BVerwG Beschluss v. - 4 BN 49/19

Überspannte Anforderungen an die Darlegung der Antragsbefugnis im Normenkontrollverfahren

Gesetze: § 47 Abs 2 S 1 VwGO, § 1 Abs 7 BauGB, § 2205 BGB, § 2211 BGB, § 2212 BGB

Instanzenzug: Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg Az: 3 S 2458/18 Urteil

Gründe

1Die Beschwerde hat Erfolg.

21. Die Revision ist allerdings nicht nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung.

3Grundsätzlich bedeutsam ist eine Rechtssache, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zu Grunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist.

4Der Antragsteller hält für grundsätzlich klärungsbedürftig,

ob und unter welchen Voraussetzungen die Beeinträchtigung bzw. Verriegelung einer besonderen Aussichtslage als Folge der Umsetzung eines Bebauungsplans zu den in die Abwägung gemäß § 1 Abs. 7 BauGB einzustellenden rechtlichen Interessen i.S.d. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO zählt.

5Die Frage führt nicht zur Zulassung der Revision, denn sie ist so unbestimmt formuliert, dass sie für eine Vielzahl gedachter Fallgestaltungen einer Antwort zugänglich ist. Es ist nicht Aufgabe der Revisionsinstanz, abstrakte Rechtsfragen im Stil einer Kommentierung für alle denkbaren Sachverhaltsvarianten aufzuarbeiten (stRspr, vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom - 4 BN 2.18 - ZfBR 2018, 469 Rn. 2 und vom - 4 BN 28.17 - BauR 2018, 1724 Rn. 13). Wann ein privater Belang so stark betroffen ist, dass er im Rahmen der Abwägung besonders beachtet werden muss, lässt sich im Übrigen nicht allgemeinverbindlich festlegen. Das gilt auch für den vom Antragsteller geltend gemachten privaten Belang der Erhaltung einer besonderen Aussichtslage. Dessen Bedeutung unterliegt zudem weitgehend der tatrichterlichen Beurteilung durch das Normenkontrollgericht (BVerwG, Beschlüsse vom - 4 BN 38.00 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 142 = juris Rn. 10 und vom - 4 BN 44.15 - juris Rn. 8).

62. Die Beschwerde ist aber begründet, weil das Urteil an einem Verfahrensmangel leidet, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof hat die Anforderungen an die Geltendmachung einer Rechtsverletzung im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO überspannt.

7Erforderlich, aber auch ausreichend für die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist, dass der Antragsteller hinreichend substantiiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch die Festsetzungen des Bebauungsplans in einem subjektiven Recht verletzt wird (stRspr, vgl. 4 CN 1.03 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 165 S. 137). An die Geltendmachung einer Rechtsverletzung sind grundsätzlich auch dann keine höheren Anforderungen zu stellen, wenn es um das Recht auf gerechte Abwägung (§ 1 Abs. 7 BauGB) eines Eigentümers geht, dessen Grundstück außerhalb des Bebauungsplangebiets liegt (mittelbar Betroffener). Auch insoweit reicht es aus, dass der Antragsteller Tatsachen vorträgt, die eine fehlerhafte Behandlung seiner Belange in der Abwägung als möglich erscheinen lassen ( 4 CN 2.98 - BVerwGE 107, 215 <218 f.>). Antragsbefugt ist hiernach, wer sich auf einen abwägungserheblichen privaten Belang berufen kann; denn wenn es einen solchen Belang gibt, besteht grundsätzlich auch die Möglichkeit, dass die Gemeinde ihn bei ihrer Abwägung nicht korrekt berücksichtigt hat ( a.a.O. S. 137; Beschluss vom - 4 BN 38.00 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 142 = juris Rn. 7). Die Antragsbefugnis ist jedoch dann nicht gegeben, wenn eine Rechtsverletzung offensichtlich und eindeutig nach jeder Betrachtungsweise ausscheidet ( a.a.O. S. 217 und vom - 9 CN 1.02 - BVerwGE 117, 209 <211>). Hiervon ist insbesondere auszugehen, wenn das Interesse des Betroffenen geringwertig, nicht schutzwürdig, für die Gemeinde nicht erkennbar oder sonst makelbehaftet ist ( 4 BN 30.14 - ZfBR 2015, 380 Rn. 3). Die Prüfung, ob das der Fall ist, ist allerdings nicht unter Auswertung des gesamten Prozessstoffes vorzunehmen ( a.a.O. S. 218) und darf nicht in einem Umfang und in einer Intensität erfolgen, die einer Begründetheitsprüfung gleichkommt ( 4 BN 42.10 - ZfBR 2011, 566 = juris Rn. 8). Das Normenkontrollgericht ist daher insbesondere nicht befugt, für die Entscheidung über die Antragsbefugnis den Sachverhalt von sich aus weiter aufzuklären. Deswegen vermag die im Laufe des Verfahrens fortschreitende Sachverhaltsaufklärung durch das Normenkontrollgericht die Antragsbefugnis eines Antragstellers nicht nachträglich in Frage zu stellen. Andererseits muss das Gericht widerstreitendes Vorbringen des Antragsgegners, auf dessen Grundlage sich die maßgeblichen Tatsachenbehauptungen in der Antragsschrift als offensichtlich unrichtig erweisen, nicht ausblenden, sondern kann auf der Grundlage des wechselseitigen Schriftverkehrs darüber befinden, ob es einen abwägungserheblichen Belang des Antragstellers geben kann (zusammenfassend: 4 BN 13.13 - ZfBR 2014, 159 Rn. 4; ferner Beschluss vom - 4 BN 4.15 - ZfBR 2016, 154 Rn. 10).

8Das Interesse des Eigentümers eines Grundstücks außerhalb des Plangebiets, von einer Lärmzunahme aufgrund des Zu- und Abfahrtsverkehrs zum Plangebiet verschont zu bleiben, kann nach den Umständen des Einzelfalls einen abwägungserheblichen Belang darstellen, wenn sich der durch die Planung ausgelöste Verkehr innerhalb eines räumlich überschaubaren Bereichs bewegt und vom übrigen Straßenverkehr unterscheidbar ist (vgl. 4 C 5.98 - NVwZ 1999, 523 <527>; Beschlüsse vom - 4 BN 41.07 - NVwZ 2008, 426 Rn. 5 und vom - 4 BN 8.08 - BauR 2008, 1416 Rn. 10). Der Senat hat ferner entschieden, dass eine planbedingte Zunahme des Verkehrslärms auch unterhalb der Grenzwerte zum Abwägungsmaterial gehört ( 4 BN 16.07 und 4 VR 1.07 - ZfBR 2007, 580 = juris Rn. 5) und damit die Antragsbefugnis eines Betroffenen begründen kann. Ist der Lärmzuwachs allerdings nur geringfügig, geht er mithin über die Bagatellgrenze nicht hinaus, oder wirkt er sich nur unwesentlich auf das Nachbargrundstück aus, so muss er nicht in die Abwägung eingestellt werden (vgl. 4 CN 1.98 - NVwZ 2000, 807 <808>; Beschlüsse vom - 4 BN 12.15 - BRS 83 Nr. 49 = juris Rn. 6 m.w.N., vom - 4 BN 10.17 - BauR 2017, 1972 und vom - 4 BN 35.17 - BRS 85 Nr. 193 = juris Rn. 6). Ob vermehrte Verkehrslärmbeeinträchtigungen mehr als geringfügig zu Buche schlagen, lässt sich nicht durch reine Subsumtion ermitteln (Paetow, NVwZ 1985, 309 <312>). Vielmehr bedarf es einer wertenden Betrachtung der konkreten Verhältnisse unter Berücksichtigung der jeweiligen Vorbelastung und der Schutzwürdigkeit des jeweiligen Gebiets ( a.a.O. m.w.N.; siehe auch schon Beschluss vom - 4 NB 11.91 - BRS 54 Nr. 41 S. 120). Das ist in erster Linie Aufgabe des Tatrichters ( 4 CN 1.97 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 126 S. 109 f.; Beschlüsse vom - 4 BN 44.10 - juris Rn. 9, vom - 4 BN 22.11 - BauR 2012, 76 Rn. 6 und vom a.a.O.). Im Beschluss vom - 4 NB 11.91 - (NJW 1992, 2844) hat der Senat zudem darauf hingewiesen, dass sich die Schwelle der Abwägungsrelevanz bei Verkehrslärmerhöhungen nicht allein durch einen Vergleich von Lärmmesswerten markieren lässt. Selbst eine Lärmzunahme, die, bezogen auf einen rechnerisch ermittelten Dauerschallpegel, für das menschliche Ohr kaum wahrnehmbar ist, kann nach dieser Entscheidung zum Abwägungsmaterial gehören (vgl. auch a.a.O.).

9Der Antragsteller vertritt als Testamentsvollstrecker die Interessen einer Erbengemeinschaft (§ 2205 Satz 1, § 2211 Abs. 1, § 2212 BGB). Zum Nachlass gehört eine außerhalb des Plangebiets, aber in unmittelbarer Nachbarschaft zur geplanten Tiefgaragenzufahrt gelegene Eigentumswohnung.

10Der Antragsteller macht Lärmbeeinträchtigung durch den Zu- und Abfahrtsverkehr zur Tiefgarage geltend. Zu deren Nachweis hat er im Verfahren zwei Gutachten, u.a. des TÜV Hessen vom vorgelegt. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Antragsbefugnis gleichwohl verneint. Der Antragsteller könne sich nicht auf eine zusätzliche Lärmbelastung der Eigentumswohnung durch die Tiefgaragenzufahrt berufen, weil die Lärmbelastung so geringfügig sei, dass sie von der Antragsgegnerin nicht in die Abwägung habe eingestellt werden müssen. Nach der im Bebauungsplanverfahren durchgeführten schalltechnischen Untersuchung ergebe sich für die von der Tiefgarageneinfahrt ca. 20 m entfernte Wohnung ein Beurteilungspegel von nachts (von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr) zwischen 30 und 35 dB(A) und am Tag (von 6.00 Uhr bis 22.00 Uhr) von weniger als 35 dB(A). So geringe Lärmimmissionen seien nicht abwägungsrelevant. Die vom Antragsteller gegen die schalltechnische Untersuchung vorgebrachten Einwendungen seien unbegründet, was sich u.a. aus den Ausführungen des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung ergebe. Auch die vorgelegten Gutachten zu den von der Tiefgaragenzufahrt ausgehenden Lärmimmissionen gäben keine Veranlassung zu einer Beweiserhebung, insbesondere nicht - wie beantragt - zur Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens. Die schalltechnische Untersuchung sei ausreichend, um dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Das gelte auch für etwaige "Bemessungsunsicherheiten". Wie der Gutachter in der mündlichen Verhandlung dargelegt habe, würden diese durch die von ihm angestellte Worst-Case-Betrachtung minimiert. Die Behauptung des Antragstellers, die Zahl der Fahrbewegungen sei zu niedrig angesetzt worden, sei unbegründet und fände auch keine Entsprechung in den von ihm vorgelegten Gutachten.

11Hiermit überspannt der Verwaltungsgerichtshof die Anforderungen an die Darlegung der Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO, weil er den entsprechenden Vortrag des Antragstellers und die von ihm vorgelegten Gutachten einer abschließenden materiell-rechtlichen Prüfung unterzogen hat, die sich in Umfang und Intensität von einer Begründetheitsprüfung kaum unterscheidet (UA S. 10 bis 17). Dies widerspricht der Funktion des Normenkontrollverfahrens, weil damit die gebotene objektive Rechtskontrolle im Rahmen der Begründetheitsprüfung (vgl. hierzu 4 CN 1.07 - BVerwGE 131, 100 Rn. 13) umgangen wird. Die Prüfung der Antragsbefugnis durch den Verwaltungsgerichtshof verfehlt im Übrigen den rechtlichen Maßstab auch insoweit, als er maßgeblich auf die Einhaltung der Grenzwerte nach der TA Lärm abstellt, aber nicht - wie es geboten gewesen wäre - prüft, ob die Lage der geplanten Tiefgaragenzufahrt zu einem mehr als geringfügigen Lärmzuwachs führen wird. Eine solche Prüfung wäre umso mehr veranlasst gewesen, als sich die bisherige Zufahrtssituation zum Plangebiet und zum Innenhof, insbesondere zur Tiefgarage des Hotels M., über R.straße und R.hof (vgl. Fichtner Water & Transportation, Erläuterungsbericht vom Juli 2016, S. 3 und 5) grundlegend ändert und folglich die Annahme im Gutachten des TÜV Hessen, in der Rh.straße 2 bis 4 entstünde durch die Ein- und Ausfahrt der Tiefgarage ein erheblicher Neuverkehr von ca. 610 Kfz/24 h (GA S. 20), nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist.

12Weil auch ein Revisionsverfahren nur zu einer Zurückverweisung an den Verwaltungsgerichtshof führen könnte, macht der Senat von seiner Befugnis nach § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen. Aus diesem Grund bedarf es keiner Entscheidung darüber, ob (auch) die vom Antragsteller in Bezug auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO erhobenen Divergenzrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) erfolgreich und ob die weiteren vom Antragsteller erhobenen Verfahrensrügen ausreichend dargelegt sowie begründet gewesen wären.

133. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2020:010720B4BN49.19.0

Fundstelle(n):
CAAAH-94036