BGH Urteil v. - 1 StR 632/18

Revisionsrechtliche Überprüfung einer Divergenz zwischen Strafausspruch im Tenor der Urteilsurkunde und der verkündeten Urteilsformel

Gesetze: § 267 StPO, § 268 Abs 2 S 1 StPO, § 274 S 1 StPO, § 358 Abs 2 S 1 StPO

Instanzenzug: Az: 1 StR 632/18 Beschlussvorgehend LG Nürnberg-Fürth Az: 359 Js 25243/16 - 1 KLsnachgehend Az: 1 StR 632/18 Beschluss

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten P.       wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen dem schriftlichen Urteil zufolge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Im Übrigen hat es ihn freigesprochen.

2Gegen diese Verurteilung wendet sich der Angeklagte nur mit der nicht ausgeführten Sachrüge. Die Revision des Angeklagten hat im Strafausspruch Erfolg.

I.

31. Nach den Feststellungen des Landgerichts schlossen sich der Angeklagte und weitere Tatbeteiligte im Sommer 2016 zu einer Bande zusammen, um im Raum N.       Heroin zu verkaufen, wobei der Angeklagte die ausschließliche Befehlsgewalt hatte und die Bandenmitglieder auch dann kontrollierte, wenn er sich nicht vor Ort aufhielt. Er beschaffte das Heroin, sorgte für dessen Lagerung in verschiedenen Bunkern der Gruppierung, rekrutierte die Verkäufer (sog. „Läufer“) und brachte sie in Pensionen in N.    unter. Bandenmitglieder übernahmen das Heroin zu einem vom Angeklagten festgesetzten Kaufpreis, streckten und portionierten es in Plomben zu je fünf Gramm und versorgten sodann die Läufer. Die Läufer verkauften die Plomben zu den vom Angeklagten vorgegebenen Preisen an von ihm bestimmten Orten an die von ihm genannten Abnehmer.

4Der Angeklagte führte in dieser Weise Heroin aus drei getrennten Vorratsmengen - 378,3 Gramm (Wirkstoffgehalt 10 % Heroinhydrochlorid) von Anfang bis Mitte Juli 2016, 368,6 Gramm (Wirkstoffgehalt 10 % Heroinhydrochlorid) vom bis und 970 Gramm (Wirkstoffgehalt 15 % Heroinhydrochlorid) vom bis - dem Verkauf zu.

52. Das schriftliche Urteil weist hinsichtlich des Angeklagten P.       im Tenor und in den Strafzumessungsgründen - in sich widerspruchsfrei - eine Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren aus. Dagegen nennt das Hauptverhandlungsprotokoll als verkündeten Tenor eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren. Der dem Protokoll angefügte Urteilstenor, den Berufsrichter und Schöffen unterschrieben haben, bekundet wiederum eine Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren, ebenso wie die im Protokoll wiedergegebene Haftentscheidung und der dem Protokoll angehängte Haftbefehl.

II.

6Die Nachprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Sachrüge hat zum Schuldspruch und zur Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Indes hat der Strafausspruch keinen Bestand.

71. Zwar ist die Strafzumessung grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Das Revisionsgericht kann jedoch eingreifen, wenn ein Rechtsfehler vorliegt, namentlich die tatrichterlichen Zumessungserwägungen defizitär oder in sich fehlerhaft sind.

8Ein solcher Rechtsfehler liegt hier vor. Angesichts der beträchtlichen Höhe der verhängten Einzelstrafen hätte es einer eingehenderen Begründung bedurft (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom - 2 StR 317/15 Rn. 4; vom - 5 StR 522/12 Rn. 4; vom - 5 StR 264/12 Rn. 3 und vom - 4 StR 278/10 Rn. 5; jeweils mwN; vgl. auch , BGHR BtMG § 29 Strafzumessung 26). Die Strafkammer beschränkt sich lediglich darauf mitzuteilen, um wieviel die nicht geringe Menge überschritten ist, dass es sich bei Heroin um eine gefährliche Droge handelt und der Angeklagte nicht einschlägig vorbestraft ist. Vor allem die nur rudimentär dargestellten Strafschärfungsgründe lassen die verhängten Strafen nicht ohne weiteres nachvollziehbar erscheinen.

92. Da es sich insoweit nur um einen Wertungsfehler handelt, können die Feststellungen bestehen bleiben (vgl. § 353 Abs. 2 StPO). Allerdings zieht die Aufhebung des Strafausspruchs den Wegfall des angeordneten Vorwegvollzugs eines Teils der Strafe nach sich. Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, die mit den bisherigen nicht in Widerspruch stehen.

III.

10Die Sache bedarf daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Im Übrigen merkt der Senat an:

11Ungeachtet der Frage, ob eine Gesamtfreiheitsstrafe von deutlich über zehn Jahren überhaupt nach dem Vorgesagten rechtsfehlerfrei verhängt werden kann, ist zu beachten, ob unter dem Verbot der Schlechterstellung (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO) eine Obergrenze von 13 Jahren Freiheitsstrafe, wie in der Formel und den Gründen (§ 267 StPO) im schriftlichen Urteil niedergelegt, oder eine solche von zwölf Jahren, wie im Hauptverhandlungsprotokoll dokumentiert (§ 268 Abs. 2 Satz 1, § 273 Abs. 1 Satz 1 StPO), zu wahren ist. Der Senat hat Bedenken, dem 3. Strafsenat des Rn. 3-5) zu folgen, der eine Verfahrensrüge des Beschwerdeführers (§ 344 Abs. 2 Satz 1 Alternative 1, Satz 2 StPO) für erforderlich hält, um ein Abweichen des Urteilstenors aus der zu den Akten gebrachten Urteilsurkunde von der verkündeten Urteilsformel in der Revisionsinstanz zu erkennen (vgl. auch BGH, Beschlüsse vom - 1 StR 529/12; vom - 2 StR 42/01 und vom - 1 StR 643/85, BGHSt 34, 11, 12 f.; Urteil vom - 1 StR 336/11 Rn. 6-8).

12Dem vermag der Senat schon deshalb nicht zu folgen, weil das Rüge- und Vortragserfordernis nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nur für Verfahrensverstöße gilt. Es erscheint geboten, die Übereinstimmung des Tenors aus der Urteilsurkunde mit der verkündeten Urteilsformel von Amts wegen zu prüfen. Deshalb können die Formalerfordernisse einer Verfahrensrüge hierfür nicht gelten. Dies ergibt sich - jenseits der Beschlüsse vom - 4 StR 151/10 Rn. 1; vom - 4 StR 340/09 Rn. 1 f.; vom - 4 StR 579/08 Rn. 2 f.; vom - 4 StR 311/07 Rn. 1 und vom - 3 StR 315/91, BGHR StPO § 274 Beweiskraft 10 sowie Urteile vom - 2 StR 542/16 Rn. 1, 13-19; vom - 5 StR 325/98 Rn. 2 f. (insoweit in BGHSt 44, 251 nicht abgedruckt) und vom - 2 StR 306/07 Rn. 3 und der Verfahrenspraxis des Generalbundesanwalts - im Wesentlichen aus Folgendem:

131. Nur mit Verkündung der Urteilsformel nach § 268 Abs. 2 Satz 1 StPO ergeht „ein Urteil im Rechtssinne“ (, BGHSt 8, 41, 42; vom - 4 StR 433/60, BGHSt 15, 263, 264 und vom - 2 StR 575/60, BGHSt 16, 178, 180; LR/Stuckenberg, StPO, 26. Aufl., § 268 Rn. 20 und § 260 Rn. 25; MüKoStPO/Moldenhauer, § 268 Rn. 12; Kuckein/Bartel in KK-StPO, 8. Aufl., § 268 Rn. 3). Hingegen ist die Übernahme der Urteilsformel in die Urteilsurkunde keine Voraussetzung für die Existenz des Urteils ( Rn. 3; vgl. auch Rn. 4 für den Fall der unvollständigen Aufnahme des verkündeten Schuldspruchs in die Urteilsurkunde).

14Neben dem Vorliegen der Verfahrensvoraussetzungen einer wirksamen Anklageerhebung und eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses (st. Rspr.; Rn. 91; Beschlüsse vom - 3 StR 459/06 Rn. 2 und vom - 5 StR 376/03 Rn. 14) sowie dem Fehlen von Verfahrenshindernissen (etwa Verjährung, vgl. Rn. 64 mwN) ist auch die Existenz eines erstinstanzlichen Urteils und dessen Inhalt vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen. Denn das Revisionsverfahren setzt ein auf Rechtsfehler zu prüfendes erstinstanzliches Urteil voraus. Das angefochtene Urteil ist damit nicht nur Gegenstand des Revisionsverfahrens, sondern Ausgangspunkt jeglicher revisionsrechtlichen Prüfung. Die wirksame Verkündung eines Urteils, die sich nur aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ergeben kann und an dessen Beweiskraft teilnimmt (§ 274 Satz 1 StPO), ist damit gewissermaßen Verfahrensvoraussetzung für das Revisionsverfahren und als solche von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen. Ohne Kenntnisnahme des verkündeten Urteils wäre auch die amtswegig gebotene Prüfung, ob das Urteil den angeklagten und vom Eröffnungsbeschluss umgrenzten Sachverhalt betrifft und erschöpft (vgl. dazu nur Rn. 8; Urteil vom - 4 StR 518/09 Rn. 1, 3, 6), unmöglich.

152. Bei Divergenz ist der „authentische“ Wortlaut der Urteilsformel aus der Sitzungsniederschrift gegenüber der Urteilsurkunde maßgeblich (BGH, Beschlüsse vom - 1 StR 529/12 Rn. 2; vom - 4 StR 340/09 Rn. 2; vom - 2 StR 42/01 Rn. 2; vom - 3 StR 315/91, BGHR StPO § 274 Beweiskraft 10 und vom - 1 StR 643/85, BGHSt 34, 11, 12; Urteil vom - 1 StR 336/11 Rn. 9). Denn allein das Protokoll beweist nach § 274 Satz 1 StPO, welche Urteilsformel der Vorsitzende tatsächlich verkündet hat.

16Die Divergenz zwischen der Urteilsformel aus dem Protokoll und der aus der Urteilsurkunde begründet einen Rechtsfehler. Nur unter dem Gesichtspunkt des Beruhens (§ 337 Abs. 1 StPO) kann das Revisionsgericht auf die niedrigere Strafe durcherkennen (§ 354 Abs. 1 StPO entsprechend; Rn. 9; Beschluss vom - 4 StR 340/09 Rn. 2). Dies scheidet hier aus.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:



ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2019:101019U1STR632.18.0

Fundstelle(n):
MAAAH-50614