Wolfgang Eggert, Holger Philipps, Carola Rinker

Corona und die Auswirkungen auf die Rechnungslegung

1. Aufl. 2021

ISBN der Online-Version: 978-3-482-02581-5
ISBN der gedruckten Version: 978-3-482-68211-7

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Corona und die Auswirkungen auf die Rechnungslegung (1. Auflage)

Von Prof. Dr. Karin Breidenbach

I. Einleitung

In einer Situation der pandemiebedingten Unterauslastung von Kapazitäten wie im Jahr 2020 in zahlreichen Unternehmen ist bei der Ermittlung der Herstellungskosten insbesondere auf die Begrenzung nach § 255 Abs. 2 Satz 2 HGB zu achten. Berücksichtigt werden dürfen demnach nur angemessene und produktionsbezogene Teile der Gemeinkosten, d. h. Kosten für Produktionsausfälle oder Leerkosten sind zu eliminieren. Den hiermit zusammenhängenden Fragen nach der Angemessenheit von Gemeinkosten, der Bestimmung einer „normalen“ Beschäftigung, konkreten Wegen zur Ermittlung von Leerkosten und sich eröffnenden Ermessensspielräumen geht dieser Beitrag nach.

II. Besonderheit der Herstellungskostenermittlung bei nicht ausgelasteten Kapazitäten

Die zur Eindämmung der Corona-Pandemie weltweit ergriffenen Maßnahmen beeinflussen die wirtschaftliche Lage von Unternehmen zum Teil erheblich. Dementsprechend sind die Auswirkungen im Rahmen der Erstellung des handelsrechtlichen Jahresabschlusses, der zum einen der periodengerechten Gewinnermittlung und zum anderen der Darstellung der wirtschaftlichen Lage eines Unternehmens dient, für das Geschäftsjahr 2020 zu berücksichtigen. Hiervon betroffen sind u. a. die Herstellungskosten zur Bewertung selbst erstellter Güter.

Die Bewertung selbst erstellter, (noch) nicht verkaufter Güter betrifft

  • nicht nur die fertigen und unfertigen Erzeugnisse, sondern auch

  • aktivierten Entwicklungsaufwand in den immateriellen Vermögensgegenständen des Anlagevermögens,

  • die selbst erstellten Sachanlagen,

  • selbst erstellte Güterteile, die eine Erweiterung oder eine wesentliche Verbesserung bereits bestehender Güter bedeuten, sowie

  • Rückstellungen für unsichere Verpflichtungen in Form selbst erstellter Leistungen.

Die Problemstellung ist im Rahmen der Erstellung von Abschlüssen sowohl nach HGB als auch nach IFRS sowie in der steuerlichen Gewinnermittlung relevant. Gemeinsam ist den Herstellungskostendefinitionen der drei Normensysteme die grundsätzliche Pflicht zur Aktivierung der Material- und Fertigungseinzelkosten und -gemeinkosten sowie die Begrenzung der Berücksichtigung von Gemeinkosten auf „angemessene Teile“ (§ 255 Abs. 2 Sätze 2 und 3 HGB; R 6.3 EStR) bzw. die „normale Kapazität“ (IAS 2.13).

Die folgenden Ausführungen orientieren sich an der Herstellungskostendefinition in § 255 Abs. 2 Satz 2 HGB, also an der sog. „Untergrenze“ in einem Abschluss nach HGB (siehe Abb. 1), sind jedoch auch auf die „Obergrenze“ sowie die Herstellungskosten in einem IFRS-Abschluss übertragbar.


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Abb. 1: Bestandteile der Herstellungskosten gem. § 255 Abs. 2 HGB
Materialeinzelkosten
Pflicht
+ Fertigungseinzelkosten
+ Sondereinzelkosten der Fertigung
+ Materialgemeinkosten
+ Fertigungsgemeinkosten
+ Abschreibungen auf Anlagevermögen, sofern durch Fertigung veranlasst
= Herstellungskosten- Untergrenze
 
+ Kosten der allgemeinen Verwaltung
Wahlrecht
+ Aufwendungen für soziale Einrichtungen des Betriebs, für freiwillige soziale Leistungen und für die betriebliche Altersversorgung, sofern im Zeitraum der Herstellung angefallen
= Herstellungskosten- Obergrenze
 

III. Begrenzung der Gemeinkostenanteile in den Herstellungskosten auf „angemessene Teile“

1. Bewertung selbst erstellter Güter

Im Rahmen der Herstellung von Gütern (Sachgüter und Dienstleistungen) werden durch den Verbrauch von Produktionsfaktoren neue Güter erstellt: zeitgleich mit dem Wertverbrauch (Aufwand bzw. Kosten) kommt es auch zu einer Wertentstehung (Ertrag bzw. Erlös). Zur periodengerechten Gewinnermittlung ist der Zugang von Gütern aufgrund eigener Herstellung daher ebenso wie die Anschaffung von Gütern erfolgsneutral darzustellen und der Aufwand in den Perioden ergebniswirksam auszuweisen, in denen durch Verkauf der Güter ein Ertrag erwirtschaftet wird. Dies entspricht dem Grundsatz der sachlichen Abgrenzung.

Dementsprechend sind selbst erstellte Güter, die sich zum Abschlussstichtag im Bestand befinden, mit den Aufwendungen zu bewerten, die für ihre Herstellung entstanden sind, so dass diese durch die erfolgswirksame Aktivierungsbuchung (Neutralisierung der entstandenen Aufwendungen) das Ergebnis der Periode nicht mindern.

2. Begrenzung der Gemeinkostenbestandteile

Gem. § 255 Abs. 2 Satz 2 HGB gehören zu den Herstellungskosten „angemessene Teile der Materialgemeinkosten, der Fertigungsgemeinkosten und des Werteverzehrs des Anlagevermögens, soweit dieser durch die Fertigung veranlasst ist.“ Angemessen sind die Teile der Herstellungskosten, die für die Herstellung eines Guts entstanden sind.

Damit fallen folgende Aufwendungen grundsätzlich nicht unter den Herstellungskostenbegriff:

  • Nicht betriebliche, periodenfremde und außerordentliche Aufwendungen (aus Sicht der Kostenrechnung: neutrale Aufwendungen).

  • Der Teil der fixen Gemeinkosten, der für die Bereitstellung von Produktionskapazitäten entsteht, die vollständig nicht für die Produktion genutzt wurden und keine produktionsnotwendige Reservekapazität bilden (ungenutzte Kapazitäten).

  • Der Teil der fixen Gemeinkosten, welcher für die Bereitstellung von Produktionskapazitäten entsteht, die in der Berichtsperiode nicht für die Herstellung von Gütern genutzt wurden, da sie unausgelastet blieben (sog. Leerkosten).

Sofern Aufwendungen unmittelbar bei der Herstellung entstehen und damit dem jeweiligen Gut direkt zurechenbar sind („Einzelkosten“, z. B. der Aufwand für das Material, aus dem das Gut besteht, sog. Erzeugniseinsatzstoffe), ist ihre Identifizierung als Bestandteil der Herstellungskosten eines Gutes unkritisch. Eine Vielzahl von Aufwendungen entsteht jedoch gemeinsam im Rahmen der Produktion mehrerer Güter oder sogar mehrerer Güterarten („Gemeinkosten“, z. B. die zeitbezogenen Abschreibungen auf eine Maschine, auf der mehrere Güter gefertigt werden). Diese Aufwendungen werden – sofern es sich auch um Kosten handelt – in der Kostenrechnung ggf. im Rahmen der Überwälzung der Istkosten über die Kostenstellen den Kostenträgern zugerechnet.