BVerwG Beschluss v. - 6 BN 2/19

Entscheidung durch Beschluss über unstatthaften Normenkontrollantrag

Leitsatz

1. Weder Art. 19 Abs. 4 GG noch Art. 13 EMRK verpflichten den Gesetzgeber, die verwaltungsgerichtliche prinzipale Normenkontrolle allgemein einzuführen (Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung).

2. Über einen Normenkontrollantrag, der mangels landesrechtlicher Öffnungsklausel nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO unstatthaft ist, kann auch mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK durch Beschluss entschieden werden.

Gesetze: Art 6 Abs 1 S 1 MRK, Art 13 MRK, Art 19 Abs 4 GG, § 109 StVollzG, § 110 StVollzG, § 47 Abs 1 Nr 2 VwGO, § 47 Abs 5 S 1 VwGO, § 132 VwGO

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg Az: OVG 10 A 12.19 Beschluss

Gründe

I

1Der Antragsteller wendet sich im Wege der Normenkontrolle nach § 47 VwGO gegen Verwaltungsvorschriften zum Berliner Strafvollzugsgesetz.

2Er verbüßt eine mehrjährige Freiheitsstrafe und befindet sich mittlerweile im offenen Vollzug. Der Antragsgegner erließ im Januar 2019 Verwaltungsvorschriften zu § 52 des Berliner Strafvollzugsgesetzes, die die Ausstattung des Haftraums betreffen und am in Kraft getreten sind.

3Den dagegen gerichteten Normenkontrollantrag hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom verworfen. Es hat seine Entscheidung im Kern darauf gestützt, dass die gerichtliche Prüfung der angegriffenen Verwaltungsvorschriften im Wege der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle schon deshalb ausgeschlossen sei, weil das Land Berlin von der Öffnungsklausel des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO keinen Gebrauch gemacht habe. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen seine Entscheidung nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der Antragsteller mit der Beschwerde.

II

4Die auf das Vorliegen von Verfahrensmängeln (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) sowie die grundsätzliche Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision führt auf der Grundlage der vom Antragsteller dargelegten Gründe, auf deren Berücksichtigung der Senat bei seiner Prüfung gemäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO beschränkt ist, nicht zum Erfolg. Deshalb braucht Zweifeln am Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers für den Normenkontrollantrag infolge seiner mittlerweile erfolgten Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt und der Überführung in den offenen Vollzug nicht nachgegangen zu werden.

51. Der Antragsteller rügt als Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, dass das Oberverwaltungsgericht seine Entscheidung im Beschlusswege getroffen hat und macht insoweit auch die grundsätzliche Bedeutung der Sache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO geltend. Mit ihrer Vorgehensweise habe die Vorinstanz Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzt, der Gerichte bei Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche grundsätzlich zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung verpflichte. Hier liege auch kein Ausnahmefall vor, da das Oberverwaltungsgericht nicht nur Rechtsfragen klären, sondern auch tatsächliche Umstände hätte aufklären müssen. Durch eine persönliche Anhörung hätte dem Gericht ein anderer Eindruck des Antragstellers sowie seiner Haftsituation vermittelt werden können, der durch die Verwaltungsvorschriften unmittelbar betroffen sei. Dieses Vorbringen lässt keine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK durch das Normenkontrollgericht erkennen.

6Nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO entscheidet das Oberverwaltungsgericht durch Urteil oder, wenn es eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, durch Beschluss. Die Vorschrift macht die Entscheidung durch Beschluss nicht vom Einverständnis der Beteiligten abhängig. Insoweit steht dem Normenkontrollgericht im Grundsatz ein an keine gesetzlich normierten Voraussetzungen geknüpftes Ermessen zu; insbesondere ist die Entscheidung durch Beschluss nicht davon abhängig, dass es sich um einen einfach gelagerten Fall handelt ( 6 BN 1.17 [ECLI:DE:BVerwG:2017:301117B6BN1.17.0] - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 212 Rn. 15 m.w.N.). Für die Ermessensausübung kommt es grundsätzlich darauf an, ob der Entscheidung ein unstreitiger oder umfassend aufgeklärter Sachverhalt zugrunde liegt und ob die entscheidungserheblichen Rechtsfragen in den Schriftsätzen der Beteiligten eingehend und ausreichend erörtert worden sind (vgl. 4 BN 18.10 - juris Rn. 29).

7Das Verfahrensermessen wird allerdings durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK eingeschränkt. Danach hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. Das Normenkontrollgericht ist bei Ausübung seines Verfahrensermessens nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO verpflichtet, Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gefunden hat, vorrangig zu beachten ( 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <205 f.>; stRspr). Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK wäre vorliegend, da keine strafrechtliche Anklage inmitten steht, allenfalls in der Variante der Streitigkeiten über "zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" anwendbar. Nach der grob entlang der Differenzierung zwischen "civil rights" und "political rights" verlaufenden Abgrenzung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fallen darunter öffentlich-rechtliche Streitigkeiten im Sinne des § 40 Abs. 1 VwGO, wenn das Ergebnis für private Ansprüche und Verpflichtungen entscheidend wäre (EGMR, Urteil vom - 38033/02 - NVwZ 2007, 1035 Rn. 26; Kraft, EuGRZ 2014, 666 <669 f.> m.w.N. aus der Rechtsprechung des EGMR). Demgegenüber rechtfertigt ein nur loser Zusammenhang zwischen dem Ausgang des Rechtsstreits und einem "zivilrechtlichen Anspruch" oder nur mittelbare Auswirkungen die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht ( 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <206 f.>; Beschluss vom - 6 BN 1.17 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 212 Rn. 15 ff.).

8Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe brauchte das Oberverwaltungsgericht im vorliegenden Fall eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich zu halten und konnte durch Beschluss entscheiden. Insoweit kann dahinstehen, ob es sich bei der zur Entscheidung stehenden Fallkonstellation überhaupt um eine "Streitigkeit(en) in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen" im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EMRK handelt. Denn selbst wenn man zugunsten der Beschwerde die Anwendbarkeit der Vorschrift unterstellt, musste die Vorinstanz über den unstatthaften und damit offensichtlich unzulässigen Normenkontrollantrag nicht aufgrund mündlicher Verhandlung befinden (vgl. 4 CN 9.98 - BVerwGE 110, 203 <215>). Die Unstatthaftigkeit des Normenkontrollantrags ergibt sich daraus, dass das Land Berlin von der Öffnungsklausel des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO keinen Gebrauch gemacht hat. Auf diesen Umstand und die beabsichtigte Entscheidung durch Beschluss hat das Oberverwaltungsgericht den Antragsteller bereits im Schreiben vom hingewiesen. Soweit sie zur Frage der Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung die grundsätzliche Bedeutung der Sache behauptet, verfehlt die Beschwerde bereits die Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Denn sie zeigt keinen über die angeführte Rechtsprechung hinausweisenden Klärungsbedarf auf.

92. Die Beschwerde rügt des Weiteren, das Oberverwaltungsgericht sei zu Unrecht von der offensichtlichen Unzulässigkeit des Normenkontrollantrags ausgegangen. Die Regelung des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO verletze Art. 19 Abs. 4 GG, der auch vorbeugenden Rechtsschutz gewähre, wenn schwerwiegende Rechtsverletzungen später nicht mehr korrigiert werden könnten. Das sei bei den Regelungen zur Ausstattung des Haftraums für den davon unmittelbar betroffenen Antragsteller der Fall. Dieses Vorbringen führt weder auf einen Verfahrensmangel des Normenkontrollgerichts noch auf die zugleich geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung der Sache.

10Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass Art. 19 Abs. 4 GG den Gesetzgeber nicht verpflichtet, die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle allgemein einzuführen ( - BVerfGE 31, 364 <369 f.>; BVerwG, Beschlüsse vom - 7 B 115.62 - Buchholz 11 Art. 19 GG Nr. 36 S. 37 f. und vom - 4 B 149.73 - Buchholz 11 Art. 19 GG Nr. 47; vom - 4 N 1.83 - BVerwGE 68, 12 <14> und vom - 4 B 191.83 - BVerwGE 69, 30 <33>). Die verfassungsrechtliche Rechtsschutzgarantie gegen Akte der öffentlichen Gewalt gewährleistet auch keine Erstreckung der in § 47 VwGO geregelten prinzipalen Normenkontrolle in Bezug auf jede Rechtsvorschrift, die im Range unter dem Landesgesetz steht (BVerwG, Beschlüsse vom - 7 NB 2.90 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 48; vom - 2 BN 1.97 - juris Rn. 8 und vom - 10 BN 1.17 [ECLI:DE:BVerwG:2018:220318B10BN1.17.0] - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 213 Rn. 9). Effektiver Rechtsschutz ist vielmehr durch eine Inzidentprüfung von Rechtsnormen im Wege der Klage gegen einzelne Vollzugsmaßnahmen gewährleistet, denn es gehört seit jeher zur richterlichen Prüfungskompetenz, auch die Gültigkeit einer Rechtsnorm, insbesondere ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu überprüfen, sofern es für den Ausgang des Rechtsstreits hierauf ankommt ( 5 C 103.81 - Buchholz 310 § 43 VwGO Nr. 78 S. 15 f.; vom - 7 C 115.86 - BVerwGE 80, 355 <362> und vom - 8 C 19.09 - BVerwGE 136, 54 Rn. 25). Schließlich gewährt die Verwaltungsgerichtsordnung - wenn die Normenkontrolle nach § 47 VwGO nicht statthaft ist - subsidiär Rechtsschutz gegen nicht-vollzugsbedürftige Rechtsnormen im Wege der Feststellungsklage ( 11 C 13.99 - BVerwGE 111, 276 <278>).

11Der Umstand, dass einige Bundesländer von der Ermächtigungsklausel des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO keinen Gebrauch gemacht haben, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Im Bundesstaat fordert Art. 3 Abs. 1 GG nicht, dass die Länder die ihnen zustehende Gesetzeskompetenz in gleicher Weise ausfüllen müssen. Es unterliegt vielmehr ihrer rechtspolitischen Einschätzung, ob und inwieweit sie die ihnen in der Öffnungsklausel des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO eingeräumte Normierungsbefugnis ausschöpfen (BVerwG, Beschlüsse vom - 7 NB 2.90 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 48; vom - 2 BN 1.97 - juris Rn. 8 und vom - 10 BN 1.17 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 213 Rn. 11 f.).

12Auch die Ausführungen zu Art. 2, 3 und 13 EMRK verhelfen der Beschwerde nicht zum Erfolg. Nach Art. 13 EMRK hat jede Person, die in ihren in der Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben. Hierzu macht die Beschwerde im Wesentlichen geltend, der Rechtsweg zu den Strafvollzugskammern nach § 109 StVollzG gegen Verletzungen der Art. 2 und 3 EMRK durch unmenschliche Haftbedingungen sei wegen der langen Verfahrensdauer nicht effektiv. Dieses Vorbringen führt nicht zur Zulassung der Revision.

13Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass Art. 13 EMRK die Zugänglichkeit eines Rechtsbehelfs vor einer für die inhaltliche Prüfung der Rüge zuständigen Stelle verlangt. Wirksam im Sinne von Art. 13 EMRK ist eine Beschwerde bereits dann, wenn sie entweder die behauptete Rechtsverletzung oder deren Fortdauer verhindert oder nach bereits erfolgter Rechtsverletzung für eine angemessene Wiedergutmachung sorgt. Auch die Notwendigkeit, gegen zahlreiche behauptete Rechtsverletzungen jeweils gesonderte Verfahren anstrengen zu müssen, lässt die Wirksamkeit des jeweiligen Rechtsbehelfs nicht entfallen (EGMR, Entscheidung vom - Nr. 55977/13 - EuGRZ 2016, 608 Rn. 23 m.w.N.). Die Beschwerde verkennt, dass Art. 13 EMRK keine bestimmte Art eines Rechtsbehelfs verlangt, sondern den Konventionsstaaten bei der Umsetzung ihrer Verpflichtungen aus dieser Vorschrift einen Beurteilungsspielraum einräumt (EGMR, Urteil vom - Nr. 33985/96 und Nr. 33986/96 - NJW 2000, 2089 Rn. 135). Demzufolge bestünde, selbst wenn der Rechtsschutz nach §§ 109, 110 StVollzG zu den Strafvollstreckungskammern der ordentlichen Gerichte defizitär wäre, mit Blick auf Art. 13 EMRK keine gleichsam kompensatorische Pflicht des Landes Berlin, die Normenkontrolle nach § 47 VwGO zum Oberverwaltungsgericht für Streitigkeiten über die Gültigkeit strafvollzugsrechtlicher Verwaltungsvorschriften zu eröffnen. Dem stünde mit Blick auf die Rechtswegzuständigkeit der Normenkontrollgerichte (§ 47 Abs. 1 VwGO: "... im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit ...") schon die bundesrechtliche Sonderzuweisung in § 110 StVollzG entgegen ( 6 BN 1.19, 6 AV 9.19 [ECLI:DE:BVerwG:2019:120319B6BN1.19.0] - juris Rn. 4). Aufgrund dessen braucht hier nicht der Frage nachgegangen zu werden, ob die hier angegriffenen Verwaltungsvorschriften überhaupt andere "im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschriften" im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO wären (vgl. dazu 6 BN 1.17 - Buchholz 310 § 47 VwGO Nr. 212 Rn. 6 ff. m.w.N.).

14Schließlich rügt die Beschwerde eine Verletzung des Art. 47 sowie anderer Bestimmungen der Europäischen Grundrechte-Charta (GRCh) und behauptet auch insoweit eine grundsätzliche Bedeutung der Sache. Ihr Vorbringen wird jedoch den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO schon deshalb nicht gerecht, weil sie sich nicht zur Anwendbarkeit der Charta nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh verhält. Aus welchen Gründen hier ein Fall der "Durchführung des Rechts der Union" vorliegen sollte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich, so dass sich auch die Frage einer Vorlage nach Art. 267 AEUV nicht stellt.

153. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO). Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2019:121119B6BN2.19.0

Fundstelle(n):
EAAAH-37668