Online-Nachricht - Donnerstag, 09.07.2020

Kindergeld | Feststellung Gendefekt nach dem 27. Lebensjahr (BFH)

Alle drei Tatbestandsmerkmale des Behinderungsbegriffes müssen vor Vollendung der in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 Halbsatz 2 EStG geregelten Altersgrenze eingetreten sein und zusätzlich auch während des Zeitraums bestehen, für den der Kindergeldanspruch geltend gemacht wird. Eine drohende Behinderung erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG (; veröffentlicht am ).

Hintergrund: Gem. § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i. V. m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG in der im Streitzeitraum geltenden Fassung besteht für ein volljähriges Kind ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, und die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres (bei Behinderungseintritt ab VZ 2007: 25. Lebensjahr) eingetreten ist.

Sachverhalt: Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Tochter des Klägers, die an einer Muskelerkrankung i. S. einer sog. Myotonen Dystrophie Curschmann-Steinert (MD) leidet, behindert i.S.d. o.g. Vorschriften ist: Die Familienkasse lehnte die Gewährung von Kindergeld mit der Begründung ab, dass die Behinderung der Tochter nicht vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten sei. Zwar sei sie im Jahr 1968 mit einem Gendefekt geboren, dieser habe aber erst wesentlich später zu einer Behinderung i. S. der o.g. Vorschrift geführt. Hiergegen wendete der Kläger ein, dass der Gendefekt seiner Tochter von Geburt an vorgelegen habe. Er sei erst später diagnostiziert worden. Lediglich die dadurch bedingte Unfähigkeit zum Selbstunterhalt sei später eingetreten.

Das FG hatte entschieden, dass ein Kind mit einem angeborenen Gendefekt auch dann als Kind i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist, wenn die behinderungsbedingte Unfähigkeit des Kindes, sich selbst zu unterhalten, erst nach dem 27. Lebensjahr eingetreten ist und verpflichtete die Familienkasse zur Festsetzung von Kindergeld ().

Der BFH hielt die Revision der Familienkasse für begründet:

  • Da für die Tochter aufgrund einer Übergangsregelung noch nicht die ab 2000 auf das 25. Lebensjahr abgesenkte Altersgrenze gilt, setzt der Kindergeldanspruch des Klägers voraus, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist. Der Behinderungsbegriff erfordert dabei eine für das Lebensalter untypische gesundheitliche Situation, die mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate andauert und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigt.

  • Nicht ausreichend ist es nach der Entscheidung des BFH dagegen, wenn vor Erreichen der Altersgrenze eine Behinderung zwar droht, aber noch nicht eingetreten ist.

  • Das FG war zwar auf der Grundlage des festgestellten Grades der Behinderung für die streitigen Monate ab 2011 zu Recht vom Vorliegen einer Behinderung ausgegangen. Für die Frage, ob die Behinderung bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres –also bis August 1995-- eingetreten ist, ließ das FG aber zu Unrecht bereits den festgestellten angeborenen Gendefekt ausreichen.

  • Dem FG wurde daher für den zweiten Rechtsgang aufgegeben, nähere Feststellungen dazu zu treffen, ob der Gendefekt bereits vor Erreichen der Altersgrenze zu Funktions- und Teilhabebeeinträchtigungen bei der Tochter des Klägers geführt hatte.

Anmerkung von Prof. Dr. Stefan Schneider, Richter im III. Senat des BFH:

Für behinderte Kinder gibt es Kindergeld auch über die Altersgrenze von 25 (früher 27) Jahren hinaus. Allerdings muss nach § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG „die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten“ sein. Behinderung ist im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX zu verstehen, setzt eine länger als 6 Monate andauernde lebensaltersuntypische gesundheitliche Lage voraus, die Einschränkungen („Teilhabebeeinträchtigungen“) verursacht. Eingetreten bedeutet, dass allein eine nur drohende Behinderung nicht genügt. Die medizinisch erforderliche Beeinträchtigung muss spätestens bei Erreichen der Altersgrenze vorliegen. Was bedeutet das, wenn ein Kind einen angeborenen Gendefekt hat, der – allerdings erst in höherem Alter – zu schwerwiegenden Funktionsbeeinträchtigungen führt? Das Urteil zeigt: Den Eltern ist zu entsprechender Beweisvorsorge zu raten. Denn ihnen obliegt die Feststellungslast dafür, dass schon bei Erreichen der Altersgrenze dauerhafte und gravierenden Funktionsbeeinträchtigungen beim Kind vorgelegen haben.

Quelle: , NWB Datenbank, Pressemitteilung v. (JT)

Fundstelle(n):
NWB TAAAH-53192