BSG Beschluss v. - B 4 AS 86/21 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Nichtverlegung des Termins der mündlichen Verhandlung - Corona-Pandemie - Verletzung rechtlichen Gehörs

Gesetze: § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 227 Abs 1 S 1 ZPO, § 62 SGG

Instanzenzug: SG Neubrandenburg Az: S 12 AS 1342/14vorgehend Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern Az: L 14 AS 302/19 Urteil

Gründe

1I. Die Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision machen einen Verfahrensmangel durch Ablehnung von mit der Corona-Pandemie begründeten Verlegungsanträgen geltend.

2Das LSG hat in den den Beschwerden vorangegangenen Berufungsverfahren mit Schreiben vom - den Beteiligten zugestellt am 7. bzw - jeweils den Termin zur mündlichen Verhandlung auf den bestimmt.

3Am beantragte die Bevollmächtigte der Klägerin die Aufhebung der Verhandlungstermine. Es sei befremdlich, dass das Gericht die Termine aufgrund der Corona-Pandemie und der damit verbundenen allgemeinen Kontaktbeschränkungen, aber auch der Tatsache, dass der Inzidenzwert in der Stadt U, in der sich ihre Kanzlei befinde, bei ca 900 und im Übrigen in den Landkreisen Mecklenburgische Seenplatte (Sitz des LSG) und V (Sitz der klägerischen Kanzlei) bei über 200 liege, nicht von selbst aufhebe. Den Gerichten komme eine Vorbildfunktion zu. Eine Dringlichkeit, die vielleicht die Durchführung der Termine rechtfertigen könnte, liege nicht vor.

4Der Vorsitzende Richter des Berufungssenats teilte der Prozessbevollmächtigten daraufhin mit Fax vom mit, dass die Termine zur mündlichen Verhandlung aufrechterhalten blieben. Der Inzidenzwert für die Stadt U werde fast ausschließlich durch das Infektionsgeschehen in einem Pflegeheim bestimmt. Eine erhöhte Gefahr einer Übertragung des Virus durch die Prozessbevollmächtigte könne daher nicht erkannt werden. Der Inzidenzwert im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte sei derzeit deutlich rückläufig und habe am Vortag bei unter 150 gelegen. Im Übrigen sei bei der Durchführung von Verhandlungsterminen im LSG die Einhaltung der einschlägigen Sicherheitsbestimmungen und Abstandsgebote gewährleistet. Auf die Möglichkeit einer Entscheidung des Senats auch bei Ausbleiben von Beteiligten oder deren Vertretern werde erneut hingewiesen. Zudem bestehe die Möglichkeit, sich während der mündlichen Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und von dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Die Verhandlung werde zeitgleich in Bild und Ton an diesen Ort und in das Sitzungszimmer übertragen.

5Mit ihren Beschwerden macht die Klägerin zum einen eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Das LSG hätte die mündlichen Verhandlungen antragsgemäß verlegen müssen. Schon die allgemeinen Kontaktbeschränkungen hätten eine Terminsaufhebung von Amts wegen geboten. Überdies seien die Terminsaufhebungen aufgrund der Inzidenzwerte in den Landkreisen V und M von über 200 geboten gewesen. Außerdem liege ein Verstoß gegen § 110 Abs 1 Satz 1, § 110a Abs 1, § 63 Abs 1 Satz 2 SGG vor. Das LSG habe von der Regelung des § 110a Abs 1 SGG Gebrauch gemacht, aber der Klägerseite keine Zugangsdaten übermittelt. Darin liege zugleich ein Verstoß gegen den Mündlichkeitsgrundsatz des § 124 Abs 1 SGG.

6II. Die gemäß § 113 Abs 1 SGG zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Nichtzulassungsbeschwerden sind unzulässig, weil der jeweils allein geltend gemachte Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht in der erforderlichen Weise bezeichnet worden ist (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Die Beschwerden sind daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 SGG, § 169 SGG).

7Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 (Anhörung eines bestimmten Arztes) und 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Wer eine Nichtzulassungsbeschwerde auf diesen Zulassungsgrund stützt, muss zu seiner Bezeichnung (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die diesen Verfahrensmangel des LSG (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dartun, also die Umstände schlüssig darlegen, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (stRspr; vgl bereits - SozR 1500 § 160a Nr 14; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160a RdNr 16 mwN). Darüber hinaus ist aufzuzeigen, dass und warum die Entscheidung - ausgehend von der Rechtsansicht des LSG - auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit der Beeinflussung des Urteils besteht (stRspr; vgl bereits - SozR 1500 § 160a Nr 36).

8Nach diesen Maßstäben ist ein Verfahrensmangel nicht hinreichend bezeichnet. Dies gilt zum einen für die Rüge, das LSG hätte die terminierten mündlichen Verhandlungen verlegen müssen. Gemäß § 202 Satz 1 SGG iVm § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO kann ein Termin aus erheblichen Gründen aufgehoben oder verlegt sowie eine Verhandlung vertagt werden. Die Beurteilung, ob ein erheblicher Grund vorliegt, liegt grundsätzlich im Ermessen des jeweiligen Gerichts (vgl - juris RdNr 12). Dieses Ermessen kann sich allerdings auf Null reduzieren mit der Folge, dass der Termin aufgehoben werden muss und anderenfalls der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt wäre (vgl - juris RdNr 6 mwN).

9Dass diese Voraussetzungen hier vorliegen, zeigt die Beschwerdebegründung nicht auf. Der bloße Hinweis darauf, dass zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlungen sowohl im Landkreis, in dem die Prozessbevollmächtigte der Klägerin ihren Kanzleisitz hat, als auch im Landkreis, in dem das LSG seinen Sitz hat, auf die Infektionen mit dem Covid-19 bezogene Inzidenzwerte von über 200 bestanden hätten, reicht unabhängig davon, dass nicht deutlich wird, auf welchen Zeitraum sich diese Werte beziehen, nicht aus. Die Beschwerdebegründung hat nicht vorgetragen, dass sich den einschlägigen gesetzlichen und untergesetzlichen Regelungen des Bundes oder des Landes Mecklenburg-Vorpommern bestimmte Inzidenzwerte entnehmen lassen, bei deren Vorliegen mündliche Verhandlungen generell nicht mehr durchgeführt werden können. Auch unabhängig von rechtlichen Vorgaben ist nicht dargetan, dass eine Teilnahme an den mündlichen Verhandlungen unzumutbar gewesen wäre. Eine solche Unzumutbarkeit folgt nicht allein aus den Inzidenzwerten oder der allgemeinen Infektionslage (vgl auch - juris RdNr 35; - juris RdNr 38; OLG Dresden vom - 1 W 943/20 - juris RdNr 22 f; aA wohl Prütting, AnwBl 2020, 287). Vielmehr haben die Gerichte einen erheblichen Einschätzungsspielraum bei der Beurteilung, ob gerichtliche Verhandlungen trotz der Infektionslage durchgeführt werden können (vgl - juris RdNr 8; - juris RdNr 58). Ein gewisses Infektionsrisiko mit dem Corona-Virus gehört derzeit für die Gesamtbevölkerung zum allgemeinen Lebensrisiko, von dem auch die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens nicht vollständig ausgenommen werden können (so - juris RdNr 9 zum Strafverfahren). Es besteht keine Pflicht, jegliches Infektionsrisiko auszuschließen ( - juris RdNr 62 f). Der Hinweis in der Beschwerdebegründung auf die "allgemeinen Kontaktbeschränkungen" wäre nur dann im Sinne der Klägerin zielführend, wenn sich diese auch auf gerichtliche Verfahren erstrecken und eine mündliche Verhandlung nur unter Verletzung dieser Kontaktbeschränkungen durchgeführt werden könnte. Dass dies der Fall gewesen wäre, behauptet die Beschwerdebegründung aber nicht. Das LSG hat in dem von der Beschwerdebegründung zitierten Schreiben des Vorsitzenden Richters des Berufungssenats vom über die Ablehnung des Verlegungsantrages vielmehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei der Durchführung von Verhandlungsterminen vor dem LSG die Einhaltung der einschlägigen Sicherheitsbestimmungen und Abstandsgebote gewährleistet ist. Ob eine andere Beurteilung gerechtfertigt ist, wenn aufgrund individueller Umstände, etwa wegen einer besonderen Vulnerabilität eines Beteiligten (vgl OLG Zweibrücken vom - 3 W 41/20 - juris RdNr 14), eine spezifische Infektionsgefahr mit dem Covid-19 glaubhaft gemacht wird (vgl § 227 Abs 2 ZPO), bedarf hier keiner Entscheidung, da die Beschwerde nicht geltend macht, solche Umstände dem LSG vorgetragen zu haben.

10Auch eine Verletzung der § 124 Abs 1, § 110 Abs 1 Satz 1, § 110a Abs 1, § 63 Abs 1 Satz 2 SGG ist nicht hinreichend bezeichnet. Die Beschwerdebegründung verweist lediglich auf das Schreiben des Vorsitzenden Richters des Berufungssenats vom , wonach die Möglichkeit bestehe, sich während der Verhandlung an einem anderen Ort aufzuhalten und von dort Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Auch wenn sich dem Wortlaut des Schreibens nicht eindeutig entnehmen lässt, ob hierin eine Gestattung iS des § 110a Abs 1 Satz 1 SGG oder bloß ein Hinweis auf die Möglichkeit, eine solche Gestattung zu beantragen, liegen soll, liegt jedenfalls deswegen keine Gestattung vor, weil eine solche durch Beschluss ergehen muss (Leopold in Roos/Wahrendorf/Müller, BeckOGK SGG, § 110a RdNr 27 mwN, Stand ; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 110a RdNr 8; Stäbler in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 110a RdNr 22; Beispiel: - juris). Damit lagen die Voraussetzungen für eine Durchführung der mündlichen Verhandlungen nach Maßgabe des § 110a SGG schon deswegen nicht vor. Die Rüge der Beschwerde, dass das LSG keine Zugangsdaten mitgeteilt habe, geht daher ins Leere.

11Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2021:140621BB4AS8621B0

Fundstelle(n):
AAAAH-86570