins Gesicht. Dadurch erlitt der Nebenkläger Schmerzen, Juckreiz, Rötungen und Schwellungen beider Augen, verbunden mit vorübergehender Sehschwäche. Die Angeklagten liefen daraufhin zu ihrem Fahrzeug zurück und stiegen ein, um fortzufahren. Der Nebenkläger lief hinterher und fragte die Angeklagten durch ein geöffnetes Seitenfenster, was los sei. Sie erklärten ihm, er habe einen Schaden in Höhe von 2.000 Euro verursacht, für den sie - die Angeklagten - in Anspruch genommen würden. U. konnte sich nicht erklären, wie die Angeklagten auf diese Forderung kamen.
5Der Angeklagte J. fuhr nunmehr mit seinem Auto los, stellte aber alsbald fest, dass er in einer Sackgasse festsaß, und wendete. Zwischenzeitlich hatte der Nebenkläger sein Fahrzeug mittig auf die Fahrbahn gestellt, um zu verhindern, dass die Angeklagten flüchteten. J. rammte das im Weg stehende Fahrzeug des Nebenklägers sowie einen weiteren am Straßenrand geparkten PKW. An beiden Fahrzeugen entstand erheblicher Sachschaden, der PKW des Nebenklägers erlitt sogar einen Totalschaden. Ungeachtet dessen fuhr der Angeklagte J. ohne weiteres Zuwarten weiter.
62. Circa zwei Stunden später korrespondierte der Nebenkläger, der den Angeklagten S. vergeblich aufgefordert hatte, ihn „sofort“ anzurufen, mit diesem per WhatsApp, um mit ihm den Vorfall zu klären. Es kam zu einem Austausch von Nachrichten, in dem S. antwortete „2.000 € bis übermorgen, sonst werden wir uns noch einmal sehen“. U. entgegnete, was „mit 2.000 €“ sei, fragte, was er angestellt habe und forderte S. auf, ihm das mitzuteilen und ans Telefon zu gehen. Dieser antwortete nur, „hast Du verstanden oder nicht verstanden“ und „Es gibt keine Erklärung“. Danach kam es zu keinem weiteren Kontakt zwischen dem Angeklagten S. und dem Nebenkläger.
73. Die Angeklagten haben sich in der Hauptverhandlung beim Nebenkläger entschuldigt. J. hat ihm darüber hinaus vollständig den von ihm verlangten Schadensersatzbetrag für den im Einzelnen bezifferten materiellen und immateriellen Schaden in Höhe von über 4.000 € gezahlt.
II.
81. Die Revision hinsichtlich des Angeklagten J.
9Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg, soweit das Landgericht dem Angeklagten Strafaussetzung zur Bewährung gewährt hat. Im Übrigen bleibt sie erfolglos.
10a) Das Rechtsmittel, das die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom begründet hat, ist wirksam auf den Tatvorwurf wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung sowie auf die Anordnung von Strafaussetzung zur Bewährung beschränkt. Zwar wird die umfassende Aufhebung des Urteils ohne Einschränkung beantragt, doch beschränkt sich die Revisionsbegründung auf Ausführungen zum Konkurrenzverhältnis zur Verurteilung von gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung sowie zur Gewährung von Strafaussetzung zur Bewährung. Beanstandungen des Schuldspruchs wegen „Unfallflucht“ und der hierfür verhängten Einzelstrafe enthält die Begründung des Rechtsmittels ebenso wenig wie Ausführungen zum Maßregelausspruch nach den §§ 69, 69a StGB. Somit widersprechen sich Revisionsantrag und Inhalt der Revisionsbegründung. In einem solchen Fall ist nach ständiger Rechtsprechung das Angriffsziel des Rechtsmittels durch Auslegung zu ermitteln (st. Rspr.; vgl. etwa BGH StV 2019, 245). Nach dem insoweit maßgeblichen Sinn der Revisionsbegründung sind deshalb die Verurteilung wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort mit der dafür verhängten Einzelstrafe sowie die Anordnung der isolierten Sperrfrist vom Rechtsmittelangriff ausgenommen. Diese Rechtsmittelbeschränkung ist auch wirksam.
11b) Die Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung hält rechtlicher Nachprüfung stand. Dies gilt auch, soweit das Landgericht von einer tateinheitlichen Begehung der verwirklichten Delikte ausgegangen ist.
12Bei dem festgestellten Sachverhalt handelt es sich nach natürlicher Betrachtungsweise um ein in sich geschlossenes, zusammengehörendes, einheitliches Geschehen im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit (vgl. dazu Fischer, StGB, 68. Aufl., vor § 52, Rn. 3 m. zahlr. Nachweisen zur st. Rspr.). Schon nach seinem äußeren Erscheinungsbild stellt sich das nicht unterbrochene Handeln der Angeklagten am PKW des Nebenklägers, das von einer einheitlichen Zielrichtung getragen war und bei dem sie lediglich das Angriffsmittel wechselten, wegen seines räumlich und zeitlich engen Zusammenhangs als ein einheitlicher Vorgang dar. Auf der Grundlage der Feststellungen ist daher die Annahme von Tateinheit im Sinne einer natürlichen Handlungseinheit nicht zu beanstanden.
13c) Auch der Ausspruch über die Einzelstrafe wie auch die Festsetzung der Gesamtstrafe als solche begegnen keinen rechtlichen Bedenken. Hingegen erweist sich die von der Staatsanwaltschaft beanstandete Strafaussetzung zur Bewährung auch unter Berücksichtigung des lediglich eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsumfangs als durchgreifend rechtsfehlerhaft.
14Anhand der äußerst knappen Erwägungen der Strafkammer ist es dem Senat schon nicht möglich nachzuvollziehen, ob diese zu Recht von einer positiven Sozialprognose im Sinne von § 56 Abs. 1 StGB ausgegangen ist. Das Landgericht beschränkt sich insoweit auf einen Hinweis zur festen sozialen Einbettung des Angeklagten, zu seiner Berufstätigkeit und zum vollständigen Schadensausgleich, ohne sich - wie es erforderlich gewesen wäre - auch mit gegen ihn sprechenden Umständen auseinander zu setzen. Dabei wären insbesondere die verschiedenen Vorstrafen des Angeklagten aus den Jahren 2011 bis 2019 in den Blick zu nehmen und dabei insbesondere die Verurteilungen wegen mehrerer Raubtaten aus dem Jahre 2013 zu erörtern gewesen. Dass vor diesem Hintergrund zu erwarten ist, dass sich der Angeklagte bereits die jetzige Verurteilung zur Warnung dienen lassen wird, versteht sich nicht von selbst. Der Senat kann angesichts dieses Würdigungsdefizits nicht ausschließen, dass das Landgericht bei umfassender Prüfung bereits das Vorliegen einer positiven Sozialprognose verneint hätte. Im Übrigen erweist sich auch die Annahme besonderer Umstände im Sinne von § 56 Abs. 2 StGB als lückenhaft begründet. Dass der Angeklagte - worauf die Strafkammer zur Begründung allein hinweist - durch die Hauptverhandlung „beeindruckt“ war, kann allein schon mit Blick auf die Höhe der festgesetzten Freiheitsstrafe (vgl. BGH wistra 1994, 193) die Annahme besonderer Umstände nicht rechtfertigen. Ob das Landgericht die zur Begründung der positiven Sozialprognose herangezogenen Umstände auch bei der Prüfung des § 56 Abs. 2 StGB herangezogen hat, lässt sich den Urteilsgründen nicht zuverlässig entnehmen.
152. Die Revision bezüglich des Angeklagten S.
16Die der Sache nach insoweit nicht beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung des Freispruchs im Fall II.2 der Urteilsgründe sowie des Strafausspruchs im Fall II.1 der Urteilsgründe, insoweit auch zugunsten des Angeklagten. Im Übrigen bleibt das Rechtsmittel erfolglos.
17a) Der Freispruch im Fall II.2 der Urteilsgründe hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Annahme des Landgerichts, der Angeklagte, dem eine versuchte räuberische Erpressung vorgeworfen worden war, habe sich wegen des festgestellten Sachverhalts nicht strafbar gemacht, begegnet durchgreifenden Bedenken.
18Die Beschwerdeführerin beanstandet zu Recht, dass bei ihrer Beweiswürdigung den Inhalt der vom Angeklagten an den Nebenkläger versandten Nachrichten verkürzt und damit ihren Bedeutungsgehalt nicht vollständig ausgeschöpft hat. Die konkrete Aufforderung zur Zahlung eines Betrags von 2.000 €, verbunden mit dem Hinweis „sonst werden wir uns noch einmal sehen“, erschöpft sich nicht in der bloßen Ankündigung, im Falle von Nichtzahlung „wiederzukommen“, sondern stellt einen deutlichen Bezug zu dem vorangegangenen Übergriff auf den Nebenkläger her, der mit einem Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit verbunden war. Das Landgericht hätte deshalb mit Blick auf das nur kurze Zeit zurückliegende Tatgeschehen erörtern müssen, ob der Angeklagte insoweit zur Herbeiführung von Zahlungsbereitschaft konkludent mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben des Nebenklägers gedroht hat.
19b) Im Rahmen der vom neuen Tatrichter vorzunehmenden Prüfung einer Strafbarkeit nach §§ 253, 255 StGB bzw. § 240 StGB wird bei Annahme einer tatbestandsmäßigen Drohung das Vorliegen eines Tatentschlusses beim Angeklagten genauer in den Blick zu nehmen sein. Auf die diesbezüglichen Ausführungen des Generalbundesanwalts in seiner Zuschrift vom wird insoweit Bezug genommen. Schließlich wird - sollte auch ein entsprechender Tatentschluss festgestellt werden - zu erörtern sein, ob der Angeklagte, der nach den bisherigen Feststellungen die Sache über den einmaligen WhatsApp-Austausch hinaus nicht weiter verfolgt hat, strafbefreiend nach § 24 Abs. 1 1. Alt. StGB vom Versuch zurückgetreten ist. Feststellungen zum maßgeblichen Rücktrittshorizont des Angeklagten hatte das Landgericht von seinem Standpunkt aus folgerichtig nicht getroffen.
20c) Der Schuldspruch im Fall II.1 der Urteilsgründe ist dagegen - auch in konkurrenzrechtlicher Sicht - nicht zu beanstanden.
21d) Der Strafausspruch im Fall II.1 der Urteilsgründe unterliegt schon wegen der erfolgreichen Anfechtung des Freispruchs im Fall II.2 der Aufhebung, ohne dass es insoweit noch auf die von der Beschwerdeführerin hiergegen und die Strafaussetzung zur Bewährung erhobenen Einwände ankommt. Er weist aber zudem auch Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf (§ 301 StPO).
22aa) Das Landgericht hat die Verhängung von Jugendstrafe allein auf das Vorliegen schädlicher Neigungen gestützt und dies mit der „massiven Tatbegehung aus nichtigem Anlass“ und einem „hohen Aggressionspotential“ begründet. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Schädliche Neigungen im Sinne von § 17 Abs. 2 JGG sind erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel, die ohne längere Gesamterziehung des Täters die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Sie können in der Regel nur bejaht werden, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel, aus denen sich eine Neigung zur Begehung von Straftaten ergibt, schon vor der Tat angelegt waren. Die schädlichen Neigungen müssen auch noch zum Urteilszeitpunkt bestehen und weitere Straftaten befürchten lassen (st. Rspr.; vgl. nur Senat NStZ-RR 2015, 323 mwN). Aus den vom Landgericht getroffenen Feststellungen ergibt sich schon nicht hinreichend, dass in dem Angeklagten bereits vor der Tat auf schädliche Neigungen hinweisende Persönlichkeitsmängel angelegt waren. Von der Verfolgung von zwei Taten des Diebstahls geringwertiger Sachen (Schokolade) und der Beförderungserschleichung ist in den Jahren 2015 und 2016 gemäß § 45 Abs. 2 JGG abgesehen worden; das kann bereits dafür sprechen, dass die Straftaten als so geringfügig zu bewerten sind, dass sie für die Annahme des Vorhandenseins schädlicher Neigungen beim Angeklagten nicht herangezogen werden können. Entsprechendes gilt auch für ein Strafverfahren wegen eines Betrugs, das am mit einer gerichtlichen Ermahnung und einer Geldauflage eingestellt worden ist. Dass sich aus dem festgestellten Drogenkonsum des Angeklagten, der auch Auslöser für einen Verkehrsunfall im Dezember 2018 war und zu einer Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft geführt hat, noch zum Zeitpunkt der Aburteilung bestehende Anlage- und Erziehungsmängel ergeben hätten, ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen, liegt im Übrigen aber auch nicht auf der Hand, weil der Angeklagte nach seinen Angaben den Drogenkonsum nach dem Verkehrsunfall eingestellt hat. Im Übrigen rechtfertigen die Ausführungen des Landgerichts zur massiven Tatbegehung und zum hohen Aggressionspotential des Angeklagten für sich genommen nicht die Anordnung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld, weil maßgeblicher Anknüpfungspunkt hierfür die innere Tatseite ist und dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat, den das Landgericht vor allem mit seinem Hinweis beschreibt, nur insofern Bedeutung zukommt, als hieraus Schlüsse auf die charakterliche Haltung des Täters und das Maß der persönlichen Schuld gezogen werden können (st. Rspr.; vgl. nur , NStZ-RR 2018, 358 mwN).
23bb) Die Bemessung der Jugendstrafe (§ 18 Abs. 2 JGG) geht im Übrigen an den Maßstäben des Jugendstrafrechts vorbei. Die dafür in Bezug genommenen Gründe enthalten keine Hinweise auf den Erziehungsbedarf, der vorrangig für die Höhe der Jugendstrafe bestimmend sein soll (vgl. etwa Senat, NStZ 2018, 662).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2021:030321U2STR218.20.0
Fundstelle(n):
EAAAH-94096