BGH Beschluss v. - 3 StR 415/19

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt: Begriff des Hangs und der Anforderungen ein die Gefahrenprognose; soziale Gefährdung und Gefährlichkeit eines Betäubungsmittelkonsumenten im Bereich der Beschaffungskriminalität

Gesetze: § 64 S 1 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Instanzenzug: LG Trier Az: 8031 Js 30633/18 5 KLs

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis, Handeltreibens mit Betäubungsmittelimitaten in Tateinheit mit Betrug, Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in zwei Fällen, Abgabe von Betäubungsmitteln sowie Erwerbs von Betäubungsmitteln in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Weiterhin hat es gegen ihn eine Sperrfrist für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis festgesetzt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Von seiner Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat es abgesehen. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

21. Der Schuld- und Strafausspruch lassen ebenso wenig wie die Festsetzung der Sperrfrist sowie die Einziehungsentscheidung einen materiellrechtlichen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen.

32. Die Entscheidung, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) nicht anzuordnen, hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

4a) Nach den Feststellungen konsumierte der Angeklagte ab dem Jahr 2007 - mit Ausnahme von Haftzeiten - in unterschiedlichem Umfang Amphetamin. Vom Jahr 2017 an nahm er nahezu täglich etwa zwei Gramm zu sich, bis er im Oktober 2018 in Untersuchungshaft kam (s. UA S. 6). Die sachverständig beratene Strafkammer hat angenommen, bei ihm liege eine "Stimulanzienkonsumstörung vom Amphetamin-Typ im Sinne eines Abhängigkeitssyndroms von Amphetaminen (ICD-10 F15.21), derzeit abstinent, aber in geschützter Umgebung," vor, auch wenn sich bei ihm nicht die "typische Psychopathologie eines Abhängigen" darstelle (UA S. 35 f.).

5Sie hat von der Maßregel des § 64 StGB abgesehen, weil sie nicht die Überzeugung gewonnen hat, dass der Angeklagte einen Hang zum übermäßigen Konsum von berauschenden Mitteln habe. Insbesondere wegen der Feststellungen zu den nicht vorhandenen Auswirkungen des Amphetaminkonsums auf seine Gesundheit und sein Sozialverhalten sowie zum Fehlen von Eigeninitiative hinsichtlich des überwiegenden Teils der Betäubungsmittelgeschäfte liege ein solcher Hang nicht nahe. Dass er nicht auszuschließen sei, könne die Anordnung der Maßregel nicht rechtfertigen (s. UA S. 47 f.).

6b) Zwar ist das Landgericht im rechtlichen Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass für die Anordnung der - den Angeklagten beschwerenden - Maßregel gemäß § 64 StGB der Hang sicher feststehen muss und somit kein Raum ist für dessen Annahme infolge der Anwendung des Zweifelssatzes (vgl. , NStZ-RR 2019, 308 mwN). Die Darlegungen dazu, dass der Hang hier als zweifelhaft anzusehen sei, erweisen sich indes als rechtsfehlerhaft.

7aa) Es wird schon nicht deutlich, ob die Strafkammer einen zutreffenden rechtlichen Maßstab angelegt hat.

8Für die Annahme eines Hangs im Sinne des § 64 Satz 1 StGB genügt eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint. Wenngleich erhebliche Beeinträchtigungen der Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betreffenden indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hangs haben und in der Regel mit übermäßigem Rauschmittelkonsum einhergehen werden, schließt deren Fehlen jedoch nicht notwendigerweise die Annahme eines Hangs aus (s. , juris Rn. 4 [auch zur Kommentierung in Fischer, StGB, 66. Aufl., § 64 Rn. 7 und 10a]). Nicht vorhandene ausgeprägte Entzugssyndrome sowie Intervalle der Abstinenz stehen der Annahme eines Hangs ebenso wenig entgegen (s. BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 166/18, juris Rn. 12; vom - 3 StR 299/18, NStZ 2019, 265 Rn. 8, jeweils mwN).

9Die normativen Kriterien, nach denen die Strafkammer einen Hang zum Konsum berauschender Mittel im Übermaß abgelehnt hat, bleiben demgegenüber unklar. Die Urteilsgründe geben insoweit zunächst einen falschen rechtlichen Maßstab wieder: Der Konsum sei übermäßig, wenn dadurch "Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit" des Betroffenen "erheblich beeinträchtigt" würden, wohingegen "eine Tendenz zum Betäubungsmittelmissbrauch ohne Depravation und erhebliche Persönlichkeitsstörung" nicht ausreichend sei (UA S. 47, erster Absatz). Abweichend hiervon weisen die Urteilsgründe im Folgenden - zutreffend - darauf hin, dass "das Fehlen von Beeinträchtigungen der Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit ... einen Hang grundsätzlich nicht ausschließt" (UA S. 47, zweiter Absatz), ohne allerdings mitzuteilen, was nach Auffassung der Strafkammer anstelle dessen für die Voraussetzungen eines Hangs gelten soll.

10bb) Darüber hinaus begegnen die in den Urteilsgründen angeführten Sachargumente, derentwegen sich das Landgericht von dem Vorliegen eines Hangs nicht hat überzeugen können, rechtlichen Bedenken.

11Soweit die Strafkammer eine soziale Gefährdung des Angeklagten mit der Begründung verneint hat, er habe vor seiner Inhaftierung gemeinsam mit seiner Lebenspartnerin - der als seine Gehilfin verurteilten Mitangeklagten - von Sozialleistungen gelebt (s. UA S. 47), erschließt sich dieser Gedanke nicht. Das weitere in diesem Zusammenhang angeführte Argument, der Angeklagte sei "selbständig im Autogewerbe berufstätig" gewesen (UA S. 47), wird durch die Feststellungen, denen zufolge seit dem Jahr 2015 über sein Vermögen das Privatinsolvenzverfahren betrieben wird (s. UA S. 6), zumindest relativiert.

12Soweit die Strafkammer darauf abgestellt hat, dass der Angeklagte die einzelnen Verkaufsgeschäfte über verschiedene Amphetaminmengen "überwiegend aufgrund von Anfragen" des Käufers tätigte (UA S. 47), bleibt unklar, für welches hangrelevante Kriterium dieser Umstand aus welchem Grund bedeutsam sein soll. Sollte die Strafkammer dabei den Gesichtspunkt einer fehlenden sozialen Gefährlichkeit des Angeklagten im Blick gehabt haben, so hätte dies näherer Darlegung bedurft.

13cc) Schließlich hat die Strafkammer rechtsfehlerhaft unerörtert gelassen, dass eine soziale Gefährdung und Gefährlichkeit eines Betäubungsmittelkonsumenten insbesondere im Bereich der Beschaffungskriminalität in Betracht kommt (s. , NStZ 2005, 210; Beschluss vom - 3 StR 252/19, juris Rn. 7). Solches liegt hier nicht nur deswegen nahe, weil der amphetaminabhängige Angeklagte mit den Einnahmen aus seiner Verkaufstätigkeit teilweise seinen Eigenkonsum finanzierte (s. UA S. 47), sondern auch, weil er in zwei Fällen (Taten II. 5. und 6.) Amphetamin zu diesem Zweck erwarb und in einem Fall (Tat II. 7.) einen Teil der zum Handeltreiben bestimmten Menge für den Eigenbedarf abzweigte.

14c) Da die weiteren Voraussetzungen für eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nicht von vorneherein zu verneinen sind, muss über die Maßregel - wiederum unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 StPO) - neu verhandelt und entschieden werden. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert eine Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; s. , BGHSt 37, 5; Beschluss vom - 3 StR 193/13, juris Rn. 6). Der Beschwerdeführer hat die Nichtanwendung des § 64 StGB nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen (vgl. , BGHSt 38, 362; Beschluss vom - 3 StR 166/18, juris Rn. 17; KK-Gericke, StPO, 8. Aufl., § 358 Rn. 23 mwN).

153. Die aufgezeigten Rechtsfehler lassen den Strafausspruch unberührt. Es ist auszuschließen, dass das Landgericht bei Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt auf eine mildere Strafe erkannt hätte. Zwischen beiden Sanktionen besteht grundsätzlich keine notwendige Wechselwirkung; sie sollen unabhängig voneinander bemessen bzw. angeordnet werden (vgl. BGH, Beschlüsse vom - 3 StR 283/16, juris Rn. 5; vom - 3 StR 148/18, juris Rn. 8).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:




ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2020:190220B3STR415.19.0

Fundstelle(n):
CAAAH-50276