Normenkontrollverfahren betreffend eine wohnungsrechtliche Zweckentfremdungssatzung; Absehen von mündlicher Verhandlung
Leitsatz
In Normenkontrollverfahren betreffend eine wohnungsrechtliche Zweckentfremdungssatzung kann von einer mündlichen Verhandlung regelmäßig nicht gem. § 47 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO abgesehen werden.
Gesetze: § 47 Abs 5 S 1 Alt 2 VwGO, Art 6 Abs 1 MRK, § 138 Nr 3 VwGO, WoZwEntfrG BY
Instanzenzug: Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Az: 12 N 19.1179 Beschluss
Gründe
1Die (auch) auf § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde ist begründet. Der angefochtene Beschluss weist, wie die Beschwerde zu Recht geltend macht, einen Verfahrensmangel auf. Dieser besteht in der Nichtdurchführung der gebotenen mündlichen Verhandlung (1.), die auch nicht deshalb unterbleiben konnte, weil der Antrag wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses offensichtlich unzulässig ist (2.) oder über ihn sonst ohne mündliche Verhandlung entschieden werden durfte (3.). Der angefochtene Beschluss beruht auch auf dem Verfahrensmangel (4.). Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück.
21. Die Beschwerde ist begründet, soweit sie mit der Verfahrensrüge geltend macht, der Verwaltungsgerichtshof hätte über den Normenkontrollantrag nicht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen. Der Beschluss des Normenkontrollgerichts verstößt gegen § 47 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention - EMRK) vom in der Bekanntmachung der Neufassung vom (BGBl. 2010 II S. 1198), nunmehr i.d.F. des Protokolls Nr. 15 vom (BGBl. 2014 II S. 1034), die innerstaatlich im Range eines Bundesgesetzes gilt. Das Normenkontrollgericht hätte aufgrund mündlicher Verhandlung über den Normenkontrollantrag des Antragstellers entscheiden müssen.
3Nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Urteil oder, wenn es eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, durch Beschluss. Darüber, ob eine mündliche Verhandlung entbehrlich ist, entscheidet es nach richterlichem Ermessen. Dieses Verfahrensermessen wird jedoch durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK eingeschränkt ( 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <205>). Danach hat jede Person einen Anspruch darauf, "dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird".
4Nach der insoweit maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte richtet sich der Begriff der "zivilrechtlichen Ansprüche" nicht nach der innerstaatlichen Rechtswegzuweisung, sondern erfasst über rein privatrechtliche Ansprüche hinaus alle Verfahren, deren Ergebnis unmittelbare Auswirkungen auf zivilrechtliche Rechte und Pflichten haben kann. Das bezieht sich zwar nicht auf Verfahren aus dem Kernbereich des öffentlichen Rechts (vgl. 1 B 58.19 - juris Rn. 11 m.w.N.), wohl aber u.a. auf Streitigkeiten, die nach deutschem Recht verwaltungsrechtlicher Natur sind, sich aber auf das Recht am Grundeigentum oder das Recht auf Unverletzlichkeit des Eigentums an Grundstücken auswirken (vgl. 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <206> m.w.N.). Dementsprechend ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt, dass sich Entscheidungen über die Gültigkeit von Bebauungsplänen auf das Eigentum an im jeweiligen Plangebiet gelegenen Grundstücken auswirken und demzufolge über den Normenkontrollantrag eines hiervon betroffenen Eigentümers aufgrund einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden ist ( 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <206 ff.> und Beschluss vom - 4 BN 51.07 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 11 S. 2). Nichts anderes gilt in Bezug auf die Gültigkeit von Zweckentfremdungssatzungen nach Art. 1 Satz 1 des (bayerischen) Zweckentfremdungsgesetzes (ZwEWG) vom (GVBl. S. 864), zuletzt geändert durch Gesetz vom (GVBl. S. 182), soweit sich der Wohnraum im räumlichen Geltungsbereich einer solchen Zweckentfremdungssatzung befindet. Ein in einer Zweckentfremdungssatzung enthaltenes repressives, nur mit einer Befreiungsmöglichkeit versehenes Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum beeinträchtigt die zum verfassungsrechtlichen Inhalt des Privateigentums gehörende grundsätzliche freie Verfügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand ( - BVerfGE 38, 348 <370>). Ein solches Verbot liegt hier - wovon auch der Verwaltungsgerichtshof (BA S. 7) ausgeht - vor. Nach § 4 Abs. 1 der Zweckentfremdungsverbotssatzung (ZwEVS) der Stadt Nürnberg vom (ABl. S. 185) darf Wohnraum nur mit Genehmigung der Stadt anderen als Wohnzwecken zugeführt werden.
52. Die mündliche Verhandlung konnte nicht deshalb unterbleiben, weil sich der Normenkontrollantrag als offensichtlich unzulässig erweist. Über unstatthafte ( 6 BN 2.19 - NVwZ-RR 2020, 236 Rn. 8) oder offensichtlich unzulässige ( 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <215> und Beschluss vom - 4 BN 51.07 - Buchholz 140 Art. 6 EMRK Nr. 11 S. 2) Normenkontrollanträge braucht auch in Ansehung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht mündlich verhandelt zu werden. Der hier statthafte Antrag ist nicht offensichtlich unzulässig. Insbesondere fehlt ihm entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs nicht offensichtlich das erforderliche Rechtsschutzinteresse.
6Im Ausgangspunkt zutreffend ist der Verwaltungsgerichtshof davon ausgegangen, dass einem Antrag auf gerichtlichen Rechtsschutz das Rechtsschutzbedürfnis u.a. dann fehlt, wenn der Antragsteller seine Rechtsstellung mit der begehrten gerichtlichen Entscheidung nicht verbessern kann und die Inanspruchnahme des Gerichts deshalb für ihn als nutzlos erscheint. Das Erfordernis des Rechtsschutzbedürfnisses soll verhindern, dass Gerichte in eine Normprüfung eintreten, deren Ergebnis für den Antragsteller wertlos ist, wobei nicht erforderlich ist, dass die begehrte Erklärung einer Norm als unwirksam unmittelbar zum eigentlichen Rechtsschutzziel führt ( 4 CN 2.19 - NWVBl 2021, 149 Rn. 11 m.w.N.).
7Unzutreffend ist allerdings die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, der Normenkontrollantrag biete dem Antragsteller derzeit keinen Nutzen im Sinne einer Verbesserung seiner Rechtsstellung. Dies leitet der Verwaltungsgerichtshof daraus ab, dass die derzeitige Nutzung der beiden im Eigentum des Antragstellers stehenden Dachgeschosswohnungen zu Zwecken der Fremdbeherbergung zumindest formell baurechtswidrig sei und auch keine Anhaltspunkte dafür bestünden, dass der Antragsteller eine Baugenehmigung für die Nutzung der Wohnungen als Ferienwohnungen beantragt habe oder in absehbarer Zeit beantragen werde. Die Nutzung der fraglichen Wohnungen als Ferienwohnungen bliebe daher nach wie vor - baurechtlich - illegal.
8Für das Vorliegen des Rechtsschutzinteresses spielt es indes keine Rolle, ob die Fremdbeherbergung im Verhältnis zu der baurechtlich genehmigten Nutzung als Wohngebäude baurechtlich eine genehmigungsbedürftige Nutzungsänderung darstellt, ob eine entsprechende Genehmigung vorliegt oder zumindest beantragt ist und ob sie sich derzeit als (zumindest) formell illegal darstellt. Denn die Zweckentfremdungsverbotssatzung knüpft nicht an die derzeit aktuelle Nutzung oder eine baurechtlich genehmigte Nutzungsänderung, sondern daran an, dass es sich bei den fraglichen Räumlichkeiten um Wohnraum im Sinne von § 2 ZwEVS, also um Räumlichkeiten handelt, die objektiv zu Wohnzwecken geeignet und subjektiv hierzu bestimmt sind. Dass dies hier nicht der Fall und die Zweckentfremdungsverbotssatzung daher vorliegend gar nicht anwendbar sein könnte, ergibt sich weder aus dem angefochtenen Beschluss, noch ist sonst etwas hierfür erkennbar. Ist die Satzung aber anwendbar, unterliegt der Antragsteller der in § 11 Abs. 1 ZwEVS enthaltenen Auskunftspflicht (vgl. das diesbezügliche Auskunftsverlangen der Antragsgegnerin vom ) sowie insbesondere dem in § 4 Abs. 1 ZwEVS genannten Genehmigungsvorbehalt, der in den in § 3 Abs. 1 ZwEVS genannten Fällen greift. Ohne Genehmigung ist ihm daher (unabhängig von einer Nutzung zur Fremdbeherbergung) etwa nicht gestattet, die Räumlichkeiten mehr als drei Monate leer stehen zu lassen (§ 3 Abs. 1 Nr. 4 ZwEVS).
9Das Rechtsschutzbedürfnis kann dem Antrag auch nicht offensichtlich mit Blick darauf abgesprochen werden, dass hierfür ein allgemeines subjektives Interesse nicht ausreiche, sich durch den Normenkontrollantrag alle künftigen Entwicklungsmöglichkeiten offenzuhalten, weil die Satzung jedenfalls in künftigen, den Antragsteller betreffenden Fällen zur Anwendung kommen könne. Vielmehr hat das insoweit vom Verwaltungsgerichtshof in Bezug genommene Oberverwaltungsgericht des Saarlandes zwar die Antragsbefugnis eines Gewerbetreibenden, der nicht zugleich Grundstückseigentümer war, verneint, der sich durch den Normenkontrollantrag ganz allgemein alle künftigen Entwicklungsmöglichkeiten für den Gewerbebetrieb offenhalten wollte, zugleich aber das Rechtsschutzbedürfnis eines Grundstückseigentümers für die Durchführung des Normenkontrollverfahrens mit Blick auf nicht satzungskonforme künftige Nutzungsabsichten (zutreffend) ausdrücklich bejaht (Oberverwaltungsgericht Saarlouis, Urteil vom - 2 C 320/11 - juris Rn. 22, 28).
10Schließlich fehlt entgegen der Ansicht der Vorinstanz das Rechtsschutzbedürfnis auch nicht deshalb, weil der Antragsteller Popularklage zum Bayerischen Verfassungsgerichtshof erheben könnte (Art. 98 S. 4 der Verfassung des Freistaates Bayern in der Fassung der Bekanntmachung vom <GVBl. S. 991, 992>, die zuletzt durch Gesetze vom <GVBl. S. 638, 639, 640, 641, 642> geändert worden ist, i.V.m. Art. 55 des Gesetzes über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof <VfGHG> vom <GVBl. S. 122, 231>, das zuletzt durch Art. 73a Abs. 1 des Gesetzes vom <GVBl. S. 118> geändert worden ist) bzw. weil die Rechtmäßigkeit der Zweckentfremdungsverbotssatzung der Antragsgegnerin der Inzidentprüfung in jedem einzelnen Maßnahmeverfahren unterliegt. Diese Rechtsbehelfe stellen gegenüber dem Normenkontrollverfahren keinesfalls einfachere Rechtsschutzmöglichkeiten dar, abgesehen davon, dass sie auch eine andere Zielrichtung verfolgen.
113. Schließlich ist nicht erkennbar, dass die mündliche Verhandlung deshalb entbehrlich gewesen ist, weil die Rechtssache lediglich Rechts- oder Tatsachenfragen aufwirft, die sich unter Heranziehung der Akten und der schriftlichen Erklärungen der Parteien angemessen lösen lassen. Zwar verlangt Art. 6 Abs. 1 EMRK in einem derartigen Fall nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom - Nr. 28394/95 - Döry/Schweden Rn. 37) und des Gerichtshofs der Europäischen Union (Urteil vom - C-348/16 [ECLI:EU:C:2017:591], Sacko - juris Rn. 47) nicht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung (vgl. auch 1 B 58.19 - juris Rn. 8). Dass diese Voraussetzungen hier vorliegen, ergibt sich jedoch weder aus dem angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs noch aus den Gründen seines Nichtabhilfebeschlusses vom . Der Verwaltungsgerichtshof verweist nur abstrakt auf den oben genannten Ausnahmefall, befasst sich hinsichtlich der konkreten Umstände des Streitfalles aber ausschließlich mit den bereits behandelten Aspekten der Durchführung einer mündlichen Verhandlung u.a. im Lichte von Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie der Unzulässigkeit des Normenkontrollantrags wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses. Dass darüber hinaus andere Gesichtspunkte eine Entscheidung nach Aktenlage ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung rechtfertigen könnten, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
124. Das durch die Prozessordnung nicht gedeckte Absehen von einer mündlichen Verhandlung stellt einen absoluten Revisionsgrund dar (§ 138 Nr. 3 VwGO), ohne dass es darauf ankommt, was der Antragsteller in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hätte und ob dieses entscheidungserheblich gewesen wäre ( 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <215>).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2021:020621B5BN1.21.0
Fundstelle(n):
VAAAH-86349