BVerfG Urteil v. - 2 BvR 320/20

Stattgebender Kammerbeschluss: Zum Gebot bestmöglicher Sachaufklärung in Haftsachen bzgl der Vorbereitung einer Fortdauerentscheidung gem § 67a Abs 2 StGB - Beauftragung eines mit bisheriger Vollstreckung nicht befassten Sachverständigen nach Umständen des Falles erforderlich - Verletzung von Art 2 Abs 2 S 2 iVm 104 Abs 1 S 1 und 20 Abs 3 GG durch wiederholte Beauftragung desselben Sachverständigen - besondere Bedeutung einer Exploration mit eingehender Anamnese aufgrund des Gesundheitszustandes des Untergebrachten - Gegenstandswertfestsetzung

Gesetze: Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 104 Abs 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 66 StGB, § 67a StGB, § 67d Abs 2 StGB, § 67d Abs 3 S 1 StGB, § 67e Abs 2 Alt 3 StGB

Instanzenzug: Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt Az: 1 Ws (s) 447/19 Beschlussvorgehend LG Stendal Az: 508 StVK 232/19 Beschluss

Gründe

A.

1Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung in einem sogenannten "Altfall" nach Art. 316e Abs. 1 Satz 1 und 2, Art. 316f Abs. 2 Satz 1 EGStGB, § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB.

I.

21. a) Der einschlägig vorbestrafte Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Halle vom wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen unter Einbeziehung einer in einem früheren Urteil wegen Verstoßes gegen das Pflichtversicherungsgesetz verhängten Freiheitsstrafe von vier Monaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und fünf Monaten verurteilt. Darüber hinaus wurde seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Der Verurteilung lagen im Wesentlichen sexuelle Missbrauchshandlungen im Sommer 2003 an einem 15 Jahre alten, intelligenzgeminderten Jungen sowie im September 2003 an einem siebenjährigen Mädchen zugrunde.

3b) Seit dem befindet sich der Beschwerdeführer in der Sicherungsverwahrung. Vor den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen ordnete das Landgericht Stendal zuletzt mit rechtskräftigem Beschluss vom die Fortdauer der Unterbringung an, nachdem es ein nach Aktenlage erstattetes Gutachten des Sachverständigen Dr. K. eingeholt hatte, der zum dritten Mal in unmittelbarer Folge mit der Gutachtenerstellung betraut worden war.

42. a) Bereits mit Schriftsatz vom schlug der Verteidiger des Beschwerdeführers unter Bezugnahme auf die Erörterung in der mündlichen Anhörung vom sowie unter Ankündigung der Mitwirkungsbereitschaft des Beschwerdeführers drei Gutachter vor. Zur Vorbereitung der nächsten turnusmäßigen Entscheidung über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung im Jahr 2019 beauftragte das Landgericht Stendal mit Beschluss vom erneut den Sachverständigen Dr. K. mit der Erstellung eines Gutachtens.

5b) Mit angegriffenem Beschluss vom ordnete das Landgericht Stendal die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung an.

6aa) Die Gefahr der Begehung schwerer Sexualstraftaten zum Nachteil von Kindern durch den Beschwerdeführer sei immer noch im höchsten Maße gegeben. Der Sachverständige komme, wie bereits in seinen Vorgutachten, zu dem Ergebnis, dass die vom Beschwerdeführer ausgehende Gefährlichkeit auf seine bislang nur unzureichend behandelten Störungen (dissoziale Persönlichkeitsstörung und pädophile Paraphilie) zurückzuführen und trotz bestehender körperlicher Einschränkungen nicht vermindert sei. Diesen Ausführungen schließe sich das Landgericht an. Dass der Beschwerdeführer die persönliche Exploration durch den Sachverständigen verweigert habe, so dass das Gutachten nach Aktenlage erstellt worden sei, stehe seiner Nachvollziehbarkeit und Verwertbarkeit nicht entgegen. Denn der Beschwerdeführer sei dem Sachverständigen aus einer im Jahr 2017 durchgeführten Exploration persönlich bekannt. Auch hätten dem Sachverständigen die maßgeblichen Unterlagen zur Verfügung gestanden. Zudem hätten er und das Landgericht sich im Anhörungstermin einen persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer verschaffen können.

7bb) Die Erledigung der Maßregel nach § 67d Abs. 2 Satz 2 StGB analog komme nicht in Betracht. Der Setzung einer Frist zur Herbeiführung einer ausreichenden Betreuung im Sinne des § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB bedürfe es nicht. Weil der Beschwerdeführer die Teilnahme an ihm angebotenen therapeutischen Maßnahmen verweigere, seien die Versuche der Vollzugsanstalt, ihn etwa mittels fachfremden Personals zur Teilnahme zu motivieren, als ausreichende Betreuung anzusehen. Ebenso wenig sei veranlasst gewesen, der Vollzugsanstalt aufzugeben, einen männlichen Therapeuten mit der Betreuung zu beauftragen. Der Sachverständige habe ausgeführt, dass der Beschwerdeführer während der gesamten Dauer seiner Unterbringung gegenüber Mitarbeitern der Fachdienste unabhängig von deren Geschlecht keine Gesprächsbereitschaft mehr gezeigt habe, wenn es um die von ihm begangenen Sexualstraftaten an Kindern gegangen sei.

83. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde, in der der Beschwerdeführer unter anderem rügte, dass trotz der Erörterung im Anhörungstermin vom der Sachverständige Dr. K. erneut mit der Gutachtenerstellung beauftragt worden sei, verwarf das Oberlandesgericht Naumburg mit angegriffenem Beschluss vom .

9a) Die hangbedingte Gefährlichkeit des Beschwerdeführers dauere unverändert fort. Im Falle einer Freilassung stehe mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass er trotz seines vorgerückten Alters und seines teilweise eingeschränkten Gesundheitszustandes weiterhin seinen hangbedingten Neigungen nachgebe und unter Ausnutzung der besonderen Arglosigkeit kindlicher Opfer neue, schwere Missbrauchstaten, ähnlich den zugrundeliegenden Anlasstaten, begehe. Ein milderes Mittel als die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung scheide angesichts des unbefriedigenden Behandlungsstandes und der fehlenden therapeutischen Mitarbeit des Beschwerdeführers gegenwärtig aus.

10b) Dem Beschwerdeführer sei bisher ein § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB genügendes Behandlungsangebot unterbreitet worden. Der Umstand, dass trotz der langen Unterbringungsdauer noch keine nennenswerten Fortschritte erzielt worden seien, sei nicht der bisherigen Behandlung anzulasten. Erforderlich sei vielmehr, dass sich der Beschwerdeführer der Behandlung gegenüber öffne und zur Mitarbeit bereit sei.

11c) Anzumerken sei, dass es sich angesichts der vom Beschwerdeführer gezeigten Gesprächsverweigerung gegenüber dem Sachverständigen Dr. K. als zweckmäßig erweisen könnte, künftig, wie von der Verteidigung angeregt, einen anderen Sachverständigen für eine Begutachtung hinzuzuziehen.

124. Nach Erhebung der vorliegenden Verfassungsbeschwerde hat das Landgericht Stendal zuletzt mit Beschluss vom die Fortdauer der Sicherungsverwahrung angeordnet. Der Beschluss ist nach der Verwerfung der hiergegen gerichteten sofortigen Beschwerde durch das Oberlandesgericht Naumburg seit dem rechtskräftig.

II.

13Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Freiheitsrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG.

141. Die angebotenen Behandlungsmaßnahmen stellten kein ausreichendes Betreuungsangebot dar. Obwohl er über Jahre an diversen Behandlungsprogrammen teilgenommen habe, sei eine Stagnation zu konstatieren. Um das gesetzlich vorgegebene Behandlungsziel zeitnah zu erreichen, sei die Justizvollzugsanstalt mehrfach vergeblich aufgefordert worden, ihm einen geeigneten externen Therapeuten zur Seite zu stellen. Ferner habe der Sachverständige in der Vergangenheit geäußert, dass es sinnvoller erscheine, wenn der Beschwerdeführer mit einem männlichen Therapeuten rede. Es sei dringend geboten, die Vollzugsanstalt zur Gestellung eines solchen anzuhalten. Von einer generellen Therapieunwilligkeit könne keine Rede sein.

152. Darüber hinaus habe der Sachverständige Dr. K. bei der Erstellung seines Gutachtens den aufgrund eines Schlaganfalls und einer Bypass-Operation bestehenden körperlichen Zustand nicht beurteilen können, da ihm die Einsicht in die Krankenakte nicht gestattet worden sei. Eine körperliche und insbesondere geistige Untersuchung im Hinblick auf hirnorganische und kognitive Störungen habe mithin nicht stattgefunden. Insofern seien belastbare sachverständige Aussagen, wie sich die Gebrechen auf die Störung und die Gefährlichkeit auswirkten, nicht möglich. Vielmehr wäre eine hirnorganische Untersuchung zwingend erforderlich gewesen. Einer solchen habe sich der Beschwerdeführer nicht generell verweigert, sondern ausschließlich in Bezug auf den Sachverständigen Dr. K. Dieser selbst habe noch in der Anhörung vom einen Gutachterwechsel für sinnvoll erachtet.

III.

161. Nach Auffassung des Generalbundesanwalts in seiner Stellungnahme vom hat die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg. Die angegriffenen Entscheidungen verstießen nicht gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Sie ließen nicht erkennen, dass die Vollzugsanstalt den Anforderungen an die Bereitstellung von Behandlungs-, Betreuungs- und Motivationsangeboten bei einem in der Sicherungsverwahrung Untergebrachten nicht genügt hätte.

17Dem Beschwerdeführer seien von Beginn an therapeutische Maßnahmen unterschiedlichster Art angeboten worden. Er habe aber stets jede Auseinandersetzung mit seinem Verhalten und den delinquenzrelevanten Aspekten seiner Persönlichkeit verweigert. Die vorgebliche Therapiemotivation im Fall der Gestellung eines externen männlichen Therapeuten sei mit seinem Verhalten nicht in Einklang zu bringen. Die Wertung der Fachgerichte, der Beschwerdeführer habe ausreichende Behandlungsangebote erhalten, sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

182. Nach Auffassung der Regierung des Landes Sachsen-Anhalt in ihrem Schreiben vom ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig, jedenfalls aber unbegründet.

19Es fehle an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit den ausführlichen fachgerichtlichen Begründungen. Die Ausführungen des Beschwerdeführers erschöpften sich in fachrechtlichen Erwägungen zu § 67d Abs. 2 und § 66c Abs. 1 StGB und der Behauptung, es liege eine Grundrechtsverletzung vor, ohne die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts genügend darzutun.

203. Dem Bundesverfassungsgericht hat das Vollstreckungsheft vorgelegen.

B.

21Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die sich aus dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung ergebenden Anforderungen an die Anordnung der Fortdauer von Unterbringungen in der Sicherungsverwahrung - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. etwa BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1235/17 -, Rn. 40 ff.). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

I.

22Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

231. Der Zulässigkeit steht der zwischenzeitlich ergangene Beschluss des Landgerichts Stendal vom über die Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers nicht entgegen. Er führt nicht zum Entfallen des Rechtsschutzbedürfnisses für die Verfassungsbeschwerde, denn die angegriffenen Entscheidungen waren Grundlage eines tiefgreifenden Eingriffs in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf die Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 128, 326 <389>). Der Beschwerdeführer hat daher ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung und gegebenenfalls einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieses Grundrechtseingriffs durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>; 91, 125 <133>; 104, 220 <234 f.>).

242. Die Verfassungsbeschwerde genügt aber nur hinsichtlich der der Sache nach geltend gemachten Verletzung des Gebots der bestmöglichen Sachaufklärung den sich aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ergebenden Begründungsanforderungen.

25Das Vorbringen bezüglich der Verletzung des Freiheitsgrundrechts durch ein unzureichendes Betreuungsangebot im Sinne des § 66c Abs. 1 Nr. 1 StGB ist hingegen nicht genügend substantiiert. Der Beschwerdeführer hat sich bereits nicht im gebotenen Umfang (vgl. BVerfGE 82, 43 <49>; 86, 122 <127>; 88, 40 <45>; 105, 252 <264>) mit den angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen auseinandergesetzt. Die Fachgerichte haben sich mit den schon im Überprüfungsverfahren erhobenen Einwänden des Beschwerdeführers argumentativ auseinandergesetzt. Dass sie hierbei Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechts verkannt oder willkürlich entschieden hätten, zeigt die Verfassungsbeschwerde nicht auf.

II.

26Die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Stendal und des Oberlandesgerichts Naumburg verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG. Sie genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die für die Anordnung der Fortdauer von Unterbringungen in der Sicherungsverwahrung bestehen, nicht, weil sie auf einer Verletzung des Gebots bestmöglicher Sachaufklärung beruhen.

271. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann "die Freiheit der Person" und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als "unverletzlich" bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuieren (vgl. BVerfGE 35, 185 <190>; 109, 133 <157>; 128, 326 <372>).

28a) Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG erfordert auch im Verfahrensrecht Beachtung. Aus ihr ergeben sich Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1235/17 -, Rn. 41).

29b) In Bezug auf die Fortdauerentscheidungen bei Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass es bei einer langjährigen Unterbringung in der Regel geboten ist, von Zeit zu Zeit einen anstaltsfremden Sachverständigen hinzuzuziehen, um der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen vorzubeugen und um auszuschließen, dass Belange der Anstalt oder der Beziehung zwischen Untergebrachtem und Therapeuten das Gutachten beeinflussen (vgl. BVerfGE 109, 133 <162, 164>; BVerfGK 15, 287 <295>). Aus denselben Gründen kann es bei langdauernder Unterbringung angezeigt sein, den Untergebrachten von einem solchen Sachverständigen begutachten zu lassen, der im Laufe des Vollstreckungsverfahrens mit diesem noch überhaupt nicht befasst war (vgl. BVerfGE 109, 133 <164>; BVerfGK 15, 287 <295 f.>). Dabei kommt auch einem Gutachten, das ohne Exploration des Betroffenen allein auf der Grundlage der Akten, der Vorgutachten sowie der Unterbringungsunterlagen erstellt worden ist, Bedeutung zu, da ein neuer Gutachter die Feststellungen und Stellungnahmen der Unterbringungseinrichtung einer eigenständigen Bewertung zuführen wird, bei der sich seine gesteigerte Unvoreingenommenheit und kritische Distanz entfalten können (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1235/17 -, Rn. 42 m.w.N.).

30c) Diese verfassungsrechtlichen Prinzipien gelten auch für den Vollzug einer Sicherungsverwahrung. Dem steht nicht entgegen, dass es für den Bereich der Sicherungsverwahrung einfachrechtlich an einer § 463 Abs. 4 Satz 2 StPO entsprechenden Regelung fehlt. Vielmehr folgen die Anforderungen an die Einholung von Sachverständigengutachten und die Bestimmung der Gutachter unmittelbar aus dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht auch in Bezug auf die Sicherungsverwahrung angenommen, dass das Gericht der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen durch die sorgfältige Auswahl des Gutachters entgegenwirken muss (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1235/17 -, Rn. 43 m.w.N.).

31d) Die Entscheidung über die Einholung eines Sachverständigengutachtens aufgrund § 463 Abs. 3 Satz 3 in Verbindung mit § 454 Abs. 2 StPO ist zunächst Aufgabe der Fachgerichte. Ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts ist erst dann gerechtfertigt, wenn die Auslegung und Anwendung dieser freiheitssichernden Vorschriften mit Bedeutung und Tragweite des Freiheitsgrundrechts nicht zu vereinbaren sind oder sich als objektiv willkürlich erweisen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1235/17 -, Rn. 44).

32Die Fachgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung der prozeduralen Sicherungen des Freiheitsgrundrechts allerdings zu berücksichtigen, dass die materiellen Freiheitsgarantien des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG unter den grundrechtlich verbürgten Rechten ein besonderes Gewicht haben und die Freiheit des Einzelnen nur in einem mit wesentlichen formellen Garantien ausgestatteten Verfahren entzogen werden darf. Daher sind Inhalt und Reichweite der Form- und Verfahrensvorschriften eines freiheitsbeschränkenden Gesetzes von den Fachgerichten so auszulegen, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten, schon um einer Aushöhlung und Entwertung des Grundrechts über das Verfahrensrecht entgegenzuwirken (vgl. BVerfGE 65, 317 <322 f.>; BVerfGK 15, 287 <298 f.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1235/17 -, Rn. 45).

33Ob eine Verletzung des Gebots der bestmöglichen Sachaufklärung vorliegt, weil eine erneute Beauftragung eines Sachverständigen mit der Gefahr einer repetitiven Routinebeurteilung verbunden ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Ein Indiz für eine derartige Gefahr kann insbesondere sein, dass der Sachverständige mehrere Gutachten in einer engen zeitlichen Abfolge erstattet hat. Entscheidend ist insoweit die Häufigkeit und die Intensität der Vorbefassung des beauftragten Sachverständigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1235/17 -, Rn. 57). Verstärkt wird diese Gefahr, wenn der Betroffene zu einer Exploration durch den Sachverständigen nicht bereit ist und das Gutachten daher nach Aktenlage erstellt werden muss (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1235/17 -, Rn. 49).

342. Diesen Maßstäben genügen die angegriffenen Beschlüsse nicht.

35a) Gegen die Vorgehensweise des Landgerichts, über die Fortdauer der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage eines weiteren Sachverständigengutachtens zu entscheiden, ist verfassungsrechtlich - gerade mit Blick auf die zwischenzeitlich eingetretenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers - nichts zu erinnern; sie war vielmehr einfachrechtlich nach § 463 Abs. 3 Satz 4 StPO, § 67d Abs. 3 StGB geboten. Das Landgericht hat dabei aber außer Betracht gelassen, dass nach den Umständen des vorliegenden Falls eine erneute Beauftragung des Sachverständigen Dr. K. erkennbar mit der Gefahr einer repetitiven Routinebeurteilung verbunden war. Demgemäß war dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung durch die Beauftragung eines anderen, möglichst mit der bisherigen Vollstreckung nicht befassten Sachverständigen Rechnung zu tragen.

36aa) Der Sachverständige Dr. K. hatte vor seiner streitgegenständlichen Beauftragung vom bereits am , am sowie am Sachverständigengutachten zum Fortbestand der Unterbringungsvoraussetzungen bei dem langjährig untergebrachten Beschwerdeführer erstattet. Neben ihm legten in diesem Zeitraum keine weiteren externen Sachverständigen Gutachten vor. Das im vorliegenden Verfahren bereits knapp einen Monat nach Beauftragung erstattete Gutachten vom war mithin das vierte Gutachten, das zwischen dem und dem eingeholt und durch den Sachverständigen Dr. K. erstattet wurde.

37Angesichts der engen zeitlichen Abfolge der durch den Sachverständigen Dr. K. erstatteten Gutachten und des Umstands, dass das letzte Gutachten erst rund neun Monate zuvor erstellt worden war, lag die Gefahr einer repetitiven Routinebegutachtung bei der erneuten Beauftragung dieses Sachverständigen am auf der Hand. Dies gilt insbesondere aufgrund des Umstands, dass der Beschwerdeführer zu einer Exploration durch den Sachverständigen Dr. K. nicht bereit war und das Gutachten daher - wie bereits im Falle der Gutachten vom und vom - nach Aktenlage erstattet werden musste.

38Eine Exploration mit eingehender Anamnese war im vorliegenden Fall von besonderer Bedeutung, weil der Beschwerdeführer im März 2019 einen Schlaganfall erlitten und sich im Juli 2019 einer Bypass-Operation unterzogen hatte. Hieraus ergaben sich, wie auch der Sachverständige Dr. K. in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt hat, im Zusammenspiel mit dem Alter des Beschwerdeführers klärungsbedürftige Fragen hinsichtlich des Fortbestandes der von ihm ausgehenden Gefahr weiterer Straftaten. Zu einer diesbezüglich abschließenden Beurteilung hat sich der Sachverständige mangels Exploration und Einsichtsmöglichkeit in die Gesundheitsakte nicht in der Lage gesehen.

39bb) Angesichts dessen ist ohne Weiteres nachvollziehbar, dass das Landgericht in der dem hiesigen Überprüfungszeitraum unmittelbar vorangehenden mündlichen Anhörung vom auf die Anregungen des Sachverständigen Dr. K. und der Verteidigung festhielt, "dass, wenn der Untergebrachte wieder nicht mit dem Gutachter spricht, es besser wäre, wenn ein Gutachter das Gutachten erstellen würde, der wenigstens einmal mit dem Untergebrachten gesprochen hat, sonst wäre man keinen Schritt weiter".

40cc) Aus welchem Grund das Landgericht gleichwohl und trotz der schriftlichen Vorschläge der Verteidigung vom den Sachverständigen Dr. K. erneut mit der Erstellung des Gutachtens betraut hat, erschließt sich weder aus dem Bestellungsbeschluss vom noch aus dem angegriffenen Fortdauerbeschluss vom . Das Landgericht ist auf die Problematik, dass der Sachverständige Dr. K. zum vierten Mal hintereinander innerhalb von zweieinhalb Jahren mit einer Gutachtenerstellung betraut wurde, nicht eingegangen, obwohl der Verteidiger in der mündlichen Anhörung vom das Begehr wiederholt hatte, einen anderen Gutachter zu bestellen, und erklärt hatte, dass der Beschwerdeführer dann auch an der Begutachtung mitwirken werde.

41Soweit im Fortdauerbeschluss lediglich darauf verwiesen wird, der Beschwerdeführer sei dem Sachverständigen seit der im Jahr 2017 durchgeführten Exploration persönlich bekannt, dem Sachverständigen hätten die notwendigen Unterlagen vorgelegen und er habe sich in der mündlichen Anhörung einen persönlichen Eindruck vom Beschwerdeführer verschaffen können, vermag dies seine erneute Beauftragung trotz der Gefahr repetitiver Routinebeurteilung nicht zu rechtfertigen. Vielmehr begründet der Umstand, dass der Sachverständige den Beschwerdeführer einzig 2017 explorieren konnte und seither angesichts der ihm gegenüber geäußerten Verweigerung der Exploration in recht kurzer Folge drei weitere Gutachten auf Aktenbasis erstellen musste, die genannte Gefahr.

42Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass auch einem nach Aktenlage erstellten Gutachten regelmäßig eine erhebliche Aussagekraft im Rahmen der durch das Gericht zu treffenden Prognoseentscheidung zukommt. Zwar ist davon auszugehen, dass der Gutachter auch in diesem Fall die Feststellungen und Stellungnahmen der Unterbringungseinrichtungen und die sonstigen Unterlagen einer eigenständigen Bewertung zuführt, bei der sich seine gesteigerte Unvoreingenommenheit und kritische Distanz entfalten können. Daher kann auch ein nach der Aktenlage erstelltes Gutachten eines bisher mit dem Sachverhalt nicht befassten Sachverständigen zu einer deutlichen Erweiterung der tatsächlichen Grundlage führen, von der das Gericht bei seiner Entscheidung über die Fortdauer der Freiheitsentziehung ausgehen kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 1235/17 -, Rn. 56 m.w.N.). Aus diesem Grund befreit die Verweigerung der Mitwirkung an der Erstellung des Gutachtens nicht von der Verpflichtung, im Interesse bestmöglicher Sachaufklärung bei der Bestimmung des Sachverständigen der Gefahr repetitiver Routinebeurteilungen entgegenzuwirken.

43Für die Frage, ob die Gefahr repetitiver Routinebegutachtung besteht, ist aber die Explorationsbereitschaft des Beschwerdeführers ohne Belang. Es kann dahinstehen, ob im Falle der Benennung eines neuen Sachverständigen die Möglichkeit einer Exploration des Beschwerdeführers bestanden hätte. Auch wenn ein neuer Sachverständiger sein Gutachten lediglich nach Aktenlage hätte erstellen können, wäre es aus den vorstehenden Gründen geboten gewesen, einen solchen zu benennen. Sonstige Umstände, die der Beauftragung eines neuen, bisher mit dem Beschwerdeführer nicht befassten Sachverständigen entgegengestanden hätten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass bei Beauftragung eines neuen Sachverständigen eine fristgerechte Fortdauerentscheidung nicht hätte ergehen können. Vielmehr war bereits bei der im Januar 2019 durchgeführten Anhörung die Frage eines Gutachterwechsels thematisiert und waren entsprechende Gutachtervorschläge beim Gericht eingereicht worden. Es kann daher dahinstehen, ob dieser Umstand überhaupt geeignet wäre, eine erneute Beauftragung des Sachverständigen Dr. K. zu rechtfertigen.

44b) Das Oberlandesgericht hat durch seinen angegriffenen Beschluss vom die Verletzung des Freiheitsrechts des Beschwerdeführers vertieft.

45aa) Es ist auf die Beanstandung der erneuten Beauftragung des Sachverständigen Dr. K. in der sofortigen Beschwerde inhaltlich nicht eingegangen. Stattdessen hat es die erhobenen Einwände ohne Erläuterung zur bloßen Anregung der Verteidigung umgedeutet, in künftigen Überprüfungsverfahren einen anderen externen Sachverständigen für eine Begutachtung hinzuzuziehen. Die sofortige Beschwerde stützte sich jedoch auch auf den dem aktuellen Überprüfungsverfahren anhaftenden Mangel der repetitiven Begutachtung und zielte ausdrücklich auf eine Aufhebung des angefochtenen landgerichtlichen Beschlusses ab. Angesichts der von ihm selbst konstatierten nunmehr dritten Gesprächsverweigerung gegenüber dem Sachverständigen Dr. K. in Folge hätte zumindest das Oberlandesgericht als Beschwerdegericht (vgl. § 308 Abs. 2, § 309 StPO) der Frage unzureichender Sachaufklärung nachgehen müssen.

46bb) Eine Rechtfertigung der erneuten Beauftragung des Sachverständigen Dr. K. ergibt sich auch nicht daraus, dass das Oberlandesgericht für künftige Überprüfungsverfahren eine Begutachtung durch einen bisher mit dem Vollstreckungsverfahren nicht befassten Sachverständigen in Aussicht gestellt hat. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass die angegriffenen Beschlüsse dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung nicht genügen, weil sie durch die fehlerhafte Gutachterbestellung auf einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht entsprechenden Tatsachengrundlage beruhen (vgl. dazu BVerfGK 15, 287 <303>).

III.

471. Es ist gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festzustellen, dass die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Stendal - Auswärtige Strafvollstreckungskammer mit Sitz in Burg - vom und des Oberlandesgerichts Naumburg vom den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Art. 20 Abs. 3 GG verletzen. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Naumburg vom ist daher aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zur erneuten Entscheidung über die Kosten zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

482. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

493. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2021:rk20210422.2bvr032020

Fundstelle(n):
JAAAH-79319